Was darf Natur in der Stadt?
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750.000 Menschen, Tendenz steigend. An sonnigen Tagen sind die Grün- und Freiflächen der Stadt von ihnen bevölkert. Wildnis? Sie hat in Frankfurt am Main scheinbar keinen Platz. Anderes Bundesland, andere Stadt: In Hannover ist die Bevölkerungszahl relativ stabil. Parks und andere grüne Bereiche gibt es hier reichlich, etwa 107 m² pro Einwohner. Zur gleichen Zeit in Dessau-Roßlau: Die Bevölkerung schrumpft. Und sie schrumpft schnell. Grünflächen? Brachen? Die gibt es hier im Überfluss.
Drei deutsche Städte, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Doch gerade deshalb haben sie sich zusammengeschlossen: Im Projekt „Städte wagen Wildnis“ stellten sie die Frage, wie Wildnis in jeder der drei Kommunen aussehen kann. An ihrer Seite: wissenschaftliche Partner aller drei Regionen, die für das ökologische und sozialwissenschaftliche Monitoring zuständig sind, außerdem BioFrankfurt – das Netzwerk für Biodiversität e.V. für die übergeordnete Öffentlichkeitsarbeit.
Den Impuls zum Projekt gab das Bundesprogramm Biologische Vielfalt. Eine Zuschussfinanzierung erfolgte von Seiten des Bundesamtes für Naturschutz. Die Förderung der biologischen Vielfalt war eine der Zielgrößen der sieben Partner – doch das erwies sich als gar nicht so einfach. „Am Anfang haben wir lange gebraucht, um eine gemeinsame Stimme zu finden“, erinnert sich Pia Ditscher. Sie ist für die Öffentlichkeitsarbeit im Projekt zuständig. „Wir haben den Wildnisbegriff, vor allem auch in Bezug auf die Stadt, zunächst für uns sehr ausführlich diskutiert.“ Dabei galt es auch, sich von einem Verständnis abzugrenzen, das in der Biodiversitätsstrategie für die Förderung von großen Wildnisgebieten angewendet wird. „In unserem Projektansatz besteht Stadtwildnis aus einzelnen Bausteinen beziehungsweise Komponenten von Wildnis“, erklärt Projektleiter Thomas Hartmanshenn. „Auch die Reduzierung der Nutzungsintensität einer Wiese oder die Anlage eines Sandhügels als ein Lebensraumelement der Wildbienen vertragen sich mit unserem Verständnis von Stadtwildnis.“
Eine gemeinsame Stimme
Über persönliche Treffen in jeder der drei Städte und intensive Diskussionen fanden die Partner, städtische wie wissenschaftliche, schließlich ihre gemeinsame Linie. Die Kommunikation nach innen war aber nicht die einzige Hürde: In Frankfurt beispielsweise bedurfte die Idee, sowieso schon knappe Flächen für die Natur „umzuwidmen“, sehr vieler Gespräche. „Die Kommunikation nach außen nahm deshalb eine wesentliche Rolle ein“, erklärt Pia Ditscher. Thomas Hartmanshenn ergänzt: „Unser Ansatz dabei war, die Menschen für die Idee zu gewinnen.“ Und das haben die Projektpartner auch geschafft: über Flyer, eine informative Homepage und über Social Media, vor allem aber über Umweltbildung. Sie organisierten Exkursionen mit Einwohnerinnen und Einwohnern, mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern; mit Veranstaltungen auf den „Wildnisflächen“, durch die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen.
Eine Gruppe dieser Ehrenamtlichen sind die sogenannten Wildnislotsen. Sie wurden im Projekt dazu ausgebildet, andere Menschen an die Projektidee und die Artenvielfalt in der Stadt heranzuführen. Mit Erfolg: „Die Lotsen haben sich im Lauf der Jahre von ihrer ursprünglichen Rolle als Zielgruppe zu selbstständigen Akteuren entwickelt“, freut sich Thomas Hartmanshenn. „Sie sind heute Multiplikatoren.“ Ein Erfolg, der auch nach Projektende weitergeführt wird.
Das Team um Thomas Hartmanshenn hat sich in Frankfurt außerdem noch etwas einfallen lassen: den WildnisWagen – ein Name, der auch die Projektidee mittransportiert. Die Idee entstand aus der besonderen Flächensituation der Mainmetropole: „In Frankfurt haben wir zwei Projektflächen, die beide etwas außerhalb liegen“, erklärt der Projektleiter. „Die Wildnis kommt deshalb als Infostand in Form eines Lastenrads auch zu den Menschen.“
Hier lernen die Bürgerinnen und Bürger Frankfurts wilde Natur kennen: den Monte Scherbelino, eine ehemalige Bereitstellungsfläche für Rekultivierungsmaterial am Fuße einer Mülldeponie, und den Nordpark Bonames. Am Monte Scherbelino können die Frankfurter bei Führungen Sukzession hautnah miterleben, im Nordpark dagegen strebten die Projektverantwortlichen nach einer dichten Verzahnung von Artenschutz, Naherholung und Naturerleben. Hier wird nur eine kleine Teilfläche der weitgehend ungelenkten Entwicklung überlassen. Beide Zielsetzungen können Interessierte am WildnisWagen entdecken und verstehen.
Der Infostand im Lastenrad wird gut angenommen. Der WildnisWagen ist bei vielen Veranstaltungen mit dabei und weckt das Interesse der Frankfurter. Das erfreuliche Resultat der Kommunikationsarbeit: Viele Frankfurter ziehen inzwischen mit Kleinstprojekten im eigenen Garten nach. Pia Ditscher und Thomas Hartmanshenn freuen sich darüber, denn: Jeder einzelne Quadratmeter zählt.
Negative Konnotation
In Dessau-Roßlau jedoch war die Lage eine andere: „Die Stadt ist gekennzeichnet durch einen Bevölkerungsrückgang und durch die Schließung von Gewerbe“, stellt Hartmanshenn fest. Statt einer Sehnsucht nach mehr Grün gibt es hier ein Überangebot, der Begriff Wildnis ist negativ besetzt und steht für die Verwahrlosung aufgelassener Grundstücke. „Die Akzeptanz hier war eine andere. Wir mussten deshalb in Dessau-Roßlau einen anderen Wert der Wildnis fördern.“
Statt also Flächen weiter der Sukzession zu überlassen, wurden hier auf den zentrumsnahen Flächen Blühwiesen mit autochthonem Saatgut angelegt. So entstanden neue Lebensräume und neue Vielfalt. Mancherorts gelangen sogar Erstnachweise einiger Wildbienen- und Heuschreckenarten. Wobei, so relativiert Hartmanshenn – das nicht allein Erfolg des Projekts sei. Auch die Extremjahre 2018 bis 2020 hätten hier sicher nicht unwesentlichen Einfluss gehabt.
Wie weit geht Wildnis?
Der Vergleich der drei Städte zeigt: Die Wildnis des einen ist nicht gleich auch die Freude des anderen. Das bedarf lokal angepasster Kommunikation – und transparenter Information über die Projektinhalte. „Unser Wildnisbegriff ist komplex. Stadtwildnis zu fördern ist nicht zwangsläufig mit Nichts-tun gleichzusetzen“, führt Thomas Hartmanshenn aus und veranschaulicht das an einem weiteren Beispiel aus Frankfurt: „Am Monte Scherbelino haben wir tolle Amphibienbestände, außerdem finden dort Flussregenpfeifer ideale Bedingungen. Aber auch der Waschbär fühlt sich hier wohl. Wenn wir da nicht eingreifen, dezimiert er die Bestände der anderen Arten.“ Stadtwildnis soll deshalb nicht als Brache missverstanden werden. Eingriffe sind erlaubt – und für seltene Arten, zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht, aber genauso für die Akzeptanz in der Bevölkerung auch notwendig.
Außerdem, auch das betonen Pia Ditscher und ihr Kollege: Stadtwildnis sei keineswegs als Ersatz für klassisches Grünflächenmanagement konzipiert. Sie kann aber auch das Portfolio der Grünflächenämter erweitern und so Artenvielfalt in die Städte bringen. Wichtig ist, dass sich die Städte der Ziele für die jeweiligen Grün- und Freiflächen bewusst sind und diese nicht nur umsetzen, sondern auch offen kommunizieren.
Besonders deutlich werden diese Unterschiede auch in Hannover: Hier wurden elf sehr unterschiedliche Projektflächen ausgewählt: Grünzüge, brachliegende Flächen, siedlungsnahe Grünflächen. Auf einigen dieser Flächen soll sich nun die Natur frei entwickeln, in anderen Bereichen, vor allem am Flüsschen Fösse, an dem aufgrund des Salzgehalts im Wasser Halophyten gedeihen, werden auch weiter pflegerische Eingriffe stattfinden. Wieder andere Grünflächen der Stadt werden wie bisher weiter unterhalten. So entwickelt sich in Hannover ein vielfältiges Mosaik unterschiedlichster Stadtwildnis mit Lebensräumen für viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten.
Welchen Effekt die neue Wildnis auf Flora und Fauna hat, soll zumindest in Frankfurt auch nach Ende des Projekts weiter untersucht werden. Hier wird man mit dem Projektpartner Senckenberg im regelmäßigen Rhythmus Bestandsaufnahmen durchführen, verrät Hartmanshenn. Klar ist außerdem: Die Entwicklung, die im Projekt angestoßen wurde, geht weiter.
Hannover, Dessau-Roßlau und Frankfurt am Main haben gezeigt, dass Stadtwildnis in verschiedensten Städten umgesetzt werden kann, unabhängig von der Flächenverfügbarkeit und der Bevölkerungsentwicklung. Nun hoffen die Projektverantwortlichen, dass sich andere Städte von dem Ansatz inspirieren lassen. „Wildnis in der Stadt ist möglich“, fasst Hartmanshenn zusammen. Und Pia Ditscher ergänzt: „Es lohnt sich, sie zu wagen!“
- Finanzierung: Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU)
- Gesamtvolumen (Eigenanteile plus Zuschüsse): rund 4,34 Mio. €
- Förderschwerpunkt: Sichern von Ökosystemleistungen
- Laufzeit: 1. Juni 2016 bis 31. Mai 2021
- Verbundpartner: Stadt Frankfurt a. M., Stadt Hannover, Stadt Dessau-Roßlau, Leibniz-Universität Hannover, Bio-Frankfurt – Das Netzwerk für Biodiversität e. V., Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Hochschule Anhalt, Köthen
„Klingt wie ein Gegensatz, ist aber keiner: Wildnis ist fast überall möglich. Zieht sich der Mensch zurück, übernimmt die Natur das Steuer – und das selbst mitten in einer Großstadt. Was entsteht, sind ungewöhnliche Bilder der Stadtlandschaft.“
Dr. Thomas Hartmanshenn
Umweltamt, Stadt Frankfurt a. Main
Galvanistrasse 28
60486 Frankfurt am Main
Telefon: 069/212 39145
E-Mail: thomas.hartmanshenn@stadt-frankfurt.de
Website: www.staedte-wagen-wildnis.de
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