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Rewilding

Wildnis wagen

Europa und Nordamerika zurückverwildern – das ist das Ziel eines neuen, viel beachteten, aber auch kritisierten Trends, des Rewilding. Es müssen aber nicht Wölfe sein wie im Yellowstone-Nationalpark in den USA oder der Wisent in Polen – für ein Rewilding reicht der Garten, das Stadtgrün. Zum Erhalt der Artenvielfalt trägt jedes noch so kleine Ökosystem bei.

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Rewilding in der
Stadt: Der vormals
kanalisierte, heute revitalisierte
Abschnitt
der Wiese bei Basel
wurde zu einem wichtigen
Lebensraum für Tiere
und Pflanzen und zu
einem attraktiven Erholungsgebiet
für die Bevölkerung
umgestaltet.
Rewilding in der Stadt: Der vormals kanalisierte, heute revitalisierte Abschnitt der Wiese bei Basel wurde zu einem wichtigen Lebensraum für Tiere und Pflanzen und zu einem attraktiven Erholungsgebiet für die Bevölkerung umgestaltet.Beat Ernst
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Hirsche traben durch die Stadt, ein Wolf rennt zwischen den Häuserzeilen, der Adler schwingt sich auf die Antenne – die Natur kehrt zurück. Der Schweizer Autor Franz Hohler traf mit seiner 1982 erschienenen Erzählung „Die Rückeroberung“ den Nerv der Zeit. Eine wachsende Umweltbewegung protestierte gegen die Zerstörung der Umwelt. 25 Jahre später beschäftigt sich der amerikanische Wissenschaftsjournalist Alan Weisman in seinem 2007 veröffentlichten Bestseller „Die Welt ohne uns“ mit der Frage, was passiert, wenn die Zivilisation plötzlich verschwinden würde. Auch hier: Die Natur erobert sich alles zurück.

„Die Welt ohne uns“ ist noch nicht eingetroffen. Zwar hat in den letzten Jahrzehnten und seit dem Erscheinen dieser Bücher ein globales Umdenken eingesetzt. Natur und Landschaftsschutz erhalten mehr Aufmerksamkeit. Trotzdem sind gemäß dem Bericht des Weltbiodiversitätsrats rund eine Million von 8 Mio. Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Ein Ende der Abwärtsspirale ist nicht in Sicht. Den Biodiversitätsverlust aufzuhalten, stellt weltweit eine große Herausforderung dar. Was tun, damit die biologische Vielfalt neu auflebt? Ganz einfach: Wir „rewilden“.

Rewilding ist in den vergangenen Jahren weltweit in den Fokus von Naturschutzorganisationen gerückt. Auch das öffentliche Interesse und Engagement dafür sind auf einem Allzeithoch. Was steckt hinter dem Begriff? Die Kurzdefinition heißt, dass die Natur sich selbst überlassen wird. Die kompliziertere Definition versteht unter „Rewilding“ eine partizipative und prozessorientierte Methode des Biodiversitäts- und Naturschutzes. Sie will großflächig geschädigte oder zerstörte Landschaften durch die Wiederansiedlung ehemals vertretener Megafauna renaturieren und Biodiversität fördern.

Weltweite Bewegung

Die Idee inspiriert: Grassteppen in Europa wie in der letzten Eiszeit, in denen Wollmammuts grasen, Säbelzahnkatzen und Höhlenbären jagen? Schwierig vorstellbar, zumal bereits ein durchziehender Wolf oder Bär in der Schweiz Kontroversen auslöst. Trotzdem, zahlreiche Initiativen, charismatische Befürworter – Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler – populäre Bücher, eine globale Berichterstattung oder der internationale „Rewilding Day“ am20. März stoßen in der Öffentlichkeit auf viel Enthusiasmus und verschaffen der Bewegung weltweit Rückenwind. Auch bei den Vereinten Nationen ist Rewilding ein Thema und soll zum Erreichen der Ziele der aktuellen UN-Dekade für die Wiederherstellung von Ökosystemen (2021 bis 2030) beitragen.

Um die Amphibienpopulationen zu erhalten, wurde im Allschwiler Wald bei Basel ein kleines Naturschutzgebiet erstellt. © Beat Ernst

Die Bewegung wird in Nordamerika und Europa mitunterschiedlichen Konzepten vorangetrieben. In Nordamerika arbeitet das „Wildlands Network“ als wichtigste Rewilding-Organisation an der Schaffung von vier großen, geschützten und vernetzten Landschaftskorridoren von Mexiko bis Kanada. Die Vernetzung ermöglicht den Wildtieren die Migration entlang historischer Routen. In Europa fördert die Organisation „Rewilding Europe“ die Verwilderung von Landschaftsgebieten in verschiedenen Ländern, so in England, Portugal, Lappland, Schottland, Kroatien oder am Oderdelta an der deutsch-polnischen Grenze. Im Unterschied zu Nordamerika fehlen in Europa jedoch großflächige Wildnisgebiete. Vorherrschend ist die kleinräumige, von Menschen erschaffene und unterhaltene Kultur- und Naturlandschaft. Der Fokus des Rewildings liegt deshalb eher auf der Erhaltung dieser historischen Landschaften.

Gemeinsam ist den Rewilding-Projekten, dass sich die Bevölkerung beteiligen soll. Sie kann ökologische Prozesse durch die Mithilfe bei der Renaturierung eines Flusslaufes oder durch naturnahe Waldbewirtschaftung oder ökologisch betriebene Landwirtschaft anstoßen.

Rückeroberung der Wildnis – die Geschichte

Der Begriff wurde 1992 erstmals vom amerikanischen Umweltaktivisten Dave Foreman geprägt. Später beschäftigten sich die Biologen Michael Soulé und Reed Noos mit dem Konzept. Die Amerikanerdefinierten in ihrem weltweit beachteten Artikel „Rewilding and Biodiversity“ (1998) „Rewilding“ als Naturschutzmaßnahme für die ökologische Wiederherstellung großfächiger Schutzgebiete. Die Methode des des Rewildings basiert auf drei Schritten: Schutz von Kerngebieten, Vernetzendieser durch Korridore und Wiedereinführung von Schlüsselarten wie Wölfen.

Erstmals erprobt wurde Rewilding im Yellowstone-Nationalpark. Weil der Graue Wolf und andere Wildtiere wie Bären, Pumas und Koyoten ausgerottet wurden, nahmen Hirsche überhand und beschädigten die Landschaft, das Parkökosystem geriet aus den Fugen: Durch die Überweidung verschwanden Weiden und Espen, die Ufer begannen zu erodieren. Ohne Bäume verschwanden die Singvögel und die Biber konnten ihre Dämme nicht mehr bauen. Ohne Dämme und den Schatten von Weiden und Espen wurde das Wasser für Kaltwasserfische zu warm. Um der weiteren Zerstörung des Parks vorzubeugen, wurde 1995 der Wolf versuchsweise eingeführt. Innerhalb eines Jahrzehnts kehrten viele unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten zurück, die Biodiversität war gerettet und das Rewilding erstmals der Öffentlichkeit bekannt.

Heute wird die Methode differenzierter angewendet als in den 1990er-Jahren: Beim Translocation Rewilding werden lokal ausgestorbene Arten wiedereingeführt oder individuelle Tiere werden ausgesetzt, um eine geschwächte Population zu stärken. Die passive Verwilderung sieht keine menschliche Intervention vor, die Natur wird sich selbst überlassen. Das Das Pleistocene Rewilding – die pleistozäne Verwilderung – ist der umstrittenste Ansatz. Großwildtiere aus dem Pleistozän, der Eiszeit, die vor rund 12.000 Jahren geendet hat und zu einem Massensterben von Tieren führte, sollen wieder eingebracht werden. Diese sogenannte Megaherbivorenhypothese basiert auf der Annahme, dass vom Menschen ausgerottete oder aus der Wildnis verdrängte Arten, insbesondere große Pflanzenfresser, einen wichtigen Beitrag zu der Funktionalität ihres Ökosystems leisteten und ihre Wiedereinführung wichtig für eine authentische Dynamik in den jeweiligen Arealen sei.

Labyrinthplatz im Zeughausareal in Zürich: Der lauschige Garten, ein öffentlicher Ort der Begegnung und eine Oase der Biodiversität, ist für alle ganzjährig frei zugänglich. Er wurde von Frauen initiiert und gestaltet. © Monika Jäggi

Dachbegrünung bei Wohnüberbauung in Sissach (BL): Bei grösseren Neubebauungen können mit einer ökologischen Dachbegrünung bedeutende Ruderalflächen geschaffen werden. © Beat Ernst

Sinn und Unsinn

In dieser Diskussion lässt sich die Frage nach dem Sinn der Simulation von prähistorischen Ökoprozessen stellen, wenn die Raubtiere, der wichtigste Teil des Kreislaufs, fehlen. Auch ist unklar, wie weit zurück Verwilderung gehen soll. Das liegt auch darin, dass Mitteleuropa eine alte Kulturlandschaft ist und kaum ein Gebiet seinen Naturzustand bewahren konnte. Wie aber sah die Referenzlandschaft im Pleistozän aus? Einig sind sich die Experten darüber, wie die Landschaft damals nicht ausgesehen hat. Es gab nicht einen Wald oder einen Nichtwald, sondern einen fließenden Übergang. Der scharfe Waldrand wurde erst vom Menschen geschaffen. Wie sich die Vegetation allerdings nach den Eiszeiten entwickelte, darin sind sich die Fachleute uneinig.

Heute werden zwei Hypothesen diskutiert. Die einen sehen den Wald als Urzustand in Mitteleuropa. Das Klima habe den Baumwuchs gefördert und zu einem eintönigen Waldbild mit nur wenig waldfreien Stellen geführt. Erst der sesshafte Mensch habe mit dem Entstehen der Landwirtschaft ein buntes Mosaik aus Heiden, Äckern, Wiesen und Weidengeschaffen und den Wald zurückgedrängt. Heute nennen wir dies traditionelle Kulturlandschaft. Die zweite Hypothese geht davon aus, dass der Wald in Europa bereits vor dem Einsetzen der Landwirtschaft unter dem Einfluss großer Pflanzenfresser beträchtliche Lücken aufgewiesen hat. Die Megaherbivoren schufen in der prähistorischen Landschaft ein räumliches und zeitlich dynamisches Mosaik von Wald und Offenheit.

Wichtig auch für viele Vogelarten: Obstbäume auf Wiesen bieten vielfältige Lebensräume. © Beat Ernst

Wolf, Bär, Wisent – Wildnis in der Schweiz

In der Schweiz geht es weniger um die Wiedereinführung von ausgestorbenen Großwildtieren, die uns helfen sollen, Landschaften zu renaturieren und ein ökologisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Erstens fehlen in der kleinräumigen Schweiz großflächige Wildnisgebiete, zweitens nimmt der Druck auf letzte unberührte Gebiete zu und Erschließungsprojekte wie für die Erweiterung von Skigebieten oder Bauten zur Energieproduktion dringen weiter in die Landschaften ein.

Kanalisiert, links und rechts steile Borde – so floss die Lüssel durch das Areal der ehemaligen Isola-Werke in Breitenbach (SO). Mit der Umnutzung zum Wohnquartier wurde eine kleine Auenlandschaft geschaffen, die sich nun als „neue Wildnis“ im Quartier entwickeln kann. © Monika Jäggi

Zwar übernimmt der Schweizer Nationalpark als ältestes Mitglied von „Rewilding Europe“ in der Schweiz eine Pionierrolle. Er wurde seit seiner Gründung 1914 sich selbst überlassen. Auch die Alpenschutzorganisation „Mountain Wilderness Schweiz“ setzt sich ein für großflächige Wildnisgebiete, für Gebiete ohne nennenswerte Infrastruktur und menschliche Einwirkung. Zudem streifen Fuchs, Dachs und Marder durch Städte und in Berggebieten wurden Bartgeier, Adler und Luchse in einer „kontrollierten Rückeroberung“ ausgewildert. In renaturierten Flusslandschaften fällt der wiederangesiedelte Biber Bäume und auch der Rothirsch wagt sich in die Jurawälder zurück.

Hierzulande ist die Begeisterung bei einem durchziehenden Bären oder einem umherstreifenden Wolf nicht groß. So sieht der Verein zum Schutz der ländlichen Lebensräume vor Großraubtieren die Alpwirtschaft ohne griffige Maßnahmen in Gefahr und warnt vor Rewilding und der Präsenz von Wölfen in Nationalparks und im bergbäuerlichen Lebensraum: „Das Rewilding mit geschützten Großraubtieren führt zum Untergang der jahrtausendealten alpinen Kulturlandschaft mit ihrer durch Alpwirtschaft einzigartigen hohen Biodiversität.“ Aufgegebene Landwirtschaftsflächen sind potenzielle Verwilderungsgebiete.

Kritik gibt es auch am Wisent-Projekt bei Welschenrohr (SO). Der Verein Wisent Thal will mit einer Testherde auf einer Fläche von rund 50 ha – während einer ersten Phase von zwei Jahren – untersuchen, ob der im Mittelalter in der Schweiz ausgerottete Wisent heute als Wildtier im Jura tragbar ist. Beschwert haben sich die Bauern der Umgebung. Sie befürchten, dass einmal ausgewilderte Wisente ihr Land zerstören würden. Kürzlich hat das Bundesgericht die Beschwerde einer Privatperson gegen das Gehege abgelehnt. Der Kanton Solothurn habe die Bewilligung korrekt erteilt. Lange Zeit gingen Botaniker übrigens davon aus, dass ein großer Teil der ursprünglichen Landschaft vollständig mit Wald bedeckt war, bevor der Mensch sesshaft wurde. Heute ist die Sicht eine andere, nämlich, dass durch die Aktivitäten von Wisent, Auerochs und Hirsch, der Megaherbivoren, große Flächen gehölzfrei waren.

Potenzial nicht ausgeschöpft

Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz sei unbefriedigend, schreibt das Bundesamt für Umwelt (BAFU). Vor allem in Städten und Agglomerationen gibt es Luft nach oben, um Biodiversität und Artenvielfalt zu fördern. Die Wildnis soll nicht nur als etwas Romantisches und Fernes in die Bergeausgelagert werden. Und es muss kein Wolf sein. Es kann auch ein Korridor sein, der zwei Naturräume über einer Straße verbindet, oder der eigene Vorgarten sowie eine Hauswand: Zur Artenvielfalt trägt jedes noch so kleine Ökosystem bei. Eine große Anzahl steriler Flächen im urbanen Raum bietet Potenzial, um diese in Habitate für Menschen und Tiere umzugestalten. Sie können so das Gefühl für die Wildnis und Natur wieder entfachen und aufleben lassen, auch in der eigenen, näheren Umgebung.

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