Bad Saulgau - Vorreiter der urbanen Biodiversität
Die Kurstadt Bad Saulgau hat sich der Biodiversität verschrieben – innerorts wie außerorts. Die Grünflächen werden pestizidfrei und ohne Mineraldüngergaben gepflegt, große Teile wurden extensiviert. Die Natur dankt es: Biber und Weißstorch fühlen sich hier heimisch. Wir haben den Umweltbeauftragten Thomas Lehenherr und Jens Wehner, seines Zeichens Stadtgärtnermeister, in Oberschwaben besucht.
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Sie ist „Naturschutzkommune“, Bundessiegerin des Wettbewerbs „StadtGrün naturnah“, Goldmedaillengewinnerin beim großen europäischen Biodiversitätswettbewerb „Entente Florale Europe“, Bundessiegerin im Wettbewerb „Naturschutzprojekt des Jahres“ und „Landeshauptstadt der Biodiversität“: die Stadt Bad Saulgau. Dass der Kurort mit 18.000 Einwohnern im Landkreis Sigmaringen so mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft wird, kommt nicht von ungefähr. Zwei Männer setzen sich hier schon seit etwa 30 Jahren für mehr Naturnähe in und um den Ort ein: Thomas Lehenherr und Jens Wehner.
Wehner stammt eigentlich aus Sachsen, war dort schon früh in der Umweltbewegung aktiv – vielleicht ein Grund dafür, dass die DDR seinem Ausreiseantrag schon vor der Wende stattgab. Den Gärtner verschlug es nach Oberschwaben, wo er damals eine Anstellung als stellvertretender Stadtgärtner bei der Stadtgärtnerei fand. Zwei Jahre später findet der praxisorientierte Gärtner dann seinen wissenschaftlichen Gegenpart: Thomas Lehenherr, der 1992 die Stelle des Umweltbeauftragten Bad Saulgaus übernahm. Diese Kombination – der Praktiker und der studierte Agrarwissenschaftler, stellte sich schnell als perfekte Ergänzung heraus: „Die Chemie hat gleich gepasst“, meint Lehenherr und lacht.
Eine Mission für zwei
Schnell finden die beiden Männer ihre gemeinsame Mission: „Damals kamen gerade die Themen Artensterben, Insektensterben auf, zumindest bei den Naturschutzverbänden“, erinnert sich Lehenherr. „In der Politik wurde das kaum thematisiert.“ Wehner ergänzt: „Für uns war klar: Da müssen wir was tun!“
Die Lösung: Extensivierung von Grünflächen, Verzicht auf Pestizide und Dünger, Anlage von Biotopen. Am Anfang brauchte es viel Überzeugungskraft und noch mehr Durchhaltevermögen. Die „grünen Spinner“ wurden belächelt. Aber die Kontinuität zahlte sich aus. Nicht zuletzt ließen sich Bürgermeisterin Doris Schröter und der leider viel zu früh verstorbene Stadtbaumeister Pascal Friedrich von den Ideen der beiden überzeugen. Der 2020 neu zur Stadtverwaltung gekommene Stadtbaumeister Roland Schmidt steht genauso zu 100 % hinter dem städtischen Biodiversitätskonzept.
Extensivierung – Umwandlung von Einheitsgrün in artenreiche Anlagen
So wandelte sich bald das Bild der Grünflächen in der Stadt: Wo einst Wechselflor hohe Kosten verursachte, wachsen heute mehrjährige, standortgerechte und insektenfreundliche Stauden; wo früher zweiwöchentlich der Rasenmäher das Grün in Form brachte, dürfen heute 30 bis 40 heimische Blumenwiesenarten, darunter Margeriten und Salbei, das Ortsbild bestimmen. Die Veränderung geschah immer im Zusammenwirken mit der Natur. „Allein durch den Verzicht auf die Düngung haben sich ganz neue Arten eingestellt“, schwärmt Jens Wehner. „Am Anfang haben wir noch die ersten Margeriten bei der Pflege ausgespart, allmählich haben wir dann komplett extensiviert.“
Die Staudenpflanzungen im Siedlungsbereich werden dominiert von heimischen Arten. Aber nicht ausschließlich: Etwa 30 % der Arten sind nicht heimisch. „Das ist bewusst so gewählt“, erklärt Wehner. „Mit diesen Arten und Sorten – ausschließlich ungefüllte – können wir Blühpausen in der einheimischen Vegetation schließen.“
Doch nicht nur innerorts ist das Duo aktiv: Bad Saulgau hat die Gelegenheit ergriffen, bei drei Flurbereinigungsverfahren Gewässerrandstreifen mit Hilfe von Zuschüssen zu erwerben, außerdem teilt sich die Gemeinde ein 340 ha großes Natur- und Landschaftsschutzgebiet mit der Nachbargemeinde. Diese Flächenverfügbarkeit eröffnete weitere Möglichkeiten, die Naturnähe zu fördern: Lehenherr und Wehner begannen mit der Renaturierung der Fließgewässer, lange bevor die Wasserrahmenrichtlinie das verlangte, und legten Kleingewässer an.
Neue Bewohner
Das gefiel nicht nur den Libellen, die sich schon bald nach den ersten Maßnahmen einstellten: Auch die Biber wanderten von der Donau nach Bad Saulgau. Heute befinden sich mehr als 20 Biberreviere auf dem Grund der Kurstadt. Für Thomas Lehenherr an vielen Standorten ein absoluter Glücksfall: „Der hat eine wahnsinnig tolle Biotoplandschaft erschaffen. Das hätten wir so nie genehmigt bekommen.“ Lehenherrs Vorteil in Bad Saulgau: Der zuständige Förster selbst ist Naturschutzbeauftragter in einer der Nachbargemeinden und dem Biber gegenüber positiv eingestellt. Stadtförster Harald Müller hat sogar gemeinsam mit Thomas Lehenherr und dem zuständigen Landrats- amt extra anmoorige Bereiche des Stadtwaldes für die Überflutung freigegeben. Die Anwesenheit des Bibers und die Entwicklung artenreicher Bruchwälder sind in der Kurstadt also gern gesehen. Biberbeauftragter Karl Zachmann sucht mit Erfolg unermüdlich Lösungen, die eine friedliche Koexistenz von Biber, Land- und Forstwirtschaft ermöglichen. „Wir arbeiten hier eng mit der Landwirtschaft zusammen und haben bislang immer einen Konsens erreicht“, sagt Lehenherr.
Eingegriffen in die Bautätigkeiten wird nur im direkten Siedlungsbereich oder bei sehr sensiblen landwirtschaftlichen Flächen, wenn die Stausituation zum Beispiel die Infrastruktur gefährdet. Dann werden vorsichtig die obersten Zentimeter der Dämme abgetragen. Stören lässt sich der Baumeister davon selten. Auch nicht von den Menschen: Ein Revier grenzt direkt an den Kurpark der Stadt, in dessen Gewässern sich auch ausgesetzte Goldfische, Kois und Putzerfische dank des warmen Thermalwassers wohlfühlen. Das Feuchtbiotop ist durchzogen von Stegen des „Themen- und Erlebniswegs Wasser“, auf denen die Einheimischen wie die Gäste den Bruchwald entdecken können. Die Biber haben hier kräftig mitgeholfen und aus den ursprünglich angelegten Kleingewässern eine vielfältige Wasserlandschaft mit Bulten, Totholz, Flachwasserbereichen und einer artenreichen Vegetation gestaltet. Hier tummeln sich Insekten, Amphibien und Wasservögel, mit etwas Glück zeigt sich sogar ein Eisvogel. Und: Die Biber haben ihre Burg direkt am Steg gebaut. Für Lehenherr ist das ein idealer Anknüpfungspunkt zu seinem Gesamtkonzept, das für ihn über allem steht: „Wir wollen die Leute von Anfang an mitnehmen.“ Und wo könnte man die Menschen besser über das Leben und Wirken des Bibers informieren als vor dessen Burg?
Und noch einer freut sich über den neuen Artenreichtum in den Feuchtbiotopen: 25 Storchenpaare nisten inzwischen auf den Dächern der Stadt, allein 2020 zogen die Tiere 40 Jungstörche auf. „Das würden sie nicht tun, wenn es für sie hier nichts zu fressen gäbe“, folgert Lehenherr. Auch ohne wissenschaftliches Monitoring zeigt sich so, dass die Maßnahmen wirken.
Mission Umweltbildung
Der Themenweg Wasser ist nicht der einzige Lehrpfad in Bad Saulgau: Ein ganzes Netz aus verschiedenen Naturlehrpfaden erstreckt sich über die Stadt und ihr Umland. Das Herzstück und gleichzeitig das neueste Projekt der Stadt Bad Saulgau, das von Thomas Lehenherr federführend ins Leben gerufen wurde, ist der NaturThemenPark (NTP), zu dem auch der Themen- und Erlebnisweg Wasser gehört. Hier finden sich viele wesentliche Informationen zum Wald, zu Klimawandel, Nahrungsnetzen, Wasserkreislauf und Artenschutz gebündelt auf 60 ha. „Wir wollen den Leuten etwas beibringen“, betont Lehenherr. Doch nicht etwa mit erhobenem Zeigefinger – der Spielcharakter ist an vielen Stationen im NaturThemenPark wesentliches Element.
So dürfen Kinder und Erwachsene an der „Vogelstimmentafel“ interaktiv die Gesänge der heimischen Singvögel entdecken, am „Matschplatz“ selbst Biber spielen und Dämme bauen, in der „Biberburg“ vom Spielgerätehersteller hochkant mit Blick auf einen echten Biberteich – im NaturThemenPark leben aktuell zwei Biberfamilien – dessen Gewohnheiten erkunden oder einen Nistkasten selbst zusammenbauen.
Planend wirkte beim NaturThemenPark das Büro 365° aus Überlingen mit, kleinere Anlagen wie Vogelbeobachtungswände baut Lehenherrs Schwiegervater in Eigenregie. Das Konzept begeistert – nicht nur die Besucher, die den Park entweder auf eigene Faust erkunden oder an einer Führung mit ausgebildeten Guides der Tourismusbetriebsgesellschaft teilnehmen können. „Inzwischen bekommen wir auch viele Anfragen von anderen Städten, Gemeinden, Landes- und Bundesbehörden sowie Naturschutzverbänden“, erzählen die beiden. Das freut den Gärtnermeister und den Umweltbeauftragten sehr. „Das Bad Saulgauer Biodiversitätskonzept soll ja schließlich kein Alleinstellungsmerkmal bleiben“, findet Jens Wehner. „Im Gegenteil, das soll und darf nachgeahmt werden!“
Damit das passiert, tourt das Duo inzwischen deutschlandweit auf Tagungen und größeren Veranstaltungen. Das meiste davon in der Freizeit, sonst ließe sich das zeitlich gar nicht stemmen. „Das Konzept ist nur so erfolgreich, weil wir auch viel Freizeit investieren“, gibt der Umweltbeauftragte zu. „Außerdem“, so ergänzt Lehenherr, „kommen die besten Ideen sowieso am Wochenende oder nach Feierabend.“
Philosophie
„Dem Klimawandel und dem Artensterben kann nur entgegenwirken, wer zukunftsweisende Maßnahmen ergreift. Für die Umsetzung von ökologischen Maßnahmen ist es außerdem wichtig, die Menschen mitzunehmen.“
Kontakt
Stadt Bad Saulgau
Thomas Lehenherr
Oberamteistraße 11
88348 Bad Saulgau
thomas.lehenherr@bad-saulgau.de
Tel. 07581/207-325
Homepage: www.bad-saulgau.de
Führungen im NTP:
Tourismusbetriebsgesellschaft mbH
Tel. 07581/2009-0
Thomas Lehenherr ist Agrarwissenschaftler. Seit 1992 ist er der Umweltbeauftragte der Stadt Bad Saulgau und hat ihre Entwicklung zur Biodiversitätshauptstadt mit auf den Weg gebracht.
Jens Wehner ist Gärtnermeister. Der Sachse war schon früh in der Umweltbewegung aktiv und kam schließlich nach Bad Saulgau, wo er seitdem auf die Geschicke der Stadtgärtnerei Einfluss nimmt.
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