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Was wäre, wenn gesunde Auen nicht mehr Ausnahme, sondern Normalität wären?

90 Prozent intakter Auen – ein Zukunftsszenario

Wasserrückhalt in der Landschaft – ganz einfach durch intakte Auen. Wie sähe eine solche Welt aus? Und wieso ist die Realität eine andere? Veronika Rivera spannt den Bogen zwischen dem Jetzt und einer potenziellen Zukunft.

von Veronika Rivera erschienen am 02.07.2025
Naturnaher Bachlauf im Wald: Führt der Bach Hochwasser, darf sein Wasser einfach über die Ufer treten. © Julia Bächtle
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Stellen wir uns vor, es ist das Jahr 2055. In den frühen Morgenstunden liegt Nebel über einer weiten Flussniederung. Vögel singen in Silberpappeln, das Wasser glitzert in einem Netz aus Altwassern, durch das sich träge ein Biber treiben lässt. Libellen tanzen über feuchte Wiesen. Wir stehen an einem Fluss – an der Elbe, dem Rhein oder der Donau. Es ist einer von vielen in Deutschland, der im Rahmen eines ambitionierten Auenrenaturierungsprogramms revitalisiert wurde.

Die Klimakrise ist fortgeschritten – doch Deutschland kommt mit ihren Folgen zurecht. Ein wesentlicher Grund: die Auenlandschaften, die als effektive Klimaregulatoren wirken, Hitzewellen abpuffern und Starkregenereignisse entschärfen. Ein Sprung zurück in die 2020er Jahre: Der Auenzustandsbericht des Bundesamts für Naturschutz hält 2021 fest, dass lediglich 9 % der Flussauen in der Bundesrepublik ökologisch weitgehend intakt sind – der Rest gilt als stark bis sehr stark verändert. Wir nutzen unsere Vorstellungskraft und stellen uns vor, diese reale Zahl würde zum politischen Wendepunkt werden: Angesichts zunehmender Wetterextreme, Wassermangel und Artenverlust erklärt die Bundesregierung 2026 die Auenrenaturierung zur nationalen Aufgabe. Über drei Jahrzehnte hinweg wurde mit Deichrückverlegungen, Flächentausch, Pachtlösungen und neuen Förderinstrumenten eine tiefgreifende Umkehr eingeläutet.

Der Rhein bei Boppard: Er ist vor allem Schifffahrtsstraße, intakte Auen sind hier Fehlanzeige.
Der Rhein bei Boppard: Er ist vor allem Schifffahrtsstraße, intakte Auen sind hier Fehlanzeige. © Julia Bächtle

Nun schreiben wir das Jahr 2055 – und die Flüsse fließen wieder mit der Landschaft, nicht gegen sie.

Auen und ihre natürlichen Funktionen

Auen sind die natürlichen Überschwemmungsgebiete entlang von Flüssen. Dort, wo Wasser regelmäßig über die Ufer tritt, entstehen mosaikartige Lebensräume mit außergewöhnlicher biologischer Vielfalt: Feuchtwiesen, Altarme, Auwälder, Kiesbänke und temporäre Gewässer. Dieses Wechselspiel aus Überflutung und Rückzug schafft nicht nur Lebensräume, sondern erfüllt zentrale ökologische Funktionen wie Wasser- und Nährstoffrückhalt, Filtration, Lebensraumvernetzung, Kühlung. Auen sind die Kinderstube von Fischen und Amphibien. Sie sind Rückzugsort, und Wanderkorridor, mit einer Artendichte, die beeindruckend ist. Etwa zwei Drittel aller Arten Mitteleuropas leben oder laichen in Auen. Fische, Amphibien, Vögel, Libellen, Weidenröschen und Wasserkäfer – sie alle profitieren von einer gesunden Aue.

In unserem Zukunftsszenario wurden diese Funktionen erkannt und wiederhergestellt: Dynamische Kiesbänke, feuchte Senken, vegetationsfreie Steilufer, lichte Auwälder, die im Frühling in weißen und gelben Blütenteppichen leuchten. Der Fluss bekam wieder Raum, er gestaltet wieder mit. Er transportiert Sediment, bildet neue Ufer aus, lässt Lebensräume entstehen. Gleichzeitig zeigen die renaturierten Auenlandschaften auch agrarökologische Wirkung: Ablagerungen nährstoffreicher Sedimente machen mineralische Düngung vielfach überflüssig. Die Landwirtschaft profitiert von fruchtbaren Auenböden, während Pflanzen und Mikroorganismen im Boden überschüssige Nährstoffe binden und filtern. Die Wasserqualität verbessert sich, der Stickstoffeintrag sinkt, die Flüsse erholen sich.

Auen als Klimaregulatoren: unterschätzte Allianzen aus Wasser, Boden und Vegetation Die öffentliche Klimadebatte hat sich verschoben. Während in den 2020er-Jahren Windräder und CO2-Bilanzen im Zentrum der Debatten standen, erkannte man ab 2026 zunehmend den Beitrag der Flussauen. Sie wurden als strategische Pufferzonen in der Klimaanpassung wiederentdeckt und gezielt entwickelt.

Drei Jahrzehnte später nehmen intakte Auen bei den vermehrten Starkregenereignissen im Jahr 2055 große Wassermengen auf. Sie verlangsamen den Abfluss und senken die Hochwassergefahr in flussabwärts gelegenen Siedlungen. Die Flüsse treten über die Ufer, aber ohne Katastrophenalarm – weil sie es dürfen, weil Raum zurückgewonnen wurde.

Auch in weiteren Aspekten beweisen Auen besondere Klimaanpassungen. Ihr Geheimnis liegt im Zusammenspiel von Hydrologie, Vegetationsstruktur und Bodendynamik. So kühlen Auen in Hitzesommern aktiv ihre Umgebung. Die Kronenschicht der Weiden, Erlen und Pappeln verdunstet Wasser, beschattet Böden und erzeugt Temperaturunterschiede von bis zu sechs Grad gegenüber benachbarten Ackerflächen. Es ist ein Wert, der in Zeiten zunehmender Hitzewellen über Lebensqualität und Gesundheit entscheidet. Entlang der Flüsse entstehen Luftbewegungen, die kühlere Luft in angrenzende Räume transportieren. Besonders in städtischen und suburbanen Regionen wird das als Klimaleistung inzwischen gezielt bilanziert.

Naturnaher Bach mit Strukturvielfalt
Naturnaher Bach mit Strukturvielfalt © Julia Bächtle

Auch die Böden der Auen tragen zur Klimastabilität bei. Sie gehören zu den kohlenstoffreichsten Bodentypen Mitteleuropas. Organisches Material wird in feuchten, sauerstoffarmen Bedingungen nur langsam abgebaut, Humus akkumuliert. Anders als Moorböden lassen sich viele dieser Standorte reaktivieren, ohne die Nutzung vollständig aufzugeben. Extensives Grünland, das sich mit den natürlichen Überflutungen verträgt, bleibt möglich. Die Wälder der Auen tragen zusätzlich zur Kohlenstoffbindung bei. Rasch wachsende Weichholzarten wie Silberweide oder Schwarzerle nehmen jährlich große Mengen CO2 auf. Inzwischen sind sie in vielen Klimabilanzen als eigene Kohlenstoffsenke ausgewiesen. Lange wurden sie übersehen, obwohl ihre Speicherleistung – kombiniert mit der des Bodens – beachtlich ist.

Die Wasserspeicherfunktion der Auen wird heute systematisch genutzt. Sie nehmen Niederschläge auf, halten Wasser zurück und geben es zeitverzögert an Grundwasserleiter und Fließgewässer ab. Das hilft, Dürreperioden zu überbrücken, stabilisiert Pegel und schützt Böden vor Austrocknung. Vor allem im Hinblick auf die Versorgung mit Trinkwasser und die landwirtschaftliche Nutzung wurde diese Funktion politisch neu bewertet.

Es geht aber nicht nur um Wasser, Kohlenstoff und Temperatur. Intakte Auen erhöhen die biologische Resilienz ganzer Landschaften. Ihre Vielfalt an Mikrohabitaten – von flachen Flutrinnen über strukturreiche Bruchwälder bis hin zu offenen Kiesbänken – bietet spezialisierten Arten Rückzugsräume, die andernorts längst verschwunden sind. Diese ökologische Vielfalt sorgt dafür, dass Landschaften im Extremwetter nicht kollabieren, sondern sich anpassen können.

Was in der Forschung lange unter dem Begriff „ökosystembasierte Resilienz“ diskutiert wurde, ist heute konkretes Handlungsprinzip geworden. Im Jahr 2055 sind Auen nicht mehr Kulisse – sie sind Funktionskern einer klimaangepassten Landschaft.

Naturnaher Bach im Buchenwald
Naturnaher Bach im Buchenwald © Julia Bächtle

Warum 90?% Auen eine Illusion bleiben – was stattdessen passiert

So überzeugend (und schön) das Zukunftsszenario klingt, so klar ist auch: Es bleibt eine Vision.

Die Vorstellung, dass 90 % der Flussauen in Deutschland ökologisch wieder intakt sein werden, ist unter gegenwärtigen Bedingungen nicht realistisch. Die Hindernisse sind bekannt: Die Spannungen zwischen landwirtschaftlich wertvolle Flächen, die Dichte der Besiedlung in Flussnähe, die technische Fixierung vieler Gewässer und die zersplitterte Zuständigkeit zwischen Wasserwirtschaft, Raumplanung, Landwirtschaft und Naturschutz verhindern eine größere Verbesserung. Auenentwicklung braucht Koordination – und vor allem Zeit. Wer Auen zurück in die Landschaft bringen will, muss in Generationen denken und in Flächen, die nicht frei sind. Die politische Realität dagegen orientiert sich an Legislaturperioden, an kurzfristiger Wirkung und beschleunigten Prozessen. Vieles, was ökologisch sinnvoll wäre, bleibt strukturell liegen.

Doch es gibt positive Beispiele, wie das Bundesprogramm „Blaues Band Deutschland“, durch das Deutschlands Flüsse und Auen wieder naturnaher werden sollen. Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt sieht eine Vergrößerung der überflutbaren Flussauen um 10 % gegenüber dem Stand von 2009 vor. Doch der Auenzustandsbericht zeigt: Zwischen 2009 und 2020 wurden nur rund 7?100 ha renaturiert – ein Zuwachs von gerade einmal 1,5 %. Das angestrebte Ziel wird bisher deutlich verfehlt.

Gleichzeitig machen Szenarien wie das hier entworfene sichtbar, was auf dem Spiel steht – und was möglich wäre. Auen sind nicht nur ökologische Übergangsräume, sondern funktionale Schlüsselräume in der Klimaanpassung. Ihre Wiederherstellung ist keine Option unter vielen, sondern ein Baustein zukunftsfähiger Landschaftsentwicklung.

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