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Neue Rückzugsorte für Insekten

Städtische Lebensstile und die Inwertsetzung von Biodiversität

Der besiedelte Raum wurde lange ausschließlich als Treiber des Artenverlusts gesehen. Allmählich jedoch wandelt sich das Bild: Der Insektenschutz ist in der Gesellschaft angekommen. Mit steigender Akzeptanz und sinkendem Pestizideinsatz werden Städte sogar zum Rückzugsort einzelner Arten. Mit diesem Wandel und der Bedeutung des urbanen Umfelds für Insekten beschäftigt sich das Projekt SLInBio.
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 1 Dass Biodiversität in der Stadt funktioniert, zeigt diese artenreiche Wiese im Palmengarten Frankfurt.
1 Dass Biodiversität in der Stadt funktioniert, zeigt diese artenreiche Wiese im Palmengarten Frankfurt.  Hilke Steinecke
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Mitten in Frankfurt am Main liegt das Institut für sozial-ökologische Forschung - kurz ISOE - im Erdgeschoss eines mit Efeu berankten Hinterhauses. Das ISOE gehört heute zu den führenden unabhängigen Instituten der Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Man betritt ein helles, loftartiges Büro mit hohen Decken, dessen mit Gläsern abgetrennte Büroräume durch zahlreiche Zimmerpflanzen aufgelockert werden. Urbanität trifft auf Natur - ebenso wie das vom ISOE initiierte Projekt „SLInBio – Städtische Lebensstile und die Inwertsetzung von Biodiversität: Libellen, Heuschrecken, Hummeln & Co“, dass sich nach einer einjährigen Vorphase ab Dezember 2021 in der dreijährigen Hauptphase befindet.

Am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main untersucht die studierte Geoökologin Dr. Marion Mehring, die seit 2014 den Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung am ISOE leitet, gemeinsam mit ihrem Team und den Kooperationspartnern, welcher Zusammenhang zwischen städtischen Lebensstilen und verschiedenen Alltagspraktiken und Insektendiversität besteht. Gerade in den Alltagspraktiken und Entscheidungsprozessen von Bürgerinnen, Bürgern und Kommunen sehen Mehring und ihr Team ein großes Potenzial, Insektenschutz zu betreiben. Die genauen Zusammenhänge sollen mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden wie ökotoxikologischen Untersuchungen und Insekten-Monitorings einerseits und sozialwissenschaftlichen Befragungen sowie partizipativen Formaten andererseits ermittelt werden. Eine weitere Aufgabe des Projekts ist es, die zum Teil ambivalenten Wahrnehmungen von Insekten innerhalb der Stadtbevölkerung zu verbessern. Vielfältige Interventionen sollen über die Praxisphase das Thema möglichst breit in die Bevölkerung tragen und für die Problematik des Insekten- und Artensterbens sensibilisieren, so dass auch die unliebsame Wespe oder Mücke von möglichst vielen Bürgern als Teil eines größeren Ganzen verstanden wird, der schützenswert ist – eine stark gesellschaftliche Perspektive also, die das Projekt von den anderen Projekten, die im Rahmen der der BMBF Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) gefördert werden, unterscheidet.

Die Stadt als Rückzugsort

Das SLInBio-Projekt greift die Erkenntnis auf, dass Städte nicht mehr länger ausschließlich als Treiber des Verlustes von Biodiversität wahrgenommen werden können. „Neuere Studien haben gezeigt, dass Städte unter Umständen auch Rückzugsort für bestimmte Insektenarten sein können. So werden in der Stadt beispielsweise weniger Pestizide, weniger Düngemittel eingesetzt als in der ländlichen Umgebung“, so die Geoökologin Marion Mehring. Seit der Krefeld-Studie sei das Thema Insektenschutz in der Gesellschaft angekommen. „Auch wenn sich schon viele Leute davor direkt oder indirekt damit beschäftigt haben – jetzt gibt es dazu einen öffentlichen Diskurs“, so Mehring. Das lässt sich auch an den Praxispartnern ablesen, die das Projekt mit ihren für das Monitoring zur Verfügung gestellten Flächen in der dreijährigen Hauptphase unterstützen. Neben Grünflächen- und Umweltamt der Stadt Frankfurt sind viele Kleingartenvereine und Urban Gardening-Projekte, aber auch die Fraport AG und BioFrankfurt dabei. Proaktiv hat sich auch der Deutsche Olympische Sportbund an die Projektverantwortlichen gewandt, der so das Thema an eine ganz neue Zielgruppe herantragen will. „Das erreicht eine ganz neue Breite in der Stadtgesellschaft. Das ist eine spannende Dynamik und diese Bewegung wollen wir weiter steigern“, wünscht sich Mehrings Mitarbeiter Dr. Florian Schneider.

Vier Handlungsfelder

Die Untersuchung der Alltagspraktiken und Lebensstile hinsichtlich ihrer Wirksamkeit für den Insektenschutz gliedert sich in vier unterschiedliche Handlungsfelder des städtischen Lebens auf. Das Handlungsfeld „Mobilität und Verkehr“ war der Stadt Frankfurt selbst ein Anliegen. Es setzt sich mit dem innerstädtischen Straßenbegleitgrün auseinander, das oft mit guter Absicht als Blühwiesen angelegt wird. Hier verfolgt der Kooperationspartner Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung die Fragestellung, wie Straßenbegleitgrün wirklich insektenfreundlich gestaltet werden kann. Denn tatsächlich ist bisher unklar, ob diese imagetauglichen Blühstreifen tatsächlich einen positiven Effekt für den Insektenschutz haben oder diese Anlagen nicht doch sogar kontraproduktiv sind, weil sie Insekten zwar anlocken, diese dann aber möglicherweise durch den Straßenverkehr vermehrt umkommen.

Gemeinsam mit der Goethe-Universität werden im Handlungsfeld „Bauen und Wohnen“ insbesondere Außenanstriche bei Neubauten und energetisch sanierten Gebäuden ökotoxikologisch untersucht. Um Algenbewuchs und Schimmelbefall an der Außenhülle der Gebäude zu reduzieren, werden den Fassadenanstrichen Pestizide beigemischt. Noch ist die Frage offen, inwieweit diese Pestizide durch Niederschläge ausgewaschen werden und auf Grünflächen und Gewässer und damit Insekten negative Umweltwirkung haben.

Das Handlungsfeld „Erholung im Grünen“ setzt sich mit allen gärtnerischen Tätigkeiten auf städtischen Flächen und öffentlich zugänglichem Grün auseinander, die reinen Zier- oder Freizeitwert haben.

Unmittelbar an alle Stadtbewohnerinnen und -bewohner richtet sich das Handlungsfeld „Ernährung“, das speziell alle Bewirtschaftungsarten des Gemüseanbaus im eignen Garten oder Kleingarten untersucht. Die negativen Auswirkungen, welche die Ausbringung von Düngemitteln oder Pestiziden auf die Insektenvielfalt haben, sind dabei Ausgangspunkt, um Gärtnernde mit einem bewussten Gärtnern für den Insektenschutz zu sensibilisieren. „Das wäre für mich wirklich ein Erfolg, wenn am Ende des Projekts jede/r, der/die einen Garten hat, eine kleine wilde Ecke lässt oder einrichtet, die für Insekten gedacht wäre“, erhofft sich Mehring.

Ziel der Untersuchungen ist es, die Ergebnisse der vier Handlungsfelder nach Abschluss des Projekts als Handlungsempfehlungen an Akteure anderer Städte weitergeben zu können. Um diese Empfehlungen möglichst auf andere Städte übertragen zu können, werden in den Expertenbeirat des Forschungsprojektes ebenfalls Vertreter anderer Kommunen eingeladen.

Insekten wertschätzen

Wie die Wertschätzung von Insektenvielfalt innerhalb der Stadtbevölkerung gesteigert werden kann, ist Thema des Arbeitsfelds von Ökologe und Umweltwissenschaftler Dr. Florian Schneider. Das Projekt soll vielschichtig in den städtischen Diskurs einfließen, indem eine Vielzahl an Aktionen und künstlerischen Interventionen rund um das Thema Insekten im Laufe der drei Jahre veranstaltet wird. Damit soll ein möglichst breites Spektrum von Menschen mit dem Thema in Kontakt kommen, wofür die Stadt Frankfurt gute Bedingungen bietet. So ist die Einbindung von „Citizen Scientists“ ein wichtiger Baustein für das Gesamtprojekt, um Menschen für das Thema zu sensibilisieren und eine Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu schlagen. Hier kann man auf die Vorarbeit des NABUs zurückgreifen, der in der Vergangenheit bereits mit der alljährlichen Aktion „Insektensommer“ zahlreiche Menschen für die Bestandsaufnahme von Insekten im Stadtgebiet gewinnen konnte. Auch die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und der Frankfurter Palmengarten, ebenfalls Kooperationspartner im Projekt, beteiligten bereits erfolgreich Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Datenerfassung mit der App „iNaturalist“. Im Rahmen von SLInBio soll die Community der Citizen Scientists in Frankfurt weiter vernetzt und ausgebaut werden – mit Schulungsangeboten für Anfänger und Fortgeschrittene.

Aber auch klassische Formate der Wissensvermittlung, wie eine Museumsausstellung zum Thema Insektenvielfalt im Senckenberg Museum oder ein Schaugarten zur Insektenvielfalt im Frankfurter Palmengarten, sind, inklusive begleitender Materialien und Angebote für Schulen und Gruppen, Bestandteil des Projektes.

Um weitere Zielgruppen zu erreichen, werden im SLInBio Projekt auch ganz neue, innovative Formate der Wissensvermittlung eingesetzt. „Um das Thema Insekten in die Breite der Stadtgesellschaft zu tragen, müssen wir mit positiven und emotionalen Narrativen und Bildern ein neues Erleben von Insekten im Alltag erreichen“, erklärt Schneider. Zu diesem Zweck wird in Kooperation mit Einrichtungen und Akteuren der Kunst- und Kulturszene in Frankfurt die Wahrnehmung und Inwertsetzung der Insektenvielfalt diskutiert und künstlerisch umgesetzt werden. Geplant ist etwa die Gestaltung eines Insekten-Pavillons an einem prominenten Ort in der Stadt in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Durch die Kooperation zwischen Kunst und Wissenschaft sollen neue, überraschende Darstellungsformen gefunden und durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum das Spektrum der Zielgruppen über das kulturinteressierte Publikum – welches vornehmlich durch die Museumsarbeit angesprochen wird – hinaus erweitert werden. „Es wird sogar eine Kinoreihe im Frankfurter Kino ‚Orfeo‘s Erben‘ geben, die Filme verschiedener Genres mit Insektenbezug zeigen wird“, so der Wissenschaftler.

Monitoring der Maßnahmen

Wichtiges Instrument zur Überprüfung der Handlungsfelder und Maßnahmen wird dabei das Monitoring auf den von den Praxispartnern zur Verfügung gestellten Grünflächen sein. Das beinhaltet Flächen in Parks und Grünanlagen in der Verantwortung der Stadt Frankfurt, aber auch Begleitflächen entlang von Straßen oder Gebäuden. Auch hier sollen die Citizen Scientists den Forschenden helfen, nach einem von Senckenberg und dem NABU vorgegebenen Protokoll Datenpunkte zu sammeln. Auf Basis der bereits bestehenden Kartierungen der Stadt Frankfurt, die für das Projekt von einigen der Praxispartner zur Verfügung gestellt werden, setzt man beim Monitoring der erfassten Arten den Fokus auf Libellen, Heuschrecken und Hummeln. Nichtsdestotrotz sollen aber auch andere Insektengruppen beim Monitoring erfasst werden.

Für die Nutzung der bürgerwissenschaftlichen Daten für das Monitoring sind einige Herausforderungen zu meistern. Zwar können durch Laien große Mengen an Daten für eine Vielzahl von Flächen erhoben werden, aber je nach Erfahrung und Wissensstand der Teilnehmenden muss die Qualität der Artbestimmung stets durch Profis überprüft werden, bevor die Daten für die Forschung verwendet werden können. Wie es gelingt, in einem solchen Prozess auch die Begeisterung und Motivation für die Beteiligung aufrechtzuerhalten und eine Community aufzubauen, ist daher für Florian Schneider von Interesse. Durch die sozialwissenschaftliche Begleitung soll erforscht werden, wie das Potential von Citizen Science für naturwissenschaftliche Studien genutzt werden kann.

Was für ihn dabei ein persönlicher Erfolg nach Abschluss des Projekts wäre? „Wenn die Akteure in Frankfurt in Folge des Projekts gut vernetzt wären und immer, wenn Entscheidungen, etwa bei der Grünraumgestaltung oder bei Bauprojekten anstehen, die Relevanz von Insekten mitgedacht wird“, so Schneider. „Unsere Untersuchungen haben in der Biodiversitätsforschung noch mal einen ganz anderen Blickwinkel auf den Lebensraum Stadt und die Frage, welche Rolle jeder und jede Einzelne beim Insektenschutz spielt“, fasst Marion Mehring das SLInBio-Projekt zusammen.

Seit Dezember befindet sich das Projekt nun in der Hauptphase. Bereits im August wurde die Stadtbevölkerung dazu aufgerufen, gemeinsam mit dem NABU nach einem festgelegten Schema Insektenhotels im Stadtgebiet Frankfurts zu zählen. Vom ISOE durchgeführte Interviews mit Frankfurterinnen und Frankfurtern geben einen Einblick in die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Insekten. Im Oktober wurde im Rahmen der FEdA Aktionswoche „Achtung Artenvielfalt“ ein Stadtspaziergang durchgeführt, bei dem unter anderem die im Projekt erarbeitete Handreichung zu Insektenhotels vorgestellt und diskutiert wurde. Wer also im Raum Frankfurt wohnt, ist herzlich eingeladen, Kontakt aufzunehmen und sich bei diesem lebendigen Projekt aktiv einzubringen.


Projektdaten

Projektname: SLInBio – Städtische Lebensstile und die Inwertsetzung von Biodiversität: Libellen, Heuschrecken, Hummeln & Co

Laufzeit: Vorphase: Oktober 2020 – Oktober 2021Hauptphase: Dezember 2021 – November 2024

Projektpartner:

  • ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung (Projektleitung)
  • Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt am Main; Palmengarten der Stadt Frankfurt am Main
  • NABU Frankfurt am Main

Praxispartner:

  • Umweltamt der Stadt Frankfurt am Main; Grünflächenamt der Stadt Frankfurt am Main;
  • BioFrankfurt – Das Netzwerk für Biodiversität e.V.
  • Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide

Finanzierung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Strategie „Forschung für Nachhaltigkeit" (FONA), Förderschwerpunkt Sozial-ökologische Forschung. Das Projekt ist Teil der BMBF-Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA). Förderkennzeichen: 01UT2011


Dr. Marion Mehring leitet am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung den Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung. Im Rahmen des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums SBiK-F arbeitet Frau Mehring im Tätigkeitsschwerpunkt Ökosystemleistungen und Klima. Neben konzeptionellen Arbeiten zu sozial-ökologischen Systemen beschäftigt sich die Geoökologin mit Fragen der Nutzungsdynamiken und Wahrnehmung von Biodiversität. Sie ist Sprecherin und Projektleiterin für das Projekt SLInBio.

 

 

Dr. Florian D. Schneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung sowie im Tätigkeitsschwerpunkt Ökosystemleistungen und Klima von SBiK-F. Er beschäftigt sich mit der kulturellen und ökologischen Bewertung von biologischer Vielfalt, insbesondere in der Landwirtschaft und in urbanen Räumen. Im Projekt SLInBio leitet er das Arbeitspaket 4 zu Interventionen in die Stadtdiskurse.


Kontakt

Dr. Marion Mehring
Institut für sozial-ökologische Forschung Hamburger Allee 45

60486 Frankfurt am Main
E-Mail: mehring@isoe.de
www.isoe.de


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