
Saatgut bei Auen- und Gewässer-Renaturierungen – Das Beispiel Reussegg (CH)
Mit ihrem Lebensraummosaik und ihrer Veränderungsdynamik halten Fluss- und Auenlandschaften in Mitteleuropa den ersten Platz, was ihre Artenvielfalt anbelangt. Fast 80% aller in der Schweiz vorkommenden Tier- und Pflanzenarten finden sich auch und zum Teil ausschließlich in Auenlebensräumen. Während Auen noch im 19. Jahrhundert ganze Talschaften bedeckten, sind durch Gewässerkorrekturen vor allem in den tieferen Lagen die Auen in der Schweiz fast vollständig zerstört worden. Ein Teil davon soll nun in den nächsten Jahren wieder renaturiert werden, nicht zuletzt auch zum besseren Schutz vor Hochwasser. Andreas Bosshard stellt ein Beispiel vor.
von Andreas Bosshard erschienen am 08.01.2025Auen im Aufwind
Dank einer vor 30 Jahren angenommenen Volksinitiative ist der Kanton Aargau heute ein Pionier bei der Auen-Renaturierung. Die Volksabstimmung verankerte in der Kantonsverfassung das Ziel, dass auf mindestens 1% der Kantonsfläche hochwertige Auenlandschaften zu schaffen sind. Das aktuell größte Projekt liegt bei Reussegg im Süden des Kantons. Auf rund 20 Hektaren, die bisher großenteils landwirtschaftlich genutzt wurden, steuert es entlang der kanalisierten Reuss einen wesentlichen Teil zur Zielerreichung bei (sehenswerter Kurzfilm hier).
Volksentscheid hin oder her: „Damit das Projekt realisiert werden konnte, war ein enormes Engagement zahlreicher Akteure notwendig“, sagt Christian Rechsteiner von der Abteilung Landschaft und Gewässer des Kantons, der das Projekt leitete. Das zeigte sich an der feierlichen Einweihung des „Reussdurchstichs“ im Herbst 2024, wo die Kooperation zwischen Ämtern, Baufirmen, Naturschutzorganisationen, Bäuerinnen und Bauern sowie Ausführenden eindrücklich sichtbar wurde.

Zuwanderung oder Ansiedlung?
Sind die topographischen Voraussetzungen für das Entstehen der Aue mithilfe großer Erdbewegungen einmal geschaffen, erfolgt die Besiedlung durch standorttypische Tierarten meist erstaunlich rasch. Selbst sehr seltene und nur weit entfernt noch vorkommende Arten, wie typische, auf Pionierstandorte angewiesene Libellen oder Amphibien, entdecken den neuen Lebensraum oft schon in den ersten Jahren. Meist wird die Besiedlungs-Dynamik der Fauna deshalb der Natur überlassen.
Anders liegt die Situation bei den Pflanzen. Viele Pflanzenarten vor allem von Grünlandgesellschaften sind erstaunlich wenig mobil. Kommen sie in der Umgebung nicht mehr vor, wandern viele nicht von allein ein, oder erst nach Jahrzehnten, erschwert durch die bereits etablierte Vegetation. Das Initialvorkommen von Pflanzenarten entscheidet deshalb oft über die weitere Entwicklung der Pflanzenartenzusammensetzung der Renaturierung.
Um möglichst vielfältige, standorttypische Pflanzengesellschaften zu etablieren, die wiederum eine zentrale Voraussetzung für eine vielfältige Fauna sind – pro Pflanzenart wird als grobe Faustzahl mit zehn zusätzlichen Tierarten gerechnet – kommt in den meisten Renaturierungsprojekten Saatgut zum Einsatz. Durch eine stabile Vegetationsdecke wird zugleich einer Ansiedlung von Neophyten und anderen unerwünschten Pflanzenarten Einhalt geboten.

Pflanzensoziologisch definierte Saatgutherkunft
In der Regel wird bei Renaturierungsprojekten konsequent auf autochthones, d.h. direkt in artenreichen Spenderflächen der Umgebung geerntetes Saatgut gesetzt – so auch in der neuen Aue Reussegg. Die Vorteile von autochthonem, regional direkt aus ursprünglichen Spenderflächen geerntetem Saatgut sind für die Biodiversität vielfältig und weitreichend (siehe Link).
Eine spezielle Herausforderung, die sich HoloSem als Beauftragte für das Saatgut beim Reussegg-Projekt stellte, war die Vielfalt an angestrebten Vegetationstypen. Neben artenreichen Glatthaferwiesen und Trespen-Halbtrockenrasen werden auch verschiedene Feuchtwiesentypen angesät, nämlich Pfeifengraswiesen, Hochstaudenfluren (Filipendulion), typische Kleinseggenriede und Kopfbinsenriede. Das Saatgut für all die genannten Ziel-Pflanzengesellschaften stammt ausschließlich aus ursprünglichen, artenreichen Spenderflächen des Reusstals.
Einige Feuchtwiesentypen kommen im Aargauer Reusstal nicht mehr genügend großflächig vor, so dass wir auch den benachbarten Kanton Zürich bei der Rekrutierung geeigneter Spenderflächen einbezogen. Einige Pflanzengesellschaften benötigen sehr unterschiedliche und mehrfache Erntezeitpunkte, damit das ganze Artenspektrum im Saatgut verfügbar ist. Zudem kommen einige Wiesentypen nur kleinflächig vor. Dies führt insgesamt im Vergleich beispielsweise mit Trespen-Halbtrockenrasen zu einem deutlich erhöhten Ernteaufwand.
Aufwendige Saatguternte
Die Ernte der Wiesentypen auf trockenen Standorten findet im Juni und Juli statt, bei den Feuchtwiesen zieht sie sich bis Mitte September hin. Das getrocknete und gereinigte Saatgut wird großenteils im Frühjahr an den betreffenden Standorten ausgesät, teilweise finden auch Mahdgutübertragungen statt. Da es sich um räumlich komplizierte Ansaatmuster handelt, die oft erst im Gelände genauer sichtbar sind, wird meist von Hand ausgesät. Für größere Flächen ist auch der Einsatz von Sämaschinen oder Drohnen möglich.
Bis sich aus den Ansaaten die angestrebten artenreichen, typisch zusammengesetzte Wiesentypen entwickelt haben, geht es meist zwei bis drei Jahre, bei Feuchtwiesen sogar noch länger. Es wird also Geduld brauchen, und vor allem in den ersten zwei Jahren wird auch die Bekämpfung von Neophyten ein permanentes Thema sein. Ein Teil der Flächen wird gemäht werden, ein Teil beweidet, und ein Teil sich selber überlassen. Mithilfe eines Monitoring wird die Zielerreichung überprüft.
Zu diesem Artikel liegen noch keine Kommentare vor.
Artikel kommentierenSchreiben Sie den ersten Kommentar.