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Ergebnisse einer Studie in den Südtiroler Alpen

Traditionelle Heilpflanzen als kulturelle Schlüsselarten für Naturschutz und Ökosystemrenaturierung

Abstracts

Trotz der vielfältigen Umweltgesetzgebungen, Initiativen, Vereinbarungen und Konventionen auf nationaler und internationaler Ebene ist der Verlust der biologischen Vielfalt auf globaler Ebene bisher nicht signifikant aufgehalten worden. Es bedarf also neuer Strategien, insbesondere was die Renaturierung von Öko- beziehungsweise Landnutzungssystemen angeht, die eine hohe Biodiversität und vielfältige Ökosystemleistungen aufweisen. Um die lokale Bevölkerung stärker in Naturschutz- und Renaturierungsbestrebungen miteinzubeziehen, bietet sich das Konzept der kulturellen Schlüsselarten an. Wir identifizierten mit Blick auf traditionelle Heilpflanzen in der Provinz Bozen-Südtirol in den Alpen (Norditalien) zehn solcher kulturellen Schlüsselarten mit einer hohen Bedeutung (etwa Mehrfachnutzen, medizinische Anwendungen) für die Bevölkerung. Das Vorkommen dieser Arten in Offenland und Wäldern und ihre Nutzung als Wildpflanze oder kultiviert in Gärten kann die Akzeptanz für den Schutz und die aktive Wiederherstellung entsprechender Lebensräume fördern.

Traditional medicinal plants as key cultural species for nature conservation and ecosystem restoration – Results of a study in the South Tyrolean Alps

Despite the manifold environmental legislation, initiatives, agreements, and conventions at the national and international level, loss of biodiversity at the global level has not yet been significantly halted. Thus, new strategies are needed, especially with regard to the restoration of ecosystems and land-use systems that have high biodiversity and provide diverse ecosystem services. In order to involve local communities more in conservation and restoration efforts, the concept of Cultural Keystone Species could be applied. Focusing on traditional medicinal plants in the Autonomous Province of Bozen-South Tyrol in the Alps (northern Italy), we identified 10 such Cultural Keystone Species with high importance (e.g., multiple benefits, medicinal uses) for the local population. The occurrence of these species in open land and forests and their use as wild plants or cultivation in gardens can promote the acceptance of the protection and active restoration of corresponding habitats.

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Abb. 1: Die norditalienische, in den Alpen gelegene Provinz Bozen-Südtirol im Spannungsfeld von intensiver Landnutzung und traditionellen Kulturlandschaftselementen; hier ein Ausschnitt des Vinschgau mit intensiven Apfelplantagen im Tal sowie Wäldern und Almwirtschaft in den Berghanglagen (aus Zerbe 2022).
Abb. 1: Die norditalienische, in den Alpen gelegene Provinz Bozen-Südtirol im Spannungsfeld von intensiver Landnutzung und traditionellen Kulturlandschaftselementen; hier ein Ausschnitt des Vinschgau mit intensiven Apfelplantagen im Tal sowie Wäldern und Almwirtschaft in den Berghanglagen (aus Zerbe 2022).Zerbe 2022
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Eingereicht am 07.12.2022, angenommen am 22.02.2023

1 Einleitung

Trotz der vielfältigen Umweltgesetzgebungen, Initiativen, Vereinbarungen und Konventionen auf nationaler und internationaler Ebene ist der Verlust der biologischen Vielfalt auf globaler Ebene bisher nicht signifikant aufgehalten worden (Butchart et al. 2010, Chapin et al. 2000, IPBES 2019). Landnutzungsintensivierung und Urbanisierung, aber auch das Auflassen historisch gewachsener Kulturlandschaften sind maßgeblich für den weltweiten Arten- und Lebensraumschwund verantwortlich (Zerbe 2022). Damit sind nicht nur die traditionellen, teils sehr diversen und multifunktionalen Kulturlandschaften bedroht, sondern auch die über die Jahrhunderte entwickelten Nutzungsformen und Traditionen, wie beispielsweise die Nutzung von Wildpflanzen für medizinische und andere Zwecke (vergleiche Chemini & Rizzoli 2003, Eichinger 2002, Grabherr 2009).

Auf europäischer Ebene liegen zahlreiche Konzepte, Direktiven und Instrumentarien für den Arten- und Biotopschutz vor. Hierzu zählen unter anderem die FFH-Richtlinie, die Roten Listen der Arten und Lebensgemeinschaften, ökologische Schlüsselarten, Schirmarten sowie ökologische und naturschutzfachliche Indikatorarten (Kratochwil & Schwabe 2001, Zerbe 2019). Herkömmliche Naturschutzstrategien basieren daher im Wesentlichen auf biologisch-ökologischen Parametern zur Erfassung des Naturschutzwerts (Caro & Girling 2010, Garibaldi 2009). Allerdings ist auch vor dem Hintergrund dieser wichtigen biologisch-ökologischen und naturschutzfachlichen Grundlagen unbestritten, „dass der Faktor Mensch bewusst in das Naturschutzgeschehen eingeplant werden sollte“ (Stoll 1999, 479), zumal viele schützenswerte Ökosysteme in Europa traditionelle Landnutzungstypen darstellen, die durch den jahrzehnte- bis jahrhundertelangen Einfluss des Menschen entstanden sind und heute aus Gründen des Arten- und Biotop-, Ressourcen- und/oder Kulturlandschaftsschutzes erhalten oder wiederhergestellt werden (Leuschner & Ellenberg 2017, Zerbe 2019).

Zahlreiche Ansätze zur biokulturellen Vielfalt sind im letzten Jahrzehnt vorgeschlagen worden, um die Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen Natur und Kultur, Mensch und Umwelt auf globaler und lokaler Ebene zu betrachten und in die Nachhaltigkeitsagenden zu integrieren (etwa Franco et al. 2022, Hanspach et al. 2020, Maffi & Woodley 2012, Merçon et al. 2019). Das Konzept der kulturellen Schlüsselarten, welches von Nabhan & Carr (1994) eingeführt und von Garibaldi & Turner (2004) als Grundlage für den Natur- und Kulturlandschaftsschutz weiterentwickelt wurde, bietet eine Möglichkeit, die Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Zielsetzungen der Menschen im Hinblick auf den Schutz ihrer Umwelt und Umweltressourcen auf lokal-regionaler Ebene in den Arten- und Biotopschutz sowie die Ökosystemrenaturierung miteinzubeziehen. Dieser Ansatz ist konzeptionell von den „ökologischen Schlüsselarten“ (Paine 1969) abgeleitet und bezieht explizit die kulturelle Identität der Menschen in einem Landschaftsraum mit ein (Garibaldi & Turner 2004). Letzteres drückt sich darin aus, dass diese kulturellen Schlüsselarten für medizinische Zwecke, als Naturstoffe, für Nahrungszwecke, als Zusätze für kosmetische Stoffe oder für spirituelle oder religiöse Traditionen genutzt werden (Coe & Gaoue 2020) und damit ihr Vorkommen, ihre Nutzung und ihr symbolischer Wert von lokalen Gemeinschaften als essenziell eingeschätzt werden (Cristancho & Vining 2004). Damit werden naturwissenschaftliche mit sozialwissenschaftlichen Aspekten verknüpft, was für viele Naturschutz- und Renaturierungsprojekte von fundamentaler Wichtigkeit ist (Zerbe 2019). Zudem verknüpft es das Konzept des traditionellen ökologischen Wissens (Berkes et al. 2000) mit Naturschutzbestrebungen.

Vor dem Hintergrund der von Coe & Gaoue (2020) konstatierten noch bestehenden Schwachstellen des Konzepts und seiner Operationalisierung tragen wir mit unserer Studie in den Südalpen (Südtirol, Norditalien) zur Weiterentwicklung dieses Ansatzes und seiner potenziellen Anwendung in der Natur- und Renaturierungspraxis bei. Hierbei legen wir den Schwerpunkt auf traditionelle Heilpflanzen. Auf globaler Ebene werden über 12 % der Flora als Heilpflanzen genutzt (Schippmann et al. 2002). Wir ermitteln die Pflanzenarten, die als traditionelle Heilpflanzen in Südtirol bisher genutzt und immer noch Bedeutung für die lokale Bevölkerung haben, und leiten hieraus Empfehlungen für die Praxis ab. Mit Interviews ermitteln wir Akteure und Betroffene (Stakeholder) sowie deren Interessen, die bei der Umsetzung des Konzepts der kulturellen Schlüsselarten in die Praxis berücksichtigt werden müssen.

2 Untersuchungsgebiet

Wir führen unsere Untersuchungen in Südtirol durch, eine der nördlichsten italienischen Provinzen, welche in den Südalpen gelegen ist. Die Provinz mit einer Flächengröße von circa 7.400 km2ist, sowohl was deren naturräumliche als auch kulturelle Gegebenheiten betrifft, sehr vielfältig. Etwa 40 % der Landesfläche liegen über 2.000 m ü. NN, mit Höhenstufen zwischen 194 m und maximal bis zu 3.893 m (Gipfel des Ortler). Das Klima weist von den südlichen Tallagen der Provinz mit einem submediterranen Einfluss bis zu den Hochlagen der Zentralalpen einen ausgeprägten Gradienten auf (Peer 1991). Mehr als die Hälfte der Landesfläche ist mit Nadel- oder Mischwäldern aus Fichte (Picea abies ), WaldKiefer (Pinus sylvestris ), Zirbel-Kiefer (Pinus cembra ), Weißtanne (Abies alba ) und Buche (Fagus sylvatica ) bedeckt, gefolgt von etwa einem Drittel landwirtschaftlicher Nutzfläche, circa 14 % alpinem Grasland, Gletschern und Felsstandorten sowie nur 3 % Siedlungsfläche (ASTAT 2018). Insbesondere die Tallagen des Etschtals und des Vinschgau sind mit intensiv bewirtschafteten Weinbauflächen und Apfelplantagen bedeckt (Abb. 1).

Die Südtiroler Alpen beherbergen 2.169 einheimische Gefäßpflanzen, mit einem hohen Anteil von seltenen und endemischen Arten (Wilhalm et al. 2006, Wilhalm & Hilpold 2006). Bis ins 20. Jahrhundert war die Südtiroler Landschaft durch Kleinbauern geprägt, welche in hohem Maße von den lokal-regionalen natürlichen Ressourcen abhängig waren. Dies förderte die Nutzung der einheimischen Pflanzen für vielfältige Zwecke, insbesondere zum Kurieren vieler Leiden und Krankheiten. Seit den 1970er-Jahren setzte eine politische und sozioökonomische Entwicklung des Landes ein, die sich in einer raschen Landnutzungsintensivierung der Tal- und Berglagen widerspiegelt. In den Tallagen sind es heute die Landwirtschaft und mittlere Gewerbebetriebe, die die Landschaft prägen, in den Berglagen der Sommer- und Wintertourismus mit dessen Infrastruktur. Der hohe Nutzungsdruck hat zum Verlust der Biodiversität sowie von vielfältigen Ökosystemleistungen traditioneller Nutzungssysteme geführt und zudem eine Erosion des traditionellen ökologischen Wissens bewirkt (Chemini & Rizzoli 2003, Eichinger 2002, Grabherr 2009). Letzteres mag die Entwicklung des Obstbaus verdeutlichen. Oberrauch (2001) gibt an, dass im Zeitraum von 1900 bis heute die Zahl der Apfel- und Birnensorten von etwa 200 auf circa zehn marktgängige Apfelsorten zurückgegangen ist, wobei sich der ehemals extensive Streuobstbau mit maximal 60 Bäumen/ha heute zu Intensivkulturen mit bis zu 10.000 Bäumen/ha entwickelt hat.

3 Methoden

Die vorliegende Studie basiert auf einem Forschungsprojekt zur Erfassung traditioneller Heilpflanzen in Südtirol sowie deren Nutzung und Bedeutung als kulturelle Schlüsselarten in Südtirol (Petelka et al. 2020, 2022). Folgende Untersuchungsschritte wurden durchgeführt:

1) Mit einem Review, das mit dem PRISMA-Protokoll einem internationalen Standard folgte (Page et al. 2021), wurden alle im Untersuchungsraum für die Hausmedizin genutzten höheren Pflanzen und Kryptogamen erfasst, die in der Literatur zwischen 1988 und 2018 genannt wurden. Da traditionelle Heilpflanzen in Südtirol nicht umfassend in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert sind, wurden auch populärwissenschaftliche Quellen und nicht publizierte Angaben berücksichtigt. Mit der Onlineplattform FloraFaunaSüdtirol wurde das Vorkommen der entsprechenden Arten in Südtirol verifiziert. Taxonomie und Nomenklatur der Arten folgen Fischer et al. (2008).

2) Für die in Südtirol vorkommenden traditionellen Heilpflanzen wurden neben dem medizinischen Nutzen auch andere Nutzungskategorien, die jeweils genutzten Pflanzenteile, der Lebensraum (EUNIS-Habitate nach Chytrý et al. 2020), in dem sie vorkommen, sowie ein eventueller Gefährdungsgrad nach der Roten Liste der Pflanzenarten in Südtirol (Wilhalm & Hilpold 2006) dokumentiert.

3) Der medizinische Nutzen und die Leiden und Krankheiten, die mit den Heilpflanzen oder deren Inhaltstoffen behandelt werden, folgt den Kategorien derInternational Classification of Primary Care (ICPC-2, WHO 2022), wobei 12 Kategorien differenziert wurden.

4) Halbstrukturierte Interviews mit Experten, Akteuren und Betroffenen (Stakeholdern) wurden durchgeführt, um deren Wissen über traditionell genutzte Pflanzen zu erfragen und ihr Interesse an einer Nutzung zu eruieren. Wir befragten Kräuterbauern (n = 6), Apotheker (n = 4), einen Historiker (n = 1) und einen lokalen Botaniker (n = 1). Auf dieser Grundlage wurde eine Einfluss- und Interessen-Kartierung vorgenommen.

5) Für die Identifikation kultureller Schlüsselarten kam derIndex of Identified Cultural Influence (ICI) zur Anwendung (Garibaldi & Turner 2004). Dieser kombiniert die sechs kulturellen Elemente (1) Intensität oder Vielfalt der Nutzung, (2) die Vielfalt der Pflanzennamen in den regionalen Sprachen, (3) die Bedeutung in Erzählungen, Zeremonien oder Symbolen, (4) die Dauerhaftigkeit im sozio-kulturellen Wandel, (5) eine herausragende Bedeutung für die lokale Bevölkerung und (6) die Möglichkeiten des Ressourcenerwerbs (wie Handel auf überregionalen Märkten).

Für weitere methodische Details sei auf die beiden Studien von Petelka et al. (2020, 2022) verwiesen.

4 Ergebnisse

4.1 Überblick über die traditionellen Heilpflanzen Südtirols

Wir ermittelten insgesamt 276 einheimische Pflanzen, die in der traditionellen Hausmedizin Verwendung finden, davon 204 Gräser und Kräuter, jeweils 28 Baum- und Straucharten, neun Farnpflanzen, drei Pilzarten und drei Flechtenarten- (Abb. 2). 59 dieser Arten (21 %) haben ihr Schwerpunktvorkommen in den Alpen. Zehn der als Heilpflanzen genutzten Arten treten nur in der alpinen Höhenstufe (> 2.600 m ü. NN) auf, namentlich etwa die Kräuter Schwarze Schafgarbe (Achillea atrata ), Moschus-Schafgarbe (A. moschata ), Silberwurz (Dryas octopetala ), Kriech-Nelkenwurz (Geum reptans ), Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis ) und Stängelloses Leimkraut (Silene acaulis ).

Die Pflanzenteile, die genutzt werden, sind Blätter (41 %), Blüten und Blütenknospen (28 %), Wurzeln, Knollen und Rhizome (17 %), Früchte (7 %), Rinde und Harze (5 %) sowie Samen (5 %). Neben der Nutzung für medizinische Zwecke werden die Pflanzen traditionell als Nahrung, für kosmetische Zwecke, für den Haushalt, die Tierhaltung und für spirituelle Zwecke genutzt (Tab. 1). Unter den „Vielzweckpflanzen“ (Zerbe 2022), die unter bis zu fünf der sechs aufgeführten Nutzungskategorien genannt werden, finden sich die Krautarten Frauenmantel (Alchemilla spp.), Wermuth (Artemisia absinthium ), Acker-Schachtelhalm (Equisetum arvense ), Geflecktes Johanniskraut (Hypericum perforatum ), Feuer-Lilie (Lilium bulbiferum ), Große Brennnessel (Urtica dioica ) und Echter Baldrian (Valeriana officinalis ), der Zwergstrauch Thymian (Thymus spp.) und die Gehölzarten Hänge-Birke (Betula pendula, Abb. 5), Hasel (Corylus avellana ), die EichenartenQuercus petraea ,Q. pubescens undQ. robur sowie der Schwarze Holunder (Sambucus nigra, Abb. 5).

Die am häufigsten genannten medizinischen Nutzungskategorien sind das Verdauungssystem und Erkrankungen oder gesundheitliche Probleme der Haut und der Atemwege (Tab. 2). Ein hoher Prozentsatz (70 %) der traditionellen Heilpflanzen wurde für zwei bis fünf der differenzierten Kategorien genutzt, wobei die Pflanzen mit den verschiedenartigsten medizinischen Verwendungen (14 %) als „Allheilmittel“ oder „Heil aller Schäden“ genannt werden. Beispiele für letztere Pflanzengruppe sind Acker-Schachtelhalm, Wacholder (Juniperus communis ) und Meisterwurz (Peucedanum ostruthium ). Während 211 Pflanzenarten als Wildpflanzen gesammelt werden, werden 64 in Haus- und Bauerngärten oder auf landwirtschaftlichen Nutzflächen kultiviert.

24 der identifizierten Heilpflanzen sind nach der Roten Liste Südtirols als gefährdet mit unterschiedlichem Gefährdungsgrad eingestuft (Tab. 3). Zwei der Heilpflanzen sind in der Roten Liste Südtirols als ausgestorben verzeichnet, namentlich Amethyst-Mannstreu (Eryngium amethystinum ) und Feld-Mannstreu (E. campestre ).

4.2 Stakeholder-Analyse

Wir ermittelten zahlreiche Akteure und Stakeholder mit einem unterschiedlichen Grad des Interesses an traditionellen Heilpflanzen und dem Land, auf dem diese wachsen. Entscheidende Interessengruppen sind Kräuterbauern, die Kräuter meist biologisch anbauen, konventionelle Landwirte, die eine intensive Pflanzenproduktion betreiben, Gastronomie und Hotellerie mit einer Nutzung und Vermarktung traditioneller Heilpflanzen sowie die pharmazeutische Industrie, die neue Medikamente auf der Grundlage traditioneller Heilpflanzen entwickelt und patentiert. Hinzu kommen nichtstaatliche Umwelt- und Naturschutzorganisationen (NGOs), Touristen sowie lokale Behörden. In Abb. 3 sind die Akteure und Stakeholder mit dem Grad ihres Interesses dargestellt.

4.3 Kulturelle Schlüsselarten

Jede achte Art der in Südtirol vorkommenden einheimischen Pflanzen wird für Heilzwecke in der Volksmedizin genutzt. Tab. 4 gibt eine Übersicht der nach dem Ansatz von Garibaldi & Turner (2004) für die traditionellen Heilpflanzen Südtirols ermittelten zehn kulturellen Schlüsselarten, davon sieben krautige und drei Holzarten. Diese Arten finden neben der Nutzung als Heilpflanze für vielfältige Zwecke Verwendung. Häufig werden sie von der lokalen Bevölkerung als „Allheilmittel“ oder „Heil aller Schäden“ bezeichnet, mit bis zu 18 verschiedenen Pflanzenbezeichnungen für eine Art in den lokalen Sprachen (vornehmlich Deutsch, Italienisch und Ladinisch). Nach den zwölf ICPC-2-Krankheitskategorien waren die häufigsten therapeutischen Anwendungen in der traditionellen Medizin für das Verdauungssystem, die Atemwege und die Haut.

4.5 Habitatbindung

Insgesamt fanden wir 267 Arten, die entweder als diagnostisch, konstant oder dominant in bestimmten Lebensräumen (EUNIS-Habitate) vorkommen. Diese Arten treten in 18 Teillebensräumen auf, die zu fünf Makrohabitaten gehören, während die dominanten Arten in 15 Teillebensräumen vorkamen. Unsere Ergebnisse bezüglich der Lebensraumbindung von kulturellen Schlüsselarten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die von uns identifizierten kulturellen Schlüsselarten kommen in der Regel in artenreichen Lebensräumen vor, meist jedoch in verbreiteten Lebensräumen wie etwa Grünland mit mittleren Standortbedingungen (in Bezug auf Nährstoffe und Wasserhaushalt) und verschiedenen Waldgesellschaften. Diese Lebensräume sind zum Sammeln der Arten in der Regel leicht zugänglich.

5 Diskussion

Verglichen mit ähnlichen Studien im Alpenraum und angrenzenden Gebieten zeigt sich für Südtirol eine außerordentlich hohe Vielfalt mit Blick auf traditionelle Heilpflanzen und ihrer Nutzung (zu anderen Regionen vergleiche Cornara et al. 2014 und Guarrera et al. 2008). Die hohe Vielfalt an im Volksmund gebräuchlichen Pflanzennamen ist nicht verwunderlich angesichts der hohen kulturellen und sprachlichen Vielfalt Südtirols. So erbrachte ein kürzlich vom Naturmuseum Südtirol landesweit durchgeführtes Projekt zur Erfassung deutscher und italienischer mundartlicher Pflanzennamen in der Provinz Bozen-Südtirol, dass 504 wildwachsende und 161 ausschließlich kultivierte Gefäßpflanzenarten, sowie vier Flechten- und eine Moosart mindestens eine mundartliche Bezeichnung haben (Ortner et al., in Vorbereitung). Hingegen zeigen sich hohe Ähnlichkeiten der am häufigsten zu Heilzwecken genannten Arten mit anderen Regionen Italiens, insbesondere Norditaliens. Beispielsweise werden die Schafgarbe, Arnika (Abb. 4), Brennnessel und Thymian auch in anderen Regionen in diesem Zusammenhang häufig genannt (etwa Cornara et al. 2014, Dei Cas et al. 2015, Vitalini et al. 2015). Auch hinsichtlich der Nutzung zu medizinischen Zwecken zeigt sich eine Ähnlichkeit zu anderen Studien. So wird auch in der Volksheilkunde aus anderen Regionen der Alpen die zentrale Bedeutung der Behandlung von Problemen des Verdauungs- und Atmungssystems sowie von Hautkrankheiten genannt (Cornara et al. 2014, Vitalini et al. 2009, 2015), was auch weltweit bestätigt wird (Menendez-Baceta et al. 2014). Von den 670 in der oben genannten Studie für Südtirol genannten Arten mit mundartlicher Bezeichnung (Ortner et al., in Vorbereitung) sind 262 der Nutzungskategorie „Medizin und Körperpflege“ zuzuordnen, gefolgt von den Kategorien „Ernährung/Futterplanze“ und „optisch/olfaktorisch“ (jeweils 136) sowie „Religion/Volksglaube“ (72) und „Schmuck/Gartenblume“ (69), wobei Mehrfachnennungen möglich sind.

Für 111 der traditionellen Heilpflanzen Südtirols (circa 40 %) fanden wir eine Bestätigung (79 Arten) oder Widerlegung der Wirkung (32) in der medizinischen Fachliteratur. Dieses Ergebnis bedeutet allerdings auch, dass für nahezu die Hälfte der in der traditionellen Hausmedizin eingesetzten Pflanzenarten keine medizinischen oder pharmakologischen Studien vorliegen, die einen Einsatz in der Heilkunde und eine Wirkung gegen bestimmte Krankheiten bestätigen würden. Betrachtet man jedoch die Erfolgsquote (> 70 %) der bisher untersuchten Pflanzenarten (111), für die eine medizinische oder therapeutische Wirkung validiert wurde, zeigt sich das große phytotherapeutische und wirtschaftliche Potenzial der diesbezüglich noch unerforschten Pflanzen.

Unsere wichtigsten Ergebnisse in Bezug auf die Lebensräume der traditionellen Heilpflanzen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Diese Pflanzenarten kommen in der Regel in artenreichem Grünland und verschiedenen Waldgesellschaften vor. Da viele der traditionellen Heilpflanzen in Lebensräumen wachsen, die auch für den Arten- und Biotopschutz von Bedeutung sind, wie beispielsweise Waldränder, artenreiches Grünland oder Feuchtgebiete, lassen sich hierüber die Akzeptanz und der Einsatz für Naturschutz und Ökosystemrenaturierung katalysieren. Am Beispiel des Wacholders zeigt sich, dass eine kulturelle Schlüsselart auch eine ökologische Schlüsselart sein kann (vergleiche Fartmann et al. 2022 für Brutvögel), was ihre Bedeutung für den Arten- und Biotopschutz noch erhöht.

Das kommerzielle Sammeln und Verarbeiten von Wildarzneipflanzen ist in Südtirol stark reguliert, etwa durch eine verpflichtende Qualifikation der beteiligten Personen, durch Sammelgenehmigungen oder durch die Beschränkung der Menge an gesammelten Pflanzen (Schunko et al. 2019). Mit dem Fokus auf die von uns identifizierten kulturellen Schlüsselarten können wir feststellen, dass fast alle der zehn identifizierten Arten nicht gefährdet sind und sehr häufig im Grünland, in Gebüschen oder in Wäldern auftreten. Für die gefährdeten Arten wie beispielsweise Arnika (Abb. 4) muss einerseits das Sammeln stark eingeschränkt werden oder diese Arten werden in Kräutergärten oder auf Bergwiesen kultiviert. Letzteres wurde in einem Projekt zur Förderung von Arnika in Nordostbayern erfolgreich praktiziert (Blachnik & Saller 2015). In diesem Projekt wurde, neben der Verwendung dieser Art als Heilpflanze, die Öffentlichkeit auch für den Naturschutz und die Wiederherstellung von Ökosystemen sensibilisiert. Allerdings wird gerade bei Arnika in Südtirol bisweilen ein maßloses Sammeln beobachtet, welches potenziell den noch stabilen Bestand gefährden könnte.

Zu dem Nutzen zu Heilzwecken kommt ein weiteres Potenzial hinzu, namentlich die Verwendung für eine ausgewogene Ernährung. Nahezu die Hälfte der in Südtirol zu Heilzwecken genutzten Pflanzenarten spielt auch eine Rolle für die Ernährung (Tab. 4). So kann die Nutzung für die Zubereitung von Speisen und Getränken eine gesunde Ernährung fördern, die auf eine ausgewogene Versorgung mit Mineralstoffen und Nährelementen abzielt (Abbet et al. 2014, Tapsell et al. 2016). Dies gewinnt zunehmend im Zusammenhang mit lokalen landwirtschaftlichen Produkten, der Öko-Gastronomie (vergleiche Aceituno-Mata et al. 2021) und der ökologischen Landwirtschaft eine Rolle. Beispiele für eine Verknüpfung von vorsorgenden medizinischen Wirkungen mit der Nutzung zu Nahrungszwecken liegen für Säfte (etwa Schwarzer Holunder; Chen et al. 2014, Krawitz et al. 2011), Marmeladen (etwa Hundsrose; Mihoc & Mihai 2008) und Gewürze (Thymian; Rasooli & Mirmostafa 2002) vor. Während in der Vergangenheit die Heilpflanzen hauptsächlich für den Hausgebrauch verwendet wurden, haben sich der Anbau und die Verwendung von Heilpflanzen in Südtirol deshalb in den letzten Jahrzehnten zu einer wachsenden Marktnische entwickelt (Schunko et al. 2019). Nach unserem Wissen sind es gegenwärtig mindestens 21 Betriebe, deren Haupteinkommensquelle die Kräuterproduktion ist, hinzu kommen mehrere Gastronomie- und Hotelbetriebe, die saisonale Gerichte oder Wellness- und Erholungsprogramme auf der Basis traditioneller Pflanzen und Praktiken anbieten (Petelka et al. 2020).

In unserer Studie zeigte sich, dass mittlerweile über 35 Bauernhöfe Kräuter für den lokal-regionalen Gebrauch insbesondere im Gastronomie- und Wellnessbereich anbauen. Allerdings unterliegt der Anbau von Heilkräutern, bei denen die medizinische Wirkung nachgewiesen ist und die im Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel hinsichtlich traditioneller pflanzlicher Arzneimittel (EU 2004) verzeichnet sind, einer gesetzlichen Regelung, die die Flexibilität der Betriebe stark einschränkt. Der überwiegende Anteil der Kräuteranbaubetriebe in Südtirol, in der Regel Familienbetriebe, kann die Produkte aus Heilpflanzen nur als „Lebensmittel“ vermarkten, das heißt, es darf sich auf dem Produkt kein Hinweis auf eine Heilwirkung finden. So werden beispielsweise einige Teemischungen als „Halswärmer Tee“, aber nicht als „Husten- und Bronchialtee“ zum Verkauf angeboten. Um die Produkte (Rohmaterial oder Endprodukte) als Arzneien vermarkten zu können, müssen nach dem erwähnten EU-Gesetz sehr hohe Qualitätsstandards erbracht werden, so beispielsweise Laboranalysen zu den Inhaltsstoffen. Dies kann von den Familienbetrieben in der Regel aus finanziellen Gründen nicht geleistet werden. Das wiederrum hat zur Folge, dass die Südtiroler Apotheken auch keine Heilkräuter für medizinisch-therapeutische Zwecke von den heimischen Betrieben kaufen können.

Dagegen hat sich in Österreich das Modell eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses von Kräuteranbaubetrieben bewährt. Dort werden die Rohstoffe von der Genossenschaft angekauft, auch mit einer Garantie für den Abnahmepreis und die Abnahmemengen für die einzelnen Betriebe, sowie die Laboranalysen und die Vermarktung von der Genossenschaft organisiert (Österreichische Bergkräutergenossenschaft 2022).

In der Tat scheint die potenzielle kommerzielle Nutzung von Pflanzen und ihren Produkten zahlreiche positive Effekte für die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit Südtirols zu bieten, das heißt (i) die Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion, (ii) die Aufrechterhaltung der ländlichen Wirtschaft, (iii) die Etablierung lokaler Wertschöpfungsketten, (iv) die Erhaltung traditioneller Landnutzungsformen durch extensive und ökologisch orientierte Bewirtschaftungssysteme, (v) die Erhaltung einer wichtigen Nahrungsquelle für Insekten und (vi) die Erhaltung und Wiederbelebung lokaler Identitäten mit wahrscheinlich positiven Auswirkungen auf die Erhaltung der biologischen Vielfalt. Allerdings bedarf es hier noch einer fundierten Information der Bevölkerung über biologische Vielfalt und Artenschutz sowie einer Ausbildung von Wild- und Heilkräutersammlern. Leider ist beispielsweise das Sammeln von Wild- und Heilkräutern in Naturschutzgebieten kein Einzelfall.

Mit der Tatsache, dass circa 10 % der identifizierten traditionellen Heilpflanzen Südtirols in ihrem Bestand gefährdet sind, wird zum einen das Risiko einer weiteren Nutzung durch das Sammeln der Wildvorkommen reflektiert (vergleiche Schippmann et al. 2002) – vor allem beim Sammeln der Wurzeln oder Reproduktionsorgane –, zum anderen wird aber auch das Potenzial hervorgehoben, dass diese Arten als kulturelle Schlüsselarten zum Wissenstransfer im Arten- und Biotopschutz genutzt werden können.

Förderhinweis und Danksagung

Die Studie wurde von der Autonomen Provinz Südtirol im Rahmen des Transdisziplinären Forschungsnetzwerkes Umwelt und Gesundheit (TER) unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Zerbe gefördert. Wir danken allen Experten und Interviewpartnern für ihre Kooperation.

Literatur

Aus Umfangsgründen steht das ausführliche Literaturverzeichnis unter Webcode NuL2231 zur Verfügung.

Fazit für die Praxis

  • In Südtirol wurden insgesamt 276 einheimische Pflanzenarten ermittelt, die in der traditionellen Hausmedizin Verwendung finden. Die am häufigsten genannten medizinischen Nutzungskategorien sind das Verdauungssystem und Erkrankungen sowie gesundheitliche Probleme der Haut und der Atemwege. Für circa 2/3 dieser Arten ist die medizinische Wirkung durch entsprechende Analysen und Studien verifiziert.
  • Nahezu die Hälfte der in Südtirol zu Heilzwecken genutzten Pflanzenarten spielt auch eine Rolle für die Ernährung. So kann die Nutzung für die Zubereitung von Speisen und Getränken eine gesunde Ernährung fördern, die auf eine ausgewogene Versorgung mit Mineralstoffen und Nährelementen abzielt. Damit kommt diesen Arten eine zunehmende Bedeutung in Lebensmittelbereich und Gastronomie zu.
  • Traditionelle Heilpflanzen, die auch heute noch eine Bedeutung für die lokale Bevölkerung haben und damit kulturelle Schlüsselarten sind oder potenziell sein können, können einerseits Naturschutz und Ökosystemrenaturierung katalysieren und andererseits die kulturelle Identität sowie den lokalen Tourismus fördern.
  • Um ein unkontrolliertes, maßloses Sammeln von Wild- und Heilkräutern entgegen den Zielen des Arten- und Biotopschutzes und der Förderung der Biodiversität zu verhindern, bedarf es einer umfassenden Information der Bevölkerung und einer fundierten Ausbildung von professionellen oder halbprofessionellen Sammlern.

Kontakt
 

Prof. Dr. Stefan Zerbe leitet die Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Landschaftsökologie und Ökosystemrenaturierung an der Freien Universität Bozen in Südtirol. Lehr- und Forschungsschwerpunkt in der Renaturierungsökologie. Zur Wiederherstellung und Entwicklung von nachhaltigen Landnutzungssystemen und zu wissenschaftlichen Grundlagen des Natur-, Umwelt- und Ressourcenschutzes weltweit Projekte unter Einbeziehung lokaler Akteure. Neben über 300 Fachpublikationen Autor von interdisziplinären Fachbüchern zur Renaturierung von Ökosystemen und Kulturlandschaften.
> stefan.zerbe@unibz.it

Joshua Petelka M.Sc.
ist beim Regierungspräsidium Freiburg, Referat 56 – Naturschutz und Landschaftspflege, im angewandten Naturschutz tätig. Tätigkeitsschwerpunkte: Pflege und Betreuung von Naturschutzgebieten sowie Projektenwicklung im Bereich Besucherlenkung und nachhaltiger Tourismus. Nach dem Studium des Umweltmanagements in Bergregionen an der Freien Universität Bozen und Universität Innsbruck Beschäftigung mit traditionellen Heilpflanzen in Südtirol im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Bozen.
> joshua.petelka@posteo.de

Dr Gianmaria Bonari
ist Juniorprofessor an der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik der Freien Universität Bozen. Nach seiner Promotion an der Universität Siena, Postdoc an der Fakultät für Botanik und Zoologie der Masaryk University in Brno (Tschechien). Forschungsschwerpunkte in Botanik, Vegetationskunde und Naturschutzbiologie sowie Untersuchungen von Standort-Vegetation-Interaktionen in verschiedenen räumlich-zeitlichen Skalenebenen.
> Gianmaria.Bonari@unibz.it 

Dr Thomas Wilhalm, Konservator für Botanik am Naturmuseum Südtirol in Bozen.
> Thomas.Wilhalm@naturmuseum.it 

Dr Ina Säumel, Leitung der Forschungsgruppe Multifunktionale Landschaften am IRITEHSys der Humboldt Universität zu Berlin.
> ina.saeumel@hu-berlin.de
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