Mit einem Haussperling fing alles an
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Mittwochvormittag, 10 Uhr. Eine junge Dame mit langem, blondem Haar lächelt mir vom Bildschirm entgegen. Im Hintergrund ein schlichter weißer Aktenschrank mit ordentlich beschrifteten Ordnern. Nüchtern, sachlich – ein interessanter Kontrast zu der Frau, die vor Energie nur so sprüht. Eigentlich hätten wir uns lieber persönlich getroffen, aber nun geben wir uns mit einer mittelmäßigen Internetverbindung zufrieden. Antje Gerlich heißt die Dame, und sie ist die Geschäftsführerin der Gesellschaft für Vogelschutz.
Ihr Zuhause hat die Gesellschaft im beschaulichen niedersächsischen Eystrup, einer kleinen Gemeinde mit nicht einmal 3.500 Einwohnern. Und auch das Unternehmen ist momentan durchaus übersichtlich: Gerade mal zwei Mitarbeitende zählt die Gesellschaft, einer davon ehrenamtlich. Aber schließlich steckt sie auch noch in den Kinderschuhen, feierte sie im Januar doch gerade mal ihren ersten Geburtstag. Ihre Wurzeln reichen aber weiter zurück.
Berlin, über zehn Jahre zuvor. Ein junger Spatz liegt verletzt an einem U-Bahnhof. Antje Gerlich findet den kleinen Vogel und weiß: Ohne Hilfe ist er nicht überlebensfähig. Sie sucht sich Hilfe und findet eine Dame, die sich mit der Aufzucht von Jungvögeln auskennt. Die Geschichte hat allerdings kein Happy End: Für den kleinen Sperling kommt jede Hilfe zu spät.
Trotzdem legt dieses Erlebnis den Grundstein eines Traumes – Antje Gerlich will einen Verein gründen: „Es sollte ein Verein werden, mit dem ich der Vogelwelt helfen kann und den Leuten, die Vögeln helfen“, erzählt sie. Zuerst aber kommt es anders. Gerlich beginnt eine Lehre zur Tierarzthelferin, bricht aber ab, wird stattdessen Konditoreifachverkäuferin.
Doch: Ihr Traumberuf ist das nicht. Sie bricht aus dem Arbeitsalltag aus, reist nach Australien. Zwei Jahre verbringt sie dort, arbeitet, reist, lernt das Land kennen. „Das hat in mir eine Wertschätzung zur Natur geschaffen. Dort habe ich zu mir selbst gefunden“, meint Antje Gerlich rückblickend. Und noch etwas hat sie in Australien gefunden: einen Lachenden Hans. Der Vogel, der auch als Kookaburra bekannt ist, war schwer verletzt. Sie sucht einen Tierarzt auf. Wie auch das erste Fundtier Gerlichs überlebte er seine Verletzung nicht. Er wurde von seinem Leiden erlöst. Trotzdem hat ihn die junge Frau nie vergessen.
Eine dritte Begegnung mit der Vogelwelt soll schließlich Gerlichs berufliche Ausrichtung endgültig bestimmen. Bei einem Spaziergang auf Fraser Island bleibt sie stehen, mitten im Wald. „Ich habe die Umgebung bewusst wahrgenommen. Plötzlich habe ich einen kleinen Vogel auf einem Ast bemerkt, ganz nah.“
Diese drei Vögel bestärken Gerlichs Rückbesinnung auf ihren ursprünglichen Traum. Sie kehrte nach Deutschland zurück, holte in Dresden ihr Fachabi nach und begann, Naturschutz zu studieren. Das Studium muss die junge Frau aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Ihr Traum droht zu zerbrechen. „Ich hatte Angst, ohne Bachelor nicht ernst genommen zu werden“, meint sie.
Doch Antje Gerlich gibt nicht auf. Stattdessen sammelte sie Praxiserfahrung und bildet sich parallel weiter. Neben Praktika, Vogelstimmenwanderungen, einem Beringungskurs und zweijähriger Arbeit in einer Wildvogelauffangstation in Rheinland-Pfalz besucht sie Seminare im Verwaltungsrecht und des besonderen Artenschutzes. Dies alles bildet eine stabile Wissensgrundlage. Zusätzlich liest Gerlich jedes Fachbuch über Vögel, das sie zwischen die Finger bekommt. Daneben sucht sie Kontakt zu Experten, mit denen sie sich austauscht: Paul Sömmer von der Vogelschutzwarte Brandenburg oder Naturschutzberater Rolf Thiemann zählen zu den Menschen, von denen sie in diesen Jahren viel gelernt hat, mit denen sie heute befreundet ist und auch noch im regelmäßigen fachlichen Austausch steht. Sie haben die Entwicklung der jungen Frau stark mitgeprägt. „Die Person, die ich heute bin, bin ich auch aufgrund des großen emotionalen und fachlichen Rückhalts, den ich von diesen beiden Menschen und weiteren Personen erfahren habe. Ich bin allen zutiefst dankbar“, meint sie.
Andere Dinge hat sie auch durch Beobachtung in ihrer Umgebung gelernt. Manche Beobachtung gab neue Handlungsimpulse: zum Beispiel ein Mann, der Rückstände von Schwalbennestern von der Fassade entfernte; oder ein Gebäude, das trotz brütender Mehlschwalben zur Renovierung eingerüstet wurde. Den rechtlichen Schutz der Rote-Liste-Art vermisste Gerlich bei diesen Begegnungen.
Immer häufiger rückte die Mehlschwalbe in den Fokus, bis Antje Gerlich 2018 schließlich selbst die Initiative für die Art ergreift: Sie ruft die „Kirchwalder Schwalbenschutztage“ ins Leben. Schnell steht das Konzept für die Veranstaltung: Informationsveranstaltungen für die Bevölkerung, um die Akzeptanz für die Schwalben zu fördern, ein Schwalbenmonitoring, das Anbringen von Kotbrettern unter den Nestern. Jedoch kann Gerlich das Projekt nicht allein stemmen. Eine LEADER-Förderung fällt ebenfalls weg: Die Genehmigung fiele zu spät ins Jahr. Dann aber finden sich zwei starke Partner, die das Projekt mittragen: Die Rudolf Wittmer Stiftung, die das Projekt finanziell unterstützt, und die freiwillige Feuerwehr Kirchwald, die die Kotbretter mithilfe ihrer Gerätschaften anbringt.
Die positive Resonanz bestärkt die Feldornithologin: Der Vogelschutz braucht mehr Unterstützer! Nach einem erneuten Umzug, nun nach Niedersachsen, greift sie deshalb Ende 2019 ihren langjährigen alten Traum wieder auf: Ein Verein für Vogelschutz soll gegründet werden. Die Recherche zeigt jedoch schnell, dass ein gemeinnütziges Unternehmen für Gerlich die passendere Rechtsform ist. „Ich habe für mich persönlich erkannt, dass ich für meine Entscheidungen auch vollumfänglich verantwortlich sein möchte“, erklärt sie.
Wenige Monate später ist es soweit: Zum 14. Januar 2020 gründet sie die „Gesellschaft für Vogelschutz“. Zunächst als One-Woman-Show. Ihre Aufgabenfelder sind dabei von Anfang an vielfältig: Erarbeitung von Stellungnahmen, Einsatz bei Verstößen gegen den Artenschutz, Aufklärungsarbeit bei Hauseigentümern und Kartierungen für Planungsbüros. Inzwischen ist auch eine weitere Säule hinzugekommen: das Naturschutzrecht. Für diesen Arbeitsbereich hat Gerlich allmählich eine Affinität entwickelt – aus der Not heraus. „Dass ich am Anfang in einem Verfahren viel behördlichen Gegenwind bekommen habe, hat mein Weltbild ziemlich erschüttert“, gibt sie zu. „Das war aber für mich der ausschlaggebende Impuls, mich in das Thema einzuarbeiten.“
Und das hat sie – auch mithilfe des Netzwerks, dass sich die junge Frau allmählich aufbaut. „Ich habe mich quer durch Deutschland telefoniert“, scherzt sie. In diesem Netzwerk profitieren die Menschen gegenseitig von ihrem Know-how. So engagiert sich beispielsweise Andreas Beer, ein Geoökologe aus Bayern, mittlerweile ehrenamtlich in der Gesellschaft. „Er ist für mich eine enorme fachliche Hilfe und ein wichtiger Ansprechpartner“, erklärt Antje Gerlich. „Gerade in der Bauleitplanung habe ich viel von ihm gelernt.“
Einen „normalen“ Arbeitsalltag gibt es dabei nicht. „Ich definiere meine Arbeitsinhalte überwiegend selbst, beziehungsweise Ereignisse definieren ihn“, erzählt Gerlich. Momentan sind das vor allem Kartieraufträge, die sie im Auftrag für Büros durchführt. Stellungnahmen zu Bebauungsplänen, Kommunikation mit Behörden bei Artenschutzverstößen zählen unter anderem derzeit zu ihren Aufgaben. Durchaus auch im größeren Umkreis, auch bis nach Hessen. Da übernachtet die Ornithologin dann auch mal im Auto, um in aller Frühe mit der Arbeit starten zu können.
Auch um Fundtiere kümmert sich Antje Gerlich, ob mit einer schnellen Erstversorgung mit weiterem Transport zu einer Auffangstation oder in einem telefonischen Beratungsgespräch. Dabei ist ihr jedes einzelne Tier lieb. „Ich mache keine Unterschiede, ob es nun ein Zuchtvogel oder ein Wildtier ist“, betont sie. Eine geschwächte Brieftaube bekommt die gleiche Aufmerksamkeit wie ein verletzter Mäusebussard.
Hinzu kommen Vogelstimmenwanderungen, Vorlesungen, Veranstaltungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Mit der Zeit soll dieser Umweltbildungsaspekt auch noch wachsen, denn gerade dieser direkte Austausch mit den Menschen liegt Antje Gerlich besonders am Herzen. „Ich bin so ein Typ, ich fahre irgendwohin und sage: ‚Hallo, ich bin Antje Gerlich, können wir einfach mal reden?‘“ Im erstaunlichen Gegensatz dazu steht, dass die junge Frau mit ihrem Unternehmen bisher nicht aktiv Marketing betreibt. Das Problem: Gerlich redet gerne mit Menschen, aber nicht über sich. Das soll sich aber in Zukunft ändern. „Da muss – und möchte – ich aus meiner Komfortzone raus“, sagt sie. „Ich rede ja auch für die Gesellschaft, nicht für mich.“
Trotz dieser persönlichen Hürde: Die Gesellschaft macht Fortschritte. Inzwischen konnte Gerlich sich selbst als Geschäftsführerin anstellen. Ihre Pläne für die Zukunft sind aber größer. „Die Gesellschaft soll wachsen und auf einem stabilen Fundament aufbauen können“, berichtet die Feldornithologin von ihren Zukunftsplänen. „Ich würde gerne einen Wirtschaftszweig entwickeln, mit dem das Unternehmen sich selbst trägt.“ Denn dann könnte sie Spenden ausschließlich für Projekte im Vogelschutz aufwenden – das ist schließlich der Kern der Gesellschaft, an dem Gerlichs Herz hängt.
Außerdem träumt sie davon, einen Freundeskreis für die Belange des Vogelschutzes aufzubauen, eben die Menschen zu vernetzen, die genauso Herzblut-Vogelschützer sind wie sie selbst. Und sie ist überzeugt: „Es gibt solche Menschen. Wir müssen uns nur noch finden.“
Antje Gerlich ist Feldornithologin. Im Januar 2020 hat sie sich mit der „Gesellschaft für Vogelschutz“ selbstständig gemacht.
Betriebsdaten
- Gründung: Januar 2020
- Rechtsform: gemeinnützige Unternehmensgesellschaft
- Mitarbeiter: 2, davon einer ehrenamtlich
- Arbeitsschwerpunkte: Artenschutz, Wildvogelhilfe, Umweltbildung, Naturschutzrecht
Philosophie
Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen Wertschätzung und Respekt – sowohl im Umgang mit der Natur und der Vogelwelt als auch mit den Menschen.
Kontakt
Gesellschaft für Vogelschutz gUG (haftungsbeschränkt)
Antje Gerlich
Am Blankem Moor 2
27324 Eystrup
Tel. 04254 / 80 19 133
E-Mail: antje.gerlich@gevosu.de
www.gevosu.de
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