
Wo wilde Wisente weiden
Der Wisent war einst in ganz Europa verbreitet. Ab dem 11. Jahrhundert wurde er jedoch beinahe ausgerottet – durch das Bevölkerungswachstum, Ackerbau und Viehzucht einerseits, durch Wilderei andererseits. Nur in Tierparks überlebten einige wenige Tiere. Nun weiden dank des Vereins Wisent im Thal wieder Tiere in der Schweiz. Wir durften einen Einblick in das Projekt gewinnen.
von Julia Schenkenberger erschienen am 18.01.2024Sie sind massiv. Kompakt. Groß. Und sie sind wieder da: Wisente leben seit Ende 2022 im Solothurner Jura. Manchmal sind sie erstaunlich schwer zu finden. Auf einer Fläche von 500.000 m² dürfen sich die Tiere frei bewegen – auf Wiesen, aber auch im Wald, wo die „Könige der Wälder“ optimal getarnt sind.
Benjamin Brunner ist es inzwischen gewohnt, sich auf Spurensuche zu begeben. Der Biolandwirt hat sein Land für das Wiederansiedlungsprojekt zur Verfügung gestellt. Regelmäßig kontrolliert er den Gesundheitszustand der Tiere – bewaffnet mit Peilantenne und viel Geduld. „Sie sind nicht einfach zu finden, wenn sie sich versteckt haben“, schmunzelt er. Auch an diesem Tag folgt er den Wisenten lange, über Stock und Stein. Und plötzlich sind sie da: Mitten auf dem Waldweg liegend schauen sie die Besucher an. Wilde Rinder, wie sie einst hier lebten und künftig wieder im Jura leben sollen – zumindest wenn es nach Projektinitiator Darius Weber geht.
Ganz neu ist die Idee nicht: Seit 1923 gibt es ein Zuchtprogramm, um den Wisent, in freier Wildbahn gänzlich ausgerottet, wieder zu fördern. 1952 wurden die ersten Tiere in Polen ausgewildert. Heute leben dort, im Nationalpark Bialowieza, wieder etliche Tiere. Weber besuchte den Nationalpark. Eigentlich wollte der Wildtierbiologe dort Wölfe beobachten. Stattdessen stand er plötzlich vor Wisenten. Und er ist fasziniert: von der Größe und der Ruhe der Tiere. Von der Selbstverständlichkeit, mit der sie da sind. Die Projektidee ist geboren: Der Wisent soll auch in seine frühere Heimat, die Schweiz, zurückkehren.
Mit der Idee stößt Darius Weber nicht nur auf Begeisterung. Vor allem Landwirte befürchten große Schäden durch die Tiere und auch die Tourismusbranche ist mehr als skeptisch. Was, wenn die Tiere auf Wanderer losgehen? Darius Weber relativiert die Bedenken: „Wisente sind viel unproblematischere Tiere als zum Beispiel Wildsäue, die auch hier leben.“ Dennoch ist ihnen mit Respekt zu begegnen. Abstand halten ist die Devise. Im Gehege dürfen sich Menschen den Tieren nur auf maximal 50 m nähern. „Es ist wie mit Haustieren auch“, meint Landwirt Benjamin Brunner. „Wenn ich ein Tier nicht kenne, habe ich Respekt und fasse es nicht einfach an.“
1Es sind Menschen wie Brunner, die sich für das neue Projekt begeistern lassen. Schnell wird aus dem vagen Gedanken ein Projekt. 2017 wird ein Verein gegründet: Wisent im Thal. Otto Holzgang wird Projektleiter, er steuert die wissenschaftliche Projektforschung und sorgt für den Austausch mit anderen Wiederansiedlungsprojekten und Forschungseinrichtungen. Benjamin Brunner wird der erste Wisent-Ranger. Das erklärte Ziel: Das Team will herausfinden, ob Wisente als Wildtiere im Jura leben können und ob sie tragbar sind.
Bevor es an die Auswilderung geht, ist vieles zu bedenken. „Da ist ein Haufen Leute, die dafür gearbeitet haben, dass das möglich ist“, betont Initiator Darius Weber. Das Team informiert sich umfassend, wägt potenzielle Probleme ab und nimmt die Sorgen der Landwirte und Anwohnenden in die Planung mit auf. Schließlich steht das Konzept: In mehreren Stufen soll die Auswilderung stattfinden. Erst mit einer kleinen Testherde auf 50 ha, nach einer Eingewöhnungsphase auf der doppelten Fläche. Schließlich sollen in Phase 3 die Zäune abgebaut werden. Nur eine kleine Herde soll im ursprünglichen Gelände, das dann als Schaugelände für Interessierte dienen soll, bleiben.
Nicht zuletzt braucht es noch das wesentliche Element der Wiederansiedlung: die Wisente selbst. Das Projektteam hat Glück. Der Wildnispark Zürich stellt die Testherde zur Verfügung. Die Tiere sind in Absprache mit dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm aus verschiedenen Herden in Europa zusammengestellt. So kann gewährleistet werden, dass der genetische Pool möglichst vielfältig ist. Das Schweizer Projekt ist damit auch wichtiger Teil des Erhaltungszuchtprogramms, um das Überleben der beinahe ausgerotteten Wisente zu sichern.
Günstig ist das Vorhaben nicht – allein der 4 km lange Zaun, teils elektrisch (3 Litzen / 2,8 km) und teils semipermeabel (Drahtseile / 1,2 km), ist kostenintensiv, ebenso die Betreuung und Verwaltung des ganzen Projekts. Insgesamt ist ein Budget von 3,9 Mio. CHF veranschlagt. Finanziert wird das Ganze durch die Einnahmen des Vereins – in erster Linie durch Stiftungen, Spenden und Legate, aber auch die angebotenen Führungen und Souvenirs – und über Drittmittel. Die Tiere werden diese Schritte mitmachen, da ist sich das Team sicher. „Wir wissen aus anderen Ländern, dass es funktioniert“, erklärt Brunner. „Die Frage ist, ob es mit den Menschen funktioniert. Das ist der Knackpunkt.“
Wir wissen aus anderen Ländern, dass es funktioniert. Benjamin Brunner
Das Projektteam investiert deshalb viel Zeit, um Sorgen und Ängste abzubauen. Regelmäßig werden Wisent-Führungen angeboten, bei denen Gruppen die halbwilden Tiere kennenlernen können. Die Resonanz ist nicht einmal ein Jahr nach der Auswilderung der ersten fünf Tiere so groß, dass Guides eingestellt wurden. Unter ihnen ist Janick Ehrsam, seines Zeichens Redakteur bei dergartenbau in der Schweiz. „Die Buchungen wären für Benjamin Brunner und Otto Holzgang allein nicht mehr zu bewältigen gewesen“, erzählt er. Ehrsam ist zufällig auf das Projekt gestoßen und war hellauf begeistert. Nach einer Kurzausbildung durch den Verein ist er nun mittendrin und gibt Interessierten einen Einblick in das Leben der wilden Rinder. Meist übernimmt er etwa zwei Führungen im Monat. „Das sind ganz bunt gemischte Truppen“, stellt er fest. „Firmenausflüge, Vereine oder einfach Familien – da ist alles dabei.“ Jeder Guide kann bis zu 15 Personen über die Weide führen; bis zu 45 Interessierte können bei einer Tour dabei sein. „Die Wisente haben sich total an die Menschen gewöhnt, sie machen ihrem Ruf als sanfte Riesen alle Ehre“, freut sich Ehrsam.
Ein Bedenken konnte der Verein jedoch noch nicht zur Gänze aus dem Weg räumen: Was ist mit den Schäden, die die Wisente eventuell anrichten? Holzgang und sein Team haben auch dafür eine Lösung: Sie haben ein zehnjähriges Schadensmonitoring auf die Beine gestellt. Schäden werden dokumentiert, im Schadensfall trägt der Verein die entstandenen Kosten.
Die Wisente machen ihrem Ruf als sanfte Riesen alle Ehre. Janick Ehrsam
Den fünf Wisenten ist der Trubel um sie recht egal. Seit ihrem Einzug im September 2022 erkunden sie ihre neue Heimat im Kanton Solothurn – so viel Wald kannten die Tiere bisher nicht! Es dauerte eine Weile, bis sie die neuen Habitatstrukturen auch annahmen. Inzwischen haben sie sich gut eingelebt – im Juli 2023 kam bereits der erste Nachwuchs auf die Welt: das erste Wisentkalb im Solothurner Jura seit 1.000 Jahren. Für das Wiederansiedlungsprojekt doppeltes Glück: Das Kalb ist weiblich. Das ist für die kleine Herde zurzeit günstiger, da ein männliches Tier früher oder später seinem Vater Konkurrenz machen würde – allein zur Verhinderung von Inzucht muss das vermieden werden.
2Wie wird es nun weitergehen? „Die Menschen werden sich an den Wisent gewöhnen“, da ist sich Darius Weber sicher. Und irgendwann einmal wird der König der Wälder vielleicht wieder ganz wild durch die Schweizer Wiesen und Wälder ziehen …
- Projektlaufzeit: 2017–2032
- Projektleitung: Otto Holzgang
- Projektgebiet: Kanton Solothurn, Schweiz
- Finanzierungsumfang: ca. 3,9 Millionen CHF
- Finanzierung: Drittmittel und Unterstützungsverein, begleitete Führungen und Betrieb des Schaugeheges
Verein Wisent im Thal
Sollmatt 74
CH-4716 Welschenrohr
www.wisent-thal.ch
E-Mail: info@wisent-thal.ch
Telefon: + 41 (0)41 560 13 03
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