Landschaftspflege mit Biss
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Es ist Freitagmorgen, kurz nach 8 Uhr. Eine junge Frau erwartet mich am Bahnhof. Sie ist zweckmäßig gekleidet: dunkle, kurze Hosen, graues T-Shirt und Weste. Mit lässiger Handbewegung streicht sie ihr kurzes, dunkles Haar zurück, ihr Blick geht suchend durch die wenigen Reisenden, die hier ausgestiegen sind. Die Frau ist Susanne Graul und sie nimmt mich heute mit zu den Weideflächen, die der NABU Halle pflegt.
Susanne Graul kommt eigentlich aus der Geisteswissenschaft und hatte mit dem NABU ursprünglich gar keine Berührungspunkte. Damals musste sie für die Uni noch ein paar Credits aufbringen, und sammelte diese während des Freiwilligendienstes beim Naturschutzbund. Die Arbeit mit den Tieren begeisterte sie und öffnete ihr gänzlich neue berufliche Möglichkeiten.
Inzwischen ist sie angestellt für das Projekt „Landschaftspflege mit Biss“. Gemeinsam mit vier Kollegen betreut sie die 86-köpfige Schafherde, unter anderem Skudden, Merinolandschafe, Coburger Fuchsschafe, Gotlandschafe und Nolanaschafe. Eine bunte Mischung aus „Second-Hand-Schafen“. Denn die meisten Tiere stammen aus Privathaltung, aus wissenschaftlichen Projekten oder wurden aus anderen Gründen an den NABU abgegeben.
Die junge Teilzeitschäferin nimmt mich mit zum Schaftransporter, einem weißen Renault-Kastenwagen mit Allradantrieb, unschwer erkennbar an dem bunten Aufdruck. Mit ihm fahren wir zu einer der Weideflächen, wo wir den Projektleiter Jens Stolle treffen werden. Stolle ist Diplombiologe und arbeitet ehrenamtlich für den NABU. Auf der Weidefläche veranstaltet er an diesem Tag mit einigen Fachkollegen den Geo-Tag der Natur. Sie wollen damit Schülern die Artenvielfalt der Magerrasen näherbringen. Die Schüler einer fünften Klasse eines nahe gelegenen Gymnasiums dürfen hier an diesem Tag Insekten fangen und bestimmen. Ihre Ergebnisse fließen in das Artenmonitoring für die Fläche ein.
Der Geo-Tag ist ein wesentlicher Teil der Öffentlichkeitsarbeit des NABU Halle. Projektleiter Jens Stolle legt großen Wert darauf, den jungen Menschen die Bedeutung dieser Lebensräume näherzubringen. Er selbst war schon als Zwölfjähriger mit dem Fahrrad unterwegs und hat Arten gesucht und bestimmt. Diese Begeisterung will er auch in den Schülern wecken. Gerade die mageren Standorte mit ihrer Artenvielfalt faszinieren ihn. In den 2000ern griff er schließlich die Idee von Dr. Volker Schmidt, dem vorherigen langjährigen Vorsitzenden des NABU Halle, auf: „Man müsste doch eine mobile Eingreiftruppe haben, eine Schafherde, die die Schatzkästchen mit den botanischen Highlights pflegt.“ Als es schließlich möglich wurde, solche Maßnahmen zu 100 Prozent zu fördern, ergriff er die Initiative. Er rief das Projekt „Landschaftspflege mit Biss“ ins Leben und schließlich konnte der NABU Halle im September 2009 40 Schafe anschaffen. Mit dieser Herde konnten nun Splitterflächen zwischen 0,2 und 2 Hektar beweidet werden.
Susanne Graul und ich verlassen derweil die Schüler, die inzwischen begeistert mit kleinen Gläsern unterwegs sind, um Schmetterlinge, Heuschrecken und andere Insekten zu fangen. Wir fahren stattdessen zu einer von inzwischen zwei Herden des NABU. „Die Öffentlichkeitsarbeit finde ich klasse, weil man so an jeden Typ Mensch herankommt und manchen vielleicht auch zum Umdenken bewegen kann“, erzählt mir die junge Frau unterwegs. „Aber das Wohl der Tiere hat für mich die oberste Priorität.“ Die Begeisterung für die Schafe motiviert sie dazu, sich im Projekt sehr zu engagieren – teilweise auch ehrenamtlich, da ihre Stundenzahl längst nicht ausreicht. „Die Schafe sind die Nummer eins“, das betont sie immer wieder.
Versorgung der Herde
Über schmale, holprige Pfade gelangen wir schließlich in die Nähe der Weidefläche. Von dort aus geht es weiter mit der Schubkarre. Die Tiere wollen schließlich versorgt werden. 30-Liter-Kanister mit Wasser, eine Batterie für den Zaun und ein paar trockene Brotschreiben – mehr braucht es an diesem Tag nicht. An der Weidefläche angekommen, erkennen die Tiere Susanne Graul sofort. Neugierig schauen sie auf, und sobald sie ruft und pfeift, kommen die Tiere auch zu ihr. Zuerst ein kurzer Gruppencheck: Sind alle Tiere gesund? Da muss Graul natürlich nah an die Schafe heran. Etwas Brot und ein paar Streicheleinheiten helfen, das Vertrauen aufzubauen. Dann versorgt sie die Tiere, sorgt für frisches Wasser, schließt den Elektrozaun an und entfernt dornige Äste aus dem Fell der Schafe. Diese Arbeit teilt sie sich mit vier anderen Mitarbeitern des NABU. Insgesamt arbeiten sie auf 2,5 Stellen. „Natürlich sind wir 365 Tage im Jahr draußen“, erklärt sie mir. Dazu gehören Feiertage und Sonntage genauso wie Tage mit schlechtem Wetter. Sie teilen sich unkompliziert und fair die Wochenend- und Feiertagsdienste auf – jeder muss mal ran.
Nach dem Versorgen der Tiere geht es für uns zurück zu Jens Stolle, der gerade die Schulklasse verabschiedet. Er zeigt mir noch weitere Weideflächen, die mit den NABU-Schafen gepflegt werden. Schnell wird dabei klar: Die Flächen liegen oft weit auseinander; manchmal liegen Bahnlinien oder Bundesstraßen dazwischen. Der Transport der Tiere geht deshalb auch nur mit dem Transporter. Bei kürzeren Abständen zwischen den Flächen werden die Tiere aber auch von Weide zu Weide getrieben.
Flächenentwicklung
Seit dem Projektstart 2009 hat sich die Flächenanzahl enorm vergrößert. Inzwischen beweiden die Schafe der Naturschutzbundes zirka 50 Flächen mit einer Gesamtgröße von 50 Hektar. Es handelt sich dabei überwiegend um sehr magere Bereiche, manchmal über Sandstein oder Kalkstein meistens aber auf Rhyolith mit äußerst geringer Bodenauflage, die hier als flache Kuppen charakteristisch aus der sonst flachen Landschaft ragen. „‚Rhyolith‘ ist der geologisch korrekte Begriff für die im Norden von Halle vielfach anstehende Festgesteinsart“, erläutert Stolle. „Dies ist aber erst seit wenigen Jahrzehnten geklärt; für dasselbe Gestein hat sich der Begriff ‚Porphyr‘ eingebürgert; daher auch die Porphyrkuppenlandschaft.“ Daneben zählen auch einzelne Streuobstwiesen zu den Weideflächen. Sie sind oft nährstoffreicher und haben eine größere Bodenauflage.
Viele der Flächen werden erst seit wenigen Jahren von Jens Stolle und seinem Team gepflegt. Er arbeitet also noch daran, diese Weiden aufzuwerten, denn das steht bei ihm immer im Fokus. „Es gibt hier Flächen, auf denen man immer noch botanische Highlights findet“, erklärt er. „Die hat man natürlich auf dem Schirm bei der Pflege.“ Aber insgesamt geht es Stolle vor allem um den Lebensraum, um die Artenvielfalt, die dort zu finden ist. „Die wollen wir mit dem Projekt erhalten und verbessern.“
Natürlich gibt es dabei auch Rückschläge. Vor allem der trockene Sommer 2018 hat den Flächen sehr zugesetzt, sogar Steppengräser wie der Walliser Schwingel sind vielfach abgestorben. In die Lücken drängten dann nach dem feuchten und milden Winter viele einjährige Arten, wie Taube Trespe, Melde und Ackerveilchen. Mit diesem Zustand ist Jens Stolle nicht glücklich, aber er setzt darauf, dass mit kontinuierlicher Pflege die Flächen dauerhaft verbessert werden können. Ähnlich schwierig sieht er die Lage auf den nährstoffreicheren Streuobstwiesen – das betrifft zwei der vier Obstwiesen, die der NABU derzeit pflegt. Hier dominieren Brennnesseln und andere stickstoffliebende Arten. Er sieht den Zustand der Wiesen realistisch. „Wir konnten hier schon viel erreichen. Aber einen mageren Standort werden wir hier wohl nie erzielen.“ Die Fläche und ihr Baumbestand stellen die Mitarbeiter des NABU auch vor ganz andere Herausforderungen. „Unsere Schafe sind sehr terroristisch gegenüber Apfelbäumen“, lacht Stolle. Sie fressen die Rinde mit Begeisterung an – bis zum Absterben der Bäume. Regelmäßig waren Nachpflanzungen notwendig. „Da haben wir viel Lehrgeld gezahlt“, gibt Stolle zu. „Im Endeffekt hilft nur Maschendraht, um die Tiere abzuhalten.“
Trotz dieser Schwierigkeiten: Jens Stolle ist davon überzeugt, dass sein Beweidungskonzept hilft, die Flächen dauerhaft zu verbessern. Einige Erfolge konnte er auch schon erzielen. So hat sich das Vorkommen vonOrchis morio in einer der Weiden innerhalb von wenigen Jahren in etwa verzehnfacht.
Solche Erfolge, aber ebenso die Misserfolge, werden dokumentiert durch das Monitoring, das das Projekt begleitet. Dabei wird an festgelegten Fotopunkten regelmäßig der Zustand der Flächen festgehalten. Daneben werden auch Deckung, Streu und Aufwuchs erfasst. Auf einigen Flächen finden auch faunistische Erfassungen statt, beispielsweise zu Spinnen, Laufkäfern oder Tagfaltern. Außerdem wird eine Gesamtartenliste geführt und bestimmte Arten werden gesondert gezählt, unter anderemOrchis morio undAdonis vernalis .
Persönliche Vorlieben
Ob er selbst eine Lieblingsart hat? Stolle zögert. Eigentlich geht es ihm nicht um einzelne Arten, sondern um den Lebensraum als solchen, den er mit der Beweidung erhalten kann. Ihn freut es sehr, wenn er draußen sein kann, auch mit den Schafen oder auch bei der manuellen Nachpflege der Flächen mit dem Freischneider, wo er auch selbst tatkräftig mit anpackt. Denn ein ebenso wichtiges Aufgabenfeld sind eher die Bürotätigkeiten: die Organisation der Projekts. Die größte Herausforderung ist dabei für ihn und seine Mitstreiter, immer wieder Fördergelder einzuholen, denn nur ein kleiner Teil der Flächen wird über Werkverträge gepflegt. Für alle anderen muss der NABU selbst für eine Finanzierung sorgen.
Dabei hat sich inzwischen ein Mix mehrerer Fördergeldquellen ergeben, sodass neben dem Aufwand für die Beantragung auch penibel auf den Ausschluss von Doppelförderung geachtet werden muss. Neben der Teilnahme an für die in diesen Fällen bisher meist nicht auskömmlichen Agrarumweltprogrammen des Landes Sachsen-Anhalt spielen ELER-Mittel eine wesentliche Rolle. Zuletzt wurden die über ELER geförderten Projektteile in eine GAK-basierte Förderung überführt. Nicht zuletzt waren mehrere in der Vorbereitung durchaus aufwendige Antragstellungen erfolglos, zum Beispiel beim Bundesprogramm Biologische Vielfalt.
Als letzte Station auf unserem Weg bringt mich Jens Stolle auf eine Porphyrkuppe, auf die er besonders stolz ist. Schon von Weitem sehen wir die Astlose Graslilie (Anthericum liliago ), die hier gerade in voller Blüte steht. Im Näherkommen entdecken wir die Schmalblütige Traubenhyazinthe (Muscari tenuiflorum ), abgeblühte Reste vom Kleinen Knabenkraut (Orchis morio ), Blätter von Küchenschellen (Pulsatilla vulgaris ). Besonders hebt er das Vorkommen vonBiscutella laevigata subsp.tenuifolia hervor. Diese Unterart des Brillenschötchens gilt als endemisch im östlichen Mitteleuropa. Die Vorkommen können als Eiszeitrelikte angesehen werden, wobei sich die Unterart der ansonsten alpin verbreiteten Art wohl erst nacheiszeitlich entwickelt hat. Stolle freut sich sehr, dass er mit seiner Arbeit dazu beitragen kann, dass diese Besonderheit in Deutschland nicht ausstirbt. Doch er betont: Er freut sich vor allem an den Lebensräumen, die er im Projekt offenhalten kann.
So ganz nimmt man ihm diese Aussage aber nicht ab, wenn man sieht, wie gründlich er nach einzelnen Arten Ausschau halt und seine Begeisterung, als erTrifolium retusum , den Kleinblütigen Klee, auf einem Trampelpfad entdeckt. Die Art ist vom Aussterben bedroht. Nur noch vier Standorte existieren von der Art in ganz Deutschland, erzählt er mir. Alle in Halle und im Saalekreis. Der winzige Klee ist eigentlich sehr unauffällig, Stolle selbst bezeichnet ihn sogar als „hässlich“. Trotzdem ist er begeistert, ihn hier, auf einer „seiner“ Flächen, zu finden.
Solche Momente sind eine Belohnung für die ehrenamtliche Arbeit und die ständige Kommunikation mit Behörden und Landwirten, auf deren Kompromissbereitschaft und Zusammenarbeit das Team angewiesen ist.
Projektdaten
- Projektträger: NABU Halle
- Projektleiter: Jens Stolle
- Flächengröße: 50 ha auf etwa 50 Teilflächen
- Lebensraumtypen: 4030, 6110*, 6210, 6210*, 6240*, 6510, 8230
- Förderung: GAK-Mittel, Freiwillige Naturschutzleistungen (Sachsen-Anhalt), Direktzahlungen, Artensofortprogramm des Landes Sachsen-Anhalt; in der Vergangenheit mehrfach nach Naturschutz-RL Sachsen-Anhalt (ELER) sowie einmalig KommunalKombi (ESF)
- Finanzierungsumfang: ca. 90.000 €/Jahr
Philosophie
In Halle gibt es viele Offenlandflächen, auf denen absehbar ist, dass sie sich ohne Pflege weiter verschlechtern würden. Da musste eine tragfähige Lösung her, nämlich Beweidung.
Weitere Infos
- Homepage: http://www.landschaftspflege-mit-biss.de/
- Twitter: „Landschaftspflege mit Biss“ twittert als @NabuHalle
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