
Baden-Württemberg fördert den Artenreichtum
Seit 2015 engagiert sich der NABU Baden-Württemberg im vom Land Baden-Württemberg geförderten Kooperationsprojekt „Natur nah dran“ für mehr Biodiversität im Siedlungsraum – inzwischen sogar im Folgeprojekt „Natur nah dran 2.0“, das noch bis 2027 läuft. Projektleiter Martin Klatt hat uns gemeinsam mit den Vertretern der Projektkommunen Sinzheim und Herrenberg das aktuelle Projekt vorgestellt.
von Julia Bächtle erschienen am 01.07.2025Es ist ein kühler Morgen Mitte September. Noch ist nicht viel los in der Fußgängerzone. Nur an den Beeten vor dem Rathaus herrscht geschäftiges Treiben: Die Gärtnerinnen und Gärtner der Stadt entfernen die Zinnien, Begonien und Löwenmäulchen, die hier – wie seit Jahrzehnten schon – während des Sommers für bunte Farbtupfer sorgen.
Neben ihnen stehen bereits die neuen Pflanzen bereit, die anstelle der Frühblüher die Beete zieren sollen. In den schwarzen, zweckmäßigen Kisten drängen sich aber nicht wie in den vergangenen Jahren Chrysanthemen, Zierkohl und Besenheide. Etwas ist anders: In diesem Jahr stapeln sich hier verschiedene grüne Blattrosetten – was hat die Gärtnerei denn hier geliefert? Ist das etwa Löwenzahn in der Kiste dort drüben?! Doch eine der städtischen Mitarbeiterinnen beruhigt: Die grüne Rosette ist die der Wegwarte, die hier mit ihren blauen Blüten den Marktplatz schmücken soll. Sie zeigt interessierten Passanten gerne das Unterscheidungsmerkmal: Die Wegwarte hat eine behaarte Blattunterseite. Die des Löwenzahns, dessen Blätter so ähnlich erscheinen, ist glatt.

Was hier und in zahlreichen anderen Kommunen in Baden-Württemberg gerade vor sich geht, ist ein weiterer Schritt im Projekt „Natur nah dran“. Mit diesem Projekt bringt der NABU Baden-Württemberg heimische Pflanzen in die Kommunen des Landes: Der Wechselflor weicht, an seiner statt dürfen hier nun Wegwarte, Tauben-Skabiosen, Natternkopf und Co. für neue Blütenvielfalt sorgen.
Wieso der Wandel? Projektleiter Martin Klatt vom NABU erklärt: „Heimische Arten sind die optimale Nahrung für Insekten. Wir wollen den Lebensraum schaffen, der im Siedlungsbereich dringend notwendig ist! Wir brauchen eine vitale Bestäubergemeinschaft!“ 2015 hat das Land Baden-Württemberg den NABU deshalb beauftragt, Kommunen, die mehr Biodiversität schaffen möchten, zu unterstützen. Das geschieht zum einen mit finanziellen Mitteln, zum anderen aber vor allem durch fachliche Begleitung und Fortbildung der Mitarbeitenden. „Die Resonanz war so gut, dass wir ein Folgeprojekt beantragt haben, das dann vom Land ins Leben gerufen wurde“, berichtet Klatt erfreut.
Seit 2021 läuft dieses Folgeprojekt nun: „Natur nah dran 2.0“. Jedes Jahr werden 15 Kommunen gefördert. Diese müssen sich vorab bewerben; eine Jury aus Vertretungen des Umweltministeriums, des NABU, sowie des Städtetages und des Gemeindetages Baden-Württemberg entscheidet, welche Städte und Gemeinden zum Zug kommen. Für jede Projektkommune startet das Förderungsjahr mit neuem Wissen: Bevor sich das Aussehen des städtischen Grüns verändern kann, werden die Mitarbeitenden umfangreich geschult: Pflanzenwissen steht ebenso auf dem Programm wie die Pflege extensiven Grüns. „Die Schulung ist wichtig“, betont Klatt. „Das gärtnerische Personal lernt das nicht in der Ausbildung.“ Wer jetzt befürchtet, den ganzen Tag in einem Seminarraum zu versauern, liegt falsch: Die Weiterbildung erfolgt praxisnah und findet zu einem guten Teil draußen an Beispielflächen statt. Es ist eine Schulung auf Augenhöhe – und das kommt an. „Die Kolleginnen und Kollegen empfanden es als große Bereicherung, sich vom NABU-Team und den Naturgartenexperten fortbilden zu lassen“, freut sich zum Beispiel Lukas Herbrich von der Gemeinde Sinzheim, die seit 2022 beim Projekt dabei ist.
Außer der Schulung für die Mitarbeitenden bekommt jede Projektkommune Hilfe bei der Planung: Expertinnen und Experten besuchen die Städte und Gemeinden und bringen jahrelanges Erfahrungswissen aus dem Naturgartenbereich mit. Gemeinsam mit den Entscheidenden vor Ort entwickeln sie die Planungen: Welche Flächen kommen in Frage? Wie kann die Umgestaltung aussehen?
Diese können ganz unterschiedlich ausfallen. Wechselflor kann durch mehrjährige Pflanzungen mit heimischen Stauden ersetzt werden, Rasenflächen durch artenreiche Wiesen, Verkehrsbegleitgrün durch extensive Wildstaudenbeete.
Hier hört es aber nicht auf: Auch Habitate für Insekten und Reptilien sind möglich. Lukas Herbrich gibt ein Beispiel: Bei Pflegemaßnahmen fiel in Sinzheim einiges an Totholz an. Statt es abzutransportieren und zu entsorgen, bezog die Gemeinde es in die Umgestaltung mit ein, schaffte Totholzhabitate. Zusätzlich entstanden Sandlinsen und Steinhaufen, umgeben von Königskerzen, Natternkopf und zahlreichen anderen Wildpflanzen. Wo vorher eine langweilige Rasenfläche, umsäumt von einer ebenso langweiligen Berberitzenhecke, alle zwei Wochen gemäht werden musste, fliegen nun Natternkopf-Mauerbienen und andere Insekten von Blüte zu Blüte.
1Auch in Herrenberg – seit 2023 ebenfalls Projektkommune – verändert sich das Stadtbild durch „Natur nah dran“. Christoph Stotz, Leiter der Abteilung Grün beim Amt für Technik in Herrenberg, gibt einen Einblick: „Wir haben sechs öffentliche Flächen insektenfreundlich umgestaltet.“ Insgesamt wurden 17.350 Blumenzwiebeln gesteckt und 595 Wildstauden gepflanzt, außerdem Rosen und andere Wildgehölze. Er begeistert sich sehr dafür, wie sich die Flächen bereits in kurzer Zeit verändert haben: „Besonders toll ist es, wenn man sieht, wie gleich mehrere Bienen an einer Nickenden Distel oder einem Kopflauch Pollen sammeln – das sind echte Insektenweiden.“
Flächen wie diese haben in Sinzheim und Herrenberg noch einen weiteren Zweck: Sie sollen den Bürgern zeigen, was auch auf kleinen Flächen – nämlich in ihrem eigenen Garten – möglich ist. Dass das bei den ersten gut funktioniert, konnte Herbrich in Sinzheim live miterleben: Bei einem seiner regelmäßigen Besuche an der Fläche kam er ins Gespräch mit einer Anwohnerin, die gerade an den Wildpflanzen Samen für ihren eigenen Garten erntete.
Nicht immer zeigen die Menschen so viel Begeisterung für die „Natur nah dran“-Flächen. Diese Erfahrung hat auch Christoph Stotz gemacht. „Die Reaktionen waren nicht immer positiv, weil sich das Bild verändert. Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit wichtig!“ Das geschieht über Berichte, Zeitungsartikel, Social Media und Infotafeln an den Flächen. Außerdem stellt der NABU ein umfangreiches Paket an Materialien zur Verfügung – auch nach Ende der Förderung.
Die Gemeinde Sinzheim geht auch aktiv auf die Menschen zu – mit kostenlosen Samentütchen beispielsweise, oder auch mit Gestaltungsbeispielen für Kübelpflanzungen: Beim jährlichen Klimamarkt zeigen die Gemeindegärtner im direkten Vergleich, dass ein Arrangement mit Wechselflor zwar hübsch ist, die heimischen Stauden den Ziersorten aber in nichts nachstehen.
Trotzdem braucht es immer seine Zeit, bis die Menschen sich an das neue Erscheinungsbild gewöhnt haben. „Die Menschen erwarten das gewohnte Bild“, stellt Martin Klatt fest. „Der notwendige Perspektivwechsel braucht Zeit.“ In vielen Kommunen sei das Umdenken aber bereits in vielen Köpfen angekommen. „Man muss immer weniger erklären. Das Bewusstsein wächst.“

Um diesen Perspektivwechsel schneller zu erreichen, binden viele Städte und Gemeinden im Projekt auch Schulen und Kindergärten ein. Nicht nur werden auch dort Flächen umgestaltet: Der NABU hat auch Schablonen von Tieren und Pflanzen entwickelt, die von Kindern ausgeschnitten und bemalt werden können. Die selbstgebastelte „Natur“ kann dann an die Projektflächen gesteckt werden. „Die Leute sehen das dann viel mehr als ‚ihre‘ Flächen an“, freut sich Klatt.
In Herrenberg geht man in der Bürgerbeteiligung sogar noch einen Schritt weiter: Hier können die Menschen aktiv Flächen vorschlagen, die umgestaltet werden sollen. Möglich ist das im „Schadensmelder“ der Stadt – einer App, dank der die Bürgerinnen und Bürger einen direkten Draht zur Verwaltung haben. „Unser Konzept für die Pflege beinhaltet zu drei Viertel die Wünsche der Bevölkerung!“, betont Christoph Stotz. Sinzheim und Herrenberg sind nur zwei Beispiele für inzwischen über 100 Kommunen in Baden-Württemberg, die mit dem Projekt deutlich an urbaner Biodiversität gewonnen haben. Insgesamt konnten bis heute nahezu 265.000?m² an innerörtlichen Grünflächen naturnah umgestaltet werden. Das entspricht in etwa 37 Fußballfeldern. Dabei ist die anderthalbjährige Förderperiode immer nur ein erster Impuls. Deutlich wird das sowohl in Herrenberg als auch in Sinzheim: Beide Projektverantwortlichen berichten auch im Jahr 2025 von weiteren Flächen, die die Gärtnerinnen und Gärtner in den nächsten Monaten neu gestalten werden.
Jahr für Jahr wandelt sich so das Stadtbild spürbar – und Insekten bekommen neuen Lebensraum. Das ist eindeutig der Fall: Auf den Projektflächen summt und brummt es hörbar; und dank der angepassten Pflege kann der Bienen- und Schmetterlingsnachwuchs auch im städtischen Grün überwintern. Ein Monitoring, das den Erfolg für die Biodiversität belegt, gibt es standardmäßig momentan nicht. In Einzelfällen wurden allerdings Bestandsaufnahmen von Wildbienen auf umgestalteten Flächen durchgeführt und der Erfolg der Maßnahmen bestätigt.
Über 12?% der baden-württembergischen Kommunen wird „Natur nah dran“ zum Ende der zweiten Projektstaffel 2027 zu mehr Biodiversität im Siedlungsbereich verholfen haben. Martin Klatts Vision geht aber noch viel weiter: „Ich möchte, dass wir nicht mehr erklären müssen, wieso unsere Flächen so aussehen, wie sie aussehen. Ich möchte, dass andere erklären müssen, wieso ihre Flächen nicht so aussehen!“
- Name: Natur nah dran 2.0
- Laufzeit: 2021–2027
- Projektleitung: Martin Klatt (NABU)
- Projektziel: Förderung der Biodiversität auf kommunalen Flächen
- Förderung durch: Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg
- Finanzierungsumfang: Die maximale Förderung liegt bei 15.000?€ pro Gemeinde bei einer Förderquote von 50?%.
NABU Baden-Württemberg
Tübinger Straße 15
70178 Stuttgart
Telefon 0711/9 66 72-0
Martin.Klatt@NABU-BW.de
www.naturnahdran.de
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