Habitatansprüche von gefährdeten Heuschreckenarten alpiner Flussökosysteme
Abstracts
Wir untersuchten die Habitatansprüche der vier in Deutschland und Österreich gefährdeten Heuschreckenarten Gefleckte Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata), Kiesbank-Grashüpfer (Chorthippus pullus), Türks Dornschrecke (Tetrix tuerki) und Rotflügelige Schnarrschrecke (Psophus stridulus) an einem alpinen Flusslauf. Untersuchungsgebiet ist ein naturnaher, vom weiteren Flussverlauf isolierter Abschnitt des durch Kalkschotter geprägten Rißbachs in Tirol (Österreich) im Naturpark Karwendel. Auf 23 Probeflächen entlang des naturnahen Flussabschnitts wurden sowohl Zählungen der Heuschecken als auch Vegetationserhebungen durchgeführt, mit einem Schwerpunkt auf den Fauna-Flora-Habitat-(FFH-)Lebensraumtypen alpiner Flüsse. Die faunistischen Ergebnisse wurden mit verschiedenen Standortparametern der Vegetation, des Substrats und der exakten Lage der Probeflächen in der Flussaue mittels Regressionsanalyse in Verbindung gebracht. Hieraus werden die artspezifischen Habitatansprüche abgeleitet. Die Gefleckte Schnarrschrecke, der Kiesbank-Grashüpfer und Türks Dornschrecke bevorzugen frühe Sukzessionsstadien beziehungsweise offene und spärlich mit Vegetation bewachsene Flächen, sind dort aber unterschiedlich eingenischt, während die Rotflügelige Schnarrschrecke in vergleichsweise dichten Vegetationsbeständen zu finden ist. Unsere Ergebnisse zeigen, dass auch isolierte Heuschreckenpopulationen längerfristig innerhalb ihres Habitatmosaiks überleben können, wenn eine natürliche Flussdynamik gewährleistet ist.
Habitat requirements of endangered orthoptera species in alpine river ecosystems – Management recommendations for species protection practice
We investigated the habitat requirements of four endangered grasshopper species on an alpine river course: Bryodemella tuberculata (speckled buzzing grasshopper), Chorthippus pullus (gravel bank grasshopper), Tetrix tuerki (alpine groundhopper), and Psophus stridulus (rattle grasshopper). The study area is a near-natural section of the Rißbach in Karwendel Nature Park (Tyrol, Austria), isolated from the lower river course and characterized by limestone gravel. At 23 sampling sites along the near-natural river section, individual counts of the grasshoppers and vegetation surveys were carried out with a focus on the habitat types of alpine rivers from the Habitats Directive. The faunistic results were correlated statistically with different site parameters of the vegetation, the substrate, and the location of the plots in the flood plain. From our results, the species-specific habitat requirements were derived. All four grasshopper species have specific habitat requirements on the gravel bars, which partly overlap but also exclude themselves (e.g. with regard to the succession stages and thus the total coverage of the vegetation). Our results show that even isolated grasshopper populations can survive within their habitat mosaic in the long term if natural river dynamics are ensured.
- Veröffentlicht am
1 Einleitung
Trotz der zahlreichen regionalen, nationalen und internationalen Initiativen zum Arten- und Biotopschutz scheint der weltweite Rückgang der Biodiversität auf den Ebenen der Arten, der Ökosysteme und der Landnutzungssysteme bis hin zu den Kulturlandschaften kaum gebremst. Der jüngste Bericht der internationalen wissenschaftlichen Kommission Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES 2019) zeichnet hierzu ein ernüchterndes Bild. In dem Bericht wird hervorgehoben, dass der anthropogen verursachte Rückgang der biologischen Vielfalt derzeit global ein Ausmaß erreicht hat wie in keiner Epoche der Menschheitsgeschichte zuvor. Hierbei werden, neben Umweltverschmutzung, biologischen Invasionen und dem Klimawandel, der Landnutzungswandel und die Intensivierung der Landnutzung unter Einsatz von Düngung und Pestiziden als wesentliche Ursachen benannt (vergleiche auch die aktuelle Rote Liste der Biotoptypen Deutschlands vonFincket al. 2017).
Kann der Artenrückgang auf den vom Menschen für Land- und Forstwirtschaft sowie für Siedlungen, Verkehr und Industrie genutzten Flächen nur zögerlich oder gar nicht aufgehalten werden (vgl.Zerbe2019 zu Ackerflächen), so wird der Arten- und Biotopschutz in ausgewiesenen Schutzgebieten, in denen die Nutzungspriorität auf dem Schutz der Arten, der Lebensgemeinschaften und der Kulturlandschaften liegt, umso wichtiger. Die nationalen Naturschutzgesetze und die FFH-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft (EU 2006) bieten hierzu einen Rahmen.
Möchte man auch den aufgeregten Terminologien wie beispielsweise der vom „Insektensterben“ nicht folgen, so ist dennoch hinreichend mit Fakten belegt, dass der allgemeine Artenrückgang ganz besonders die Insekten betrifft (Hallmannet al. 2017,Lister & Garcia2018,Sánchez-Bayo & Wyckhuys2019). Für Bienen als Flaggschiffarten, die für die landwirtschaftliche Produktion eine enorme Rolle spielen (Gallaiet al. 2009), wird dies in zunehmendem Maße von wissenschaftlicher Seite wie auch in der Öffentlichkeit thematisiert (zum BeispielGoulsonet al. 2015). Wir richten in unserer Studie das Augenmerk auf Heuschrecken in alpinen Flusshabitaten und verbinden damit die Umwelt- beziehungsweise Naturschutzthemen Insektenrückgang mit dem Rückgang naturnaher Flusslebensräume.
Insbesondere in den Alpen sind in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund von Wasserschutzbauten und Uferbefestigungen, dem Bau von Wasserkraftwerken zur Energiegewinnung, dem Abbau von Flussschotter und der Erweiterung von landwirtschaftlichen Nutzflächen und Siedlungen in den Tallagen immer mehr Flussabschnitte verschwunden, die noch eine natürliche Dynamik und ihre natürlichen Uferlebensräume aufweisen (vgl.Ellenberg & Leuschner2010). Hochwasser nach der Schneeschmelze oder nach Starkregen sowie natürliche Erosion und Sedimentation schaffen an natürlichen Flussläufen immer wieder neue Lebensräume oder lassen natürlicherweise entstandene Lebensräume wieder verschwinden. An diese dynamischen Lebensbedingungen sind bestimmte Pflanzen- (etwa die Deutsche Tamariske – Myricaria germanica ) und Tierarten besonders angepasst (Steinberget al. 1995). Aufgrund des Rückgangs solcher Habitate sind die noch bestehenden Populationen oft stark fragmentiert (Reich2006).
Wir untersuchten solche Spezialisten der alpinen Flussläufe in der Gruppe der Heuschrecken, namentlich die Gefleckte Schnarrschrecke Bryodemella tuberculata (Fabricius 1775), den Kiesbank-Grashüpfer Chorthippus pullus (Philippi 1830), Türks Dornschrecke Tetrix tuerki Krauss 1876 und die Rotflügelige Schnarrschrecke Psophus stridulus (L. 1758) und erweitern damit die bereits vorliegenden Kenntnisse über diese Arten. Beispielsweise ergaben Untersuchungen zur Nahrungspräferenz des Kiesbank-Grashüpfers an der Taugl (Salzkammergut, Österreich), dass dieser sich hauptsächlich von Süß- und Sauergräsern ernährt (Schwarz-Waubke1997a) und besonnte, steinige Standorte bevorzugt (Schwarz-Waubke1997b). Eine Betrachtung der Habitatansprüche des Kiesbank-Grashüpfers an der Isar und Loisach ergab, dass die Art besonders auf vegetationsarmen Bereichen und schlickigen Sandflächen sowie seltener in lichten Weidengebüschen und Grauerlenbeständen sowie lückigen Kalkmagerrasen gefunden werden konnte (Lemkeet al. 2010).
Die Gefleckte Schnarrschrecke wurde an der Isar in Bereichen der Kiesbänke mit einer mittleren Vegetationsdeckung von 50 % gefunden (Reich2006). Weitere Studien zu den Habitatpräferenzen und ökologischen Nischen der Heuschreckenfauna wurden auf den Flusskiesbänken in den spanischen Pyrenäen (Löffleret al. 2016), am Lech (Pfeuffer2007), an der Oberen Isar (Helbinget al. 2014) und am Schwarzwasserbach in Tirol (Pfeuffer2004) durchgeführt.
Für die in ihrem Bestand gefährdeten Heuschreckenarten sind Arten- und Habitatschutzbestrebungen besonders wichtig, da sie über ein nur begrenztes Ausbreitungsvermögen verfügen.
Wir untersuchten deshalb diese Heuschreckenarten, um
1. deren spezifische Habitatansprüche im Untersuchungsgebiet unter besonderer Berücksichtigung der entsprechenden FFH-Lebensraumtypen alpiner Flussläufe zu identifizieren und
2. die Populationen im Hinblick auf verschiedene Parameter zu charakterisieren.
Aus den Ergebnissen werden für diese Arten Managementempfehlungen abgeleitet, um die Populationen am Rißbach dauerhaft zu stabilisieren und zu schützen und Empfehlungen auch für andere Oberläufe alpiner Flüsse zu geben.
2 Untersuchungsgebiet
Der circa 30 km lange Rißbach ist in den nördlichen Kalkalpen in Tirol (Österreich) im Grenzgebiet zu Deutschland gelegen (Abb. 1 und Abb. 2). Er hat ein Einzugsgebiet von 216,6 km² (LfU Bayern 2016) und mündet in die Isar. Die mittlere Abflussmenge beträgt 82,1 m³/s (LfU Bayern 2019), wobei allerdings durch die Schneeschmelze oder bei Starkregen sehr große Schwankungen auftreten können. Das Rißtal ist Teil des bereits 1928 gegründeten Schutzgebietes und gehört heute zum Naturpark Karwendel, der eine Gesamtfläche von 727 km² umfasst. Der Naturpark, der sich in Höhenlagen von 560 m ü. NN im Inntal bis zu 2.749 m ü. NN mit dem Gipfel der Birkkarspitze erstreckt, zeichnet sich durch zahlreiche naturnahe Lebensgemeinschaften sowie einige europaweit bedeutsame Artenvorkommen aus. So kommen hier der Steinadler ( Aquila chrysaetos ), der Weißrückenspecht ( Dendrocopos leucotos ) und der Frauenschuh ( Cypripedium calceolus ) vor (Naturpark Karwendel 2018).
Das Rißtal weist aufgrund seiner exponierten Lage nördlich des Karwendelhauptkamms ein extremes Bergklima auf, mit häufig hohen Windgeschwindigkeiten, Tiefsttemperaturen im Winter bis zu -30 oC und Höchsttemperaturen im Sommer bis über +30 oC. Frost ist möglich von September bis Juni. Der mittlere Jahresniederschlag beträgt circa 1.600 mm (Tirol Atlas 2013). Die Verwitterung des Kalkgesteins führt zur Ansammlung von Kalkschotter im Flusslauf. Typisch für die Kalkschotter ist das Auftreten der sogenannten Alpenschwemmlinge, Pflanzen der Hochlagen, die mit dem Fluss in tiefere Lagen gespült werden und sich hier aufgrund der ähnlichen Standortbedingungen ansiedeln. Hierzu gehören die Pflanzenarten Zwerg-Glockenblume ( Campanula cochleariifolia ), Silberwurz ( Dryas octopetala ), Blaugrüner Steinbrech ( Saxifraga caesia ), Felsen-Leimkraut ( Atocion rupestre ) und das Alpen-Edelweiß ( Leontopodium alpinum ). Im Rißtal finden sich drei europaweit gefährdete Lebensraumtypen, namentlich die „Alpinen Flüsse mit krautiger Ufervegetation“ (FFH-Code 3220), die „Alpinen Flüsse mit Ufergehölzen von Myricaria germanica “ (FFH-Code 3230; Myricario-Chondrilletum chondrilloides Br.-Bl. in Volk 1939) und die „Alpinen Flüsse mit Ufergehölzen von Salix elaeagnos “ (FFH-Code 3240; Salici-Myricarietum Moor 1958 und Salicetum elaeagni Jeník 1955), für die in den vergangenen Jahrzehnten ein Rückgang verzeichnet worden ist (Ellmauer2005). In den Jahren 2012–2014 wurden entlang des Rißbachs Maßnahmen zur Flussrenaturierung durchgeführt, das heißt, an drei Abschnitten wurden künstliche Dammschüttungen zurückgebaut und eine Forststraße zurückverlegt und damit der Flusslauf erweitert (Sonntag & Zika2014). Da einige landwirtschaftliche Flächen direkt an den Fluss grenzen, wurde vom Naturpark eine Zäunung initiiert, welche die Betretung der Kiesbänke durch Nutztiere verhindern soll. Zudem stellt der Fluss bevorzugt für Menschen aus dem Großraum München im Sommer ein Erholungsgebiet dar und wird zum Kajakfahren, Fliegenfischen und Baden genutzt.
3 Kurzcharakteristik der untersuchten Heuschreckenarten
In Tab. 1 werden einige biologisch-ökologische Angaben zur Charakterisierung der vier untersuchten Heuschreckenarten (Abb. 3) gemacht. Demnach gehören Gefleckte Schnarrschrecke und Kiesbank-Grashüpfer zu den ausgesprochenen Habitatspezialisten, die im Alpenraum nur auf Kiesbänken der Flüsse mit spärlicher Vegetationsbedeckung vorkommen. Alle untersuchten Arten ernähren sich von Gräsern und Kräutern. Gefleckte Schnarrschrecke, Kiesbank-Grashüpfer und Türks Dornschrecke sind in Deutschland und Österreich gefährdet bis stark gefährdet.
Während Türks Dornschrecke und Gefleckte Schnarrschrecke sehr eng an das Habitat der Kiesbänke alpiner Flussläufe gebunden sind, wird der Kiesbank-Grashüpfer auch in den Sandheiden Ostdeutschlands gefunden, ebenso wie die Rotflügelige Schnarrschrecke auch auf Magerrasen und in lichten Kiefernwäldern vorkommt (Fischeret al. 2016,Landmann & Zuna-Kratky2016,Maaset al. 2002). Da der Kiesbank-Grashüpfer flugunfähig ist, können einmal aufgegebene Lebensräume nur schwer wiederbesiedelt werden (Landmann & Zuna-Kratky2016). Als Anpassung an das Flusshabitat kann Türks Dornschrecke mehrere Minuten unter Wasser schwimmen. Vermutlich kann sie sich durch diese Fähigkeit neue Lebensräume erschließen (Fischeret al. 2016,Zuna-Kratkyet al. 2017). Die Gefleckte Schnarrschrecke ist an den dynamischen Lebensraum mit einer Metapopulationsstrategie angepasst, das heißt, bei Hochwasserereignissen werden Lokalpopulationen zerstört und eine Wiederbesiedlung oder Neubesiedlung geeigneter Flächen kann dann durch die noch verbliebenen Lokalpopulationen aus den benachbarten Kiesbänken erfolgen (Reich2006).
4 Methode
Entlang des Rißbachs wurden in einem naturnahen Flussabschnitt von 19 km Länge zwischen den Orten Hagelhütten und Oswaldhütte 23 Probeflächen auf österreichischer Seite untersucht (Tab. 2). Kurz unterhalb dieses Flussabschnittes befindet sich dann die Rißbach-Überleitung, mit der das Wasser des Flusses dem Walchenseekraftwerk zugespeist wird. Die Flächen von ungefähr 25 × 50 m² (Flächengrößen zwischen circa 1.000 und 1.300 m2) wurden abhängig von dem Vorhandensein eines typischen Habitats der untersuchten Heuschreckenarten, das heißt einer weitgehend offenen bis spärlich bewachsenen Flussschotterfläche, ausgewählt.
Die Aufnahme der Felddaten erfolgte in den Zeiträumen 24.–30. Juli und 27.–29. August 2018, um die adulten Tiere zu erfassen. Die Heuschreckenindividuen wurden gezählt, indem die Probefläche etwa 30 Minuten lang mit einem Kescher in Schleifen abgegangen wurde. Zusätzlich zur Artbestimmung erfolgte bei der Gefleckten Schnarrschrecke auch die Bestimmung des Geschlechts. Beobachtungen von Individuen der vier Heuschreckenarten außerhalb der Probeflächen wurden ebenfalls notiert. Neben der Erfassung der Heuschreckenindividuen wurde je ein Mal im ersten Durchgang die Vegetation nach der Methode von Braun-Blanquet erfasst und ihre jeweilige Wuchshöhe (Klassen < 10 cm, 10–25 cm, 25–50 cm, 50–100 cm, > 100 cm) sowie die Anteile der Substrattypen (Grobsteine, Schotter, Kies, Sand, feuchtes Feinsediment, Schwemmholz) auf den Probeflächen erfasst. Zudem wurde sowohl die Distanz der Probefläche zur Wasserlinie, zum nächstliegenden Wald oder Gebüsch oder zur gehölzfreien Uferböschung (in Metern) als auch die Höhe der Probefläche über der Sommerwasserlinie (Klassen < 25 cm, 25–50 cm, 50–100 cm, 100–200 cm, > 200 cm) geschätzt. Hierbei wurde der Aufnahmemethode des Lech-LIFE-Projekts gefolgt, um eine Vergleichbarkeit der Datensätze zu gewährleisten (Landmann2017).
Die Pflanzengesellschaften und FFH-Lebensraumtypen wurden nach dem Schlüssel der Tiroler Landesregierung (2018) identifiziert (Tab. 3). Die Nomenklatur der Pflanzenarten folgte der Flora Helvetica (Lauberet al. 2018). Für die Berechnung der Evenness und des Shannon-Indexes der Vegetation wurden die Deckungsgrade nachBraun-Blanquet(1964) in mittlere Deckungsprozente nachGigonet al. (2004) umgewandelt. Um die relevanten Habitatfaktoren für das Vorkommen der jeweiligen Heuschreckenart zu analysieren, wurde eine multiple lineare Regressionsanalyse durchgeführt (Höfler2018). Dabei dienten die jeweiligen Abundanzen der Heuschreckenarten – bei der Gefleckten Schnarrschrecke zudem differenziert in Männchen und Weibchen – als abhängige (zu erklärende) Variablen, die erhobenen Felddaten zur Vegetation und zum Substrat als unabhängige Variablen. Nach Überprüfung der unabhängigen Variablen auf Multikollinearität (Varianzinflationsfaktor, VIF < 10) erfolgte eine schrittweise Modellauswahl mittels Akaike-Information-Criterion (Venables & Ripley2002). Alle Analysen wurden mit dem Programm R durchgeführt.
5 Ergebnisse
5.1 Vegetation und Lebensraumtypen
Die mit den Vegetationsaufnahmen auf den 23 Probeflächen erfasste Artenzahl betrug zwischen 11 und 26 Pflanzenarten (im Mittel 16). Die Evenness-Werte lagen zwischen 0,26 und 0,66 (im Mittel 0,53), wobei die sehr niedrigen Werte (etwa 0,26) die Dominanz einer Pflanzenart widerspiegeln. Als sehr dominante Arten wurden auf zwei Probeflächen das Felsen-Leimkraut ( Atocion rupestre ) und die Lavendel-Weide ( Salix elaeagnos ) ermittelt. Auf keiner der Probeflächen überstieg die Gesamtdeckung der Vegetation 60 %. Die gefährdeten Arten Deutsche Tamariske und Ufer-Reitgras traten auf acht Probeflächen mit einer meist sehr geringen Deckung (< 1 %) auf. Zudem wurden regelmäßig Alpenschwemmlinge erfasst (Abb. 4). Die Vegetation der meisten Probeflächen wurde dem FFH-Lebensraumtyp „Alpine Flüsse mit krautiger Ufervegetation“ zugeordnet. Frühe Stadien des Lebensraumtyps „Alpine Flüsse mit Ufergehölzen von Salix elaeagnos “ wurden auf fünf Probeflächen ermittelt.
5.2 Vorkommensschwerpunkte der untersuchten Heuschreckenarten
Türks Dornschrecke und häufig auch Kiesbank-Grashüpfer wurden meist im FFH-Lebensraumtyp 3220, dort aber in Bereichen, die der Pflanzengesellschaft Juncetum alpino-articulati zuzuordnen sind (Abb. 5), aufgefunden. Diese Pflanzengesellschaft ist gekennzeichnet durch das Vorkommen von Alpen-Binse ( Juncus alpinus ), Buntem Schachtelhalm ( Equisetum variegatum ), Gelb-Segge ( Carex flava ), Blaugrüner Segge ( Carex flacca ) und Pfeifengras ( Molinia caerulea ). Hingegen wurde die Rotflügelige Schnarrschrecke fast nur außerhalb der Vegetationsaufnahmeflächen fern des Wasserlaufs des Rißbachs im Übergang zu den angrenzenden Kiefernbeständen (Erico carneae-Pinetum prostratae Zöttl 51) erfasst. Häufige Zählungen von Individuen der Gefleckten Schnarrschrecke erfolgten im Lebensraumtyp „Alpine Flüsse mit Ufergehölzen von Salix elaeagnos “.
5.3 Vorkommen der Heuschreckenindividuen in Abhängigkeit von den ermittelten Standortfaktoren
Insgesamt wurden in den beiden Zeiträumen 377 Heuschreckenindividuen aller vier Arten erfasst (Abb. 6). Bei der Gefleckten Schnarrschrecke ( Bryodemella tuberculata ) wurden während der ersten Feldaufnahme im Juli 14 weibliche und 41 männliche (Verhältnis 1:2,9) und im August 15 weibliche und 29 männliche Individuen (Verhältnis 1:1,9) gefangen. Für diese Heuschreckenart ist das Ergebnis der Regressionsanalyse für das Vorkommen und die entsprechenden Standortfaktoren in Tab. 4 dargestellt (r² = 0,58; r²korrigiert = 0,47). Die Gefleckte Schnarrschrecke wurde statistisch signifikant häufiger in dichterer Vegetation mit Deckungsgraden zwischen 40 und 60 % erfasst (Abb. 7), wobei dies sowohl für die männlichen Individuen (p 0,001) als auch für die weiblichen Individuen (p 0,01) galt. Die Vegetation tritt vermehrt auf den Probeflächen des oberen Flusslaufs auf und ist charakterisiert durch höhere Deckung mit Salix eleganos . Außerdem präferierten die männlichen Individuen eine geringere Grasdeckung (p 0,001), während die Weibchen eine größere Distanz zum Wald bevorzugten (p 0,05).
Für den Kiesbank-Grashüpfer wurde ein statistisch signifikantes Regressionsmodell für die Individuenzahl und die verschiedenen Standortfaktoren nachgewiesen (r² = 0,66; r²korrigiert = 0,53) (Tab. 4). Demnach wurden auf solchen Probeflächen signifikant häufiger Heuschreckenindividuen dieser Art gefangen, die näher zum Wasserlauf lagen und eine höhere Feinsediment-Deckung in Verbindung mit Steinen und Schotter aufwiesen (p 0,01). Für Türks Dornschrecke wurde ein statistisch signifikant (p 0,01) häufigeres Vorkommen auf steinigem Untergrund nachgewiesen sowie ein geringeres Auftreten auf Flächen mit höherer Deckung von Pioniergebüsch (p 0,05) und krautigen Pflanzen (p 0,05). Hingegen zeigte sich für die Rotflügelige Schnarrschrecke kein statistisch signifikantes Ergebnis, da ihre Fundorte hauptsächlich am Rande oder außerhalb der Probeflächen lagen.
6 Diskussion
Mit der hier angewendeten Zählmethode werden momentane Aktivitätsdichten der Heuschrecken erfasst (vgl.Zerbe1989, Mühlenberg1993). Während die Zahl der Weibchen der zweiten Fangperiode nahezu gleich blieb, ging die Zahl der Männchen deutlich zurück. Gründe dafür können das Abwandern der mobileren Männchen und eine höhere Mortalität sein (Reich1991).
In Tab. 5 werden die mit unserer Studie erfassten und mit der statistischen Analyse bestätigten Standortfaktoren beziehungsweise Vorkommensschwerpunkte im Überblick dargestellt. So bevorzugt beispielsweise die Gefleckte Schnarrschrecke Pionierstadien mit krautiger Vegetation auf dem Flussschotter. Diese Habitate gehen allerdings mit dem Fortschreiten der Sukzession und zunehmender Etablierung von Sträuchern verloren (Reich2006). Für die Eiablage werden Pionierstandorte benötigt, die längere Zeit nicht mehr umgelagert und nur selten überschwemmt werden (Reich 1991, 2006). Dagegen sind die offenen, besonnten und steinigen Habitatbedingungen für den Kiesbank-Grashüpfer durch nur spärliche Vegetationsbedeckung und trocken-heißes Mikroklima (bis 40 °C an der Bodenoberfläche) gekennzeichnet (vgl.Schwarz-Waubke1997b). Diese Standorte sind von gröberem Substrat bedeckt und werden häufig umgelagert, wodurch sie einen höheren Anteil an Sand und Schlick aufweisen (vgl.Lemkeet al. 2010).
Während die Gefleckte Schnarrschrecke und der Kiesbank-Grashüpfer eher spärlich mit Vegetation bewachsene Flächen des Flussschotters besiedeln, löst die Rotflügelige Schnarrschrecke diese Arten ab, wenn die natürliche Sukzession zu Magerrasen und Übergängen zum Schneeheide-Kiefernwald geführt hat (Reich1991). AuchHelbinget al. (2014) fanden die Rotflügelige Schnarrschrecke an der Oberen Isar vermehrt auf Flächen der frühen Sukzessionsstadien des alluvialen Kiefernwaldes. Diese Art kommt außerdem außerhalb der Flussauen in Ökosystem- beziehungsweise Landnutzungstypen vor, die sich hinsichtlich der Vegetationsbedeckung, des Substrats oder des Mikroklimas überschneiden, wie zum Beispiel trockenes Grasland oder thermophile Kiefernwälder (Zuna-Kratkyet al. 2017). Türks Dornschrecke sucht die Nähe zu offenen Wasserflächen, um bei Gefahr kurz im Wasser unterzutauchen oder wegzuschwimmen. Zudem besteht die Nahrung der Heuschrecke auch aus Algen und Moosen, die gerade an den kleinen, mit Wasser gefüllten Gräben in der Flussaue auftreten (Pushkar2009).
Unsere Ergebnisse belegen die Notwendigkeit einer naturnahen Flussdynamik zum Erhalt dieser isolierten Populationen am Rißbach. Mit natürlichen Hochwässern, aber auch mit zunehmender Vegetationsbedeckung im Verlauf der Sukzession können Teilpopulationen verschwinden und müssen durch noch vorhandene Individuen wieder etabliert werden (vgl.Reichet al. 1994 zu Bryodemella tuberculata ). Dies ist nur möglich, wenn genügend Fläche für diese natürliche Flussdynamik zur Verfügung steht und keine Barrieren (etwa Dämme, Sohlschwellen) für die nur wenig mobilen Arten bestehen. Diese Dynamik sorgt auch für die Entstehung der geeigneten Mikrohabitate für die Eiablage. Beispielsweise benötigt die Gefleckte Schnarrschrecke feuchte, sandige Substrate unter der obersten Kiesschicht, in denen die Eier mehrere Zentimeter tief im Boden vergraben werden (Reich1991). Leider wird dieser dynamische Aspekt gegenüber dem häufig noch sehr weit verbreiteten statischen Arten- und Biotopschutzaspekt insbesondere bei der Renaturierung von Flüssen und deren Auen noch zu wenig berücksichtigt. Hier kann eine flexible Ausrichtung von Naturschutz- beziehungsweise Renaturierungszielen gewinnbringend für den Artenschutz sein (Zerbe2019). Renaturierungsprojekte an einigen Flussabschnitten des Rißbachs haben mit der Vergrößerung der dynamischen Flussauenfläche und der damit verbundenen Zunahme der Sedimentdynamik geeignete Bedingungen geschaffen. Mit den innerhalb weniger Jahre auftretenden größeren Überflutungsereignissen (nach LfU Bayern 2019 in den Jahren 1985, 1999, 2005, 2010 und 2013 mit einer Abflussmenge von 161–346 m³ pro Sekunde) ist zudem eine wichtige Voraussetzung für die Flussdynamik mit natürlichen Vegetationsveränderungen und einer entsprechenden Sedimentation gegeben.
Auf der Grundlage unserer Untersuchungen und vor dem Hintergrund ähnlicher Studien über Heuschrecken in alpinen Flussökosystemen (Janßenet al.1996,Pfeuffer2007,Reich1991a,Schwarz-Waubke1997a, b) schlagen wir die folgenden Managementmaßnahmen zum Erhalt und zur dauerhaften Stabilisierung der Populationen am Rißbach vor:
- Eine natürliche Abflussdynamik in Verbindung mit genügend Bewegungsraum für den Fluss muss erhalten bleiben. Sie gewährleistet das natürliche Werden und Vergehen von Vegetationsbeständen und die Sedimentation zur Schaffung eines vielfältigen Habitatmosaiks nicht nur für die typischen und gefährdeten Heuschreckenarten der alpinen Flussschotter, sondern für eine Vielzahl von Wildflussspezialisten.
- Die weiterhin geplanten Renaturierungsmaßnahmen (Sonntag & Zika2014) sollten zügig umgesetzt werden.
- Für die angrenzenden landwirtschaftlichen Weideflächen ist ein Beweidungssystem anzuwenden, das im Einklang mit dem Arten- und Biotopschutz am Rißbach steht. Dies ist mit einer Zäunung verbunden, wie sie bereits aufgrund der guten Zusammenarbeit mit der Naturparkverwaltung und der Landnutzer umgesetzt wird. Eine entsprechende Bewusstseinsbildung sollte auch in den anderen Abschnitten des Rißbachs gefördert werden.
- Der Rißbach mit seinen naturnahen Abschnitten ist sehr attraktiv für Erholungssuchende und Touristen. Eine Besucherlenkung und die Ausweisung von Kernzonen mit einem, auch temporären, Betretungsverbot sind für zahlreiche Tierarten (etwa auch Bodenbrüter wie Flussregenpfeifer oder Flussuferläufer) unabdingbar. Eine entsprechende Besucherinformation erhöht hierbei die Akzeptanz der Naturschutzmaßnahmen.
- Ein kontinuierliches Monitoring der vorkommenden Arten ist notwendig für eine Erfolgskontrolle der Naturschutz- und Renaturierungsmaßnahmen.
Dank
Wir danken dem Rangerteam mit Sina Hölscher und Sebastian Pilloni des Naturparks Karwendel, der Wegegemeinschaft Hinterriss-Eng, dem Verband der Naturparke Österreich, den Österreichischen Bundesforsten, Michael Schödl vom Landesbund für Vogelschutz, der Abteilung Umweltschutz des Landes Tirol, namentlich Michael Haupolter und Walter Michaeler sowie Erich Tasser für die Unterstützung dieser Studie.
Literatur
Aus Umfangsgründen ist das Literaturverzeichnis im Online-Supplement unter www.nul-online.de, Webcode NuL2231 , verfügbar.
Fazit für die Praxis
- Selbst in vergleichsweise isolierten alpinen Flusstälern und auf kurzen Flussstrecken können stark gefährdete Heuschreckenarten langfristig überleben.
- Für den dauerhaften Erhalt ist aber eine natürliche Dynamik auf hinreichend großen Flächen notwendig. Dies schafft das Habitatmosaik, das den Habitatansprüchen der Heuschreckenarten gerecht wird.
- Neben dem dringenden Erhalt noch bestehender naturnaher Flussabschnitte in den Alpen ist eine Renaturierung beziehungsweise Vernetzung naturnaher Flussabschnitte unabdingbar.
- Nutzungskonflikte zwischen Arten- und Biotopschutz, Erholungsnutzung und Tourismus sowie der Landwirtschaft können durch Information, Besucherlenkung und Schaffung von (auch temporären) Kernzonen entschärft werden.
- Ein dauerhaftes Monitoring sichert Informationen zur Einschätzung des Erfolgs von Naturschutz- und Renaturierungsmaßnahmen.
Kontakt
Josefine Höfler M.Sc. ist Ornithologin und hat in Freiburg den B.Sc. Waldwirtschaft und Umwelt, sowie in Bozen und Innsbruck den M.Sc. Environmental Management of Mountain Areas absolviert. Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt in Freiburg mit der Aufgabe der Evaluation des Alt- und Totholzkonzeptes Baden-Württembergs.
Prof. Dr. Georg Leitinger ist assoziierter Professor am Institut für Ökologie der Universität Innsbruck. Nach Forschungsaufenthalten in Italien und Frankreich 2016 Habilitation im Fach Ökologie. Forschungsschwerpunkte sind die räumliche Analyse und Bewertung von Landschaften sowie biogeochemische Kreisläufe und Ökosystemleistungen. Zahlreiche Publikationen in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften.
Dr. Michael Reich leitet seit 1999 die Arbeitsgruppe Naturschutz und Landschaftsökologie am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover. In seiner Doktorarbeit an der Universität Ulm und seiner Habilitation an der Philipps-Universität Marburg Beschäftigung mit dynamischen Prozessen an Alpenflüssen und ihrer Bedeutung für Heuschrecken und ihre Lebensräume. Forscht seither in mehreren Forschungsvorhaben zu Fragen der Wasserkraftnutzung und der Auswirkungen extremer Hochwasserereignisse auf die terrestrischen Lebensgemeinschaften alpiner Flussauen. > reich@umwelt.uni-hannover.de
Mag. Hermann Sonntag, Zoologe, seit 2008 Geschäftsführer im Naturpark Karwendel.
> hermann.sonntag@karwendel.org
Prof. Dr. Stefan Zerbe, Leiter ArbeitsgruppeInterdisziplinäre Landschaftsökologie an der Freien Universität Bozen in Südtirol.
Zu diesem Artikel liegen noch keine Kommentare vor.
Artikel kommentierenSchreiben Sie den ersten Kommentar.