Ende der Übergangsfrist: Droht ein Versorgungsengpass?
Am 1. März endet die zehnjährige Übergangsfrist zur Anwendung von § 40.1 des Bundesnaturschutzgesetzes. Dieser regelt das Ausbringen von Pflanzen und Tieren in der freien Natur und hat das Ziel, die innerartliche Vielfalt der heimischen Arten zu erhalten. Doch was bedeutet das Ende der Übergangsfrist für die Praxis? Wir haben die wichtigsten Fakten für Sie zusammengetragen.
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Deutschland hat sich, wie mehr als 190 weitere Staaten, der Biodiversitätskonvention verpflichtet. Sie hat zum Ziel, die biologischen Diversität und darin inkludiert auch die innerartliche genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren zu erhalten. § 40 BNatSchG setzt diese Ziele für Deutschland um. Es besagt, dass in freier Natur keine gebietsfremden Herkünfte von Pflanzen eingebracht werden sollen. Das Ausbringen von Tieren ist überall, auch im besiedelten Bereich, genehmigungspflichtig.
Nachdem die Vorgabe für das Ausbringen von Pflanzen allerdings nur in sehr eingeschränktem Maße erfolgte, wurde 2009 eine bis zum 1. März 2020 geltende Ausnahmeregelung dieser Genehmigungspflicht in den Gesetzestext aufgenommen.
In Bezug auf Pflanzen benennt das Gesetz konkret „Pflanzen in der freien Natur, deren Art in dem betreffenden Gebiet in freier Natur nicht oder seit mehr als 100 Jahren nicht mehr vorkommt“ (§ 40 (1) BNatSchG). Das bezieht sich jedoch nicht nur auf die Art als solche, sondern schließt den lokal angepassten, individuellen Genpool mit ein, der es den Pflanzen erlaubt, sich an die jeweiligen Standort- und Klimabedingungen optimal anzupassen.
Herkunftsgebiete
Um diesen lokalen Genpool zu wahren, wurden in einem DBU-Projekt „Entwicklung und praktische Umsetzung naturschutzfachlicher Mindestanforderungen an einen Herkunftsnachweis für gebietseigenes Wildpflanzensaatgut krautiger Pflanzen“ (Webcode NuL5112 ) für Deutschland 22 Herkunftsgebiete vorgeschlagen, die auf naturräumlicher Basis abgegrenzt und im Abschlussbericht veröffentlicht wurden. Ebenfalls zu finden ist die Karte der Herkunftsgebiete (siehe S. 119) in der Anlage der Erhaltungsmischungsverordnung (ErMiV) zu § 2 Nr. 6 und 7.
Bei der Verwendung von Saatgut in der freien Natur – dieser Begriff schließt den Siedlungsraum ausdrücklich aus – darf nun ab dem 1. März 2020 ausschließlich Pflanz- und Saatgut aus der jeweiligen Herkunftsregion verwendet werden. Die produzierenden Betriebe müssen die Herkunft nachweisen und ihre Pflanzen beziehungsweise ihr Saatgut entsprechend zertifizieren, um den Einsatz in der freien Natur zu ermöglichen. Soll abweichend von diesen Herkunftsgebieten Material ausgebracht werden, ist eine Sondergenehmigung einzuholen.
Geltungsbereich
Die Bezeichnung „freie Natur“ ist gleichzusetzen mit dem in § 1 BNatSchG verwendeten Begriff „unbesiedelter Bereich“. Parks, Gärten oder Friedhöfe betrifft die Regelung also nicht, auch wenn die Gesetzesauslegung nicht immer ganz eindeutig ist und nach wie vor erhebliche Unsicherheiten bei der Grenzziehung für den Begriff bestehen. Nur innerhalb des unbesiedelten Raums greift § 40 und auch für diesen gelten Ausnahmen: Nach wie vor genehmigungsfrei ist der Anbau von Pflanzen in der Land- und Forstwirtschaft. Für das Ausbringen von Tieren gelten noch weitere Ausnahmeregelungen.
Wer ist betroffen?
§ 40 betrifft Anwender und ausschreibende Stellen, die darauf zu achten haben, entsprechend zertifiziertes Material auszuschreiben. Erkennbar ist dies an verschiedenen Siegeln. Bei Saatgut sind das die Siegel „VWW-Regiosaaten“ des Verbands deutscher Wildsamen- und Wildpflanzenproduzenten und „RegioZert“, das Siegel des Saatgutproduzenten Saaten Zeller. Für Gehölze wurde im Leitfaden „Gebietseigene Gehölze“ eine Interpretation des BNatSchG vorgegeben, die mit sechs Regionen den Gedanken des § 40 abdecken soll.
Gleichzeitig sind auch die Behörden, im Wesentlichen die Unteren Naturschutzbehörden, involviert, da sie mit der Beurteilung der Sondergenehmigung von Pflanzen und Saatgut gebietsfremder Herkünfte sowie der Kontrolle der Einhaltung in Zukunft verstärkt betraut sind.
Leitfäden und Hilfestellungen
Den von der Regelung Betroffenen stehtauf Bundes- und Landesebene eine Reihe von Leitfäden und Hilfestellungen zur Verfügung. Für holzige Pflanzen hat das Bundesministerium für Umwelt (BMU) im Jahr 2012 einen „Leitfaden zur Verwendung gebietseigener Gehölze“ (Download unter NuL5112 ) entwickelt. Dieser greift den naturschutzfachlichen Hintergrund auf und gibt umfangreiche Hinweise zur korrekten Ausschreibung gebietseigener Gehölze.
Für gebietseigenes Saatgut fehlt ein solcher Leitfaden bislang. Er wird derzeit im Rahmen eines BfN-Projekts unter Beteiligung der Bundesländer und wichtiger Akteure erarbeitet, seine Veröffentlichung wird aber erst 2021 oder 2022 erwartet. Parallel arbeitet die Forschungsgesellschaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau e.V. (FLL) an der Überarbeitung der „Empfehlungen für Begrünungen mit gebietseigenem Saatgut“.
Darüber hinaus steht in einigen Bundesländern, unter anderen Bayern und Baden-Württemberg, eigens entwickeltes Infomaterial zur Verfügung. Sie finden die entsprechenden Links unter dem Webcode NuL5112.
Kritische Stimmen
Trotz der zehnjährigen „Vorlaufzeit“, die es laut Bundesamt für Naturschutz (BfN) den Akteuren, im Wesentlichen den Saatgut- und Wildpflanzen-Produzenten ermöglichen sollte, ihre Produktion auf die neue Situation einzustellen, regen sich jetzt zum Stichtag auch Stimmen, die vor einem Systemkollaps warnen.
Die Länge der Vorbereitungszeit stellt der Verband deutscher Wildsamen- und Wildpflanzenproduzenten kritisch infrage. Man könne wirtschaftlichen Betrieben kein Ultimatum stellen, sich zu gründen oder in einen defizitären Raum zu verlagern, ohne dafür zu werben, ohne zu fördern oder sie gesetzlich besserzustellen. Zehn Jahre seien selbst mit Förderung nicht ausreichend, um die benötigte Gebietsabdeckung sicherzustellen. So dauere zum Beispiel der Aufbau einer Gräserart als erntefähiger Kultur bis zu sechs Jahre, von Sortimenten, mit denen man ganze Mischungen erstellen kann, ganz zu schweigen. In den vergangenen drei Jahren haben sich 22 neue Betriebe gegründet, erläutert Geschäftsführer Markus Wieden. Dies reiche aber nicht aus, um nur annähernd alle Herkunftsgebiete gleichermaßen gut abzudecken. In einer ganzen Reihe von Regionen gibt es nur wenige Produzenten, die mit geringen Artenzahlen noch keine Mischungen aufbauen können. Diese Betriebe stehen vor dem Aus, da nun aus den Nachbarregionen keine Ergänzungen für Mischungen mehr möglich sind.
Weiter weist Prof. Klaus Werk (Bundesverband Beruflicher Naturschutz, BBN) darauf hin, dass in vielen Bundesländern faktisch keinerlei Maßnahmen ergriffen wurden, die eine fristgebundene Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben ermöglicht. So stünden Vorhabenträger wie Untere Naturschutzbehörden genau wie die Erzeugerseite vor massiven Problemen. Auch einzelne Förderprojekte, wie das DLR-Projekt für die Stiftung Naturschutz in Schleswig-Holstein oder das Divergen-Projekt in Sachsen, haben noch keine nachhaltige Wirkung auf dem bundesweiten Erzeugermarkt entfaltet.
Konkret kritisiert er, dass für alternative Verfahren wie die Spenderflächenbeerntung bislang nur wenige Bereiche ausgewiesen und für die dauerhafte Inanspruchnahme gesichert seien. Infolgedessen werde es zu einer Häufung umfangreicher Ausnahmeentscheidungen für die Saatgutausbringung kommen müssen, die zu bewältigen die zuständigen Naturschutzbehörden kaum in der Lage seien. Ebenso sei eine flächendeckende Überwachung der Einhaltung derzeit kaum umsetzbar. Markus Wieden weist darauf hin, dass in produktiven Agrarlandschaften praktisch keine Spenderflächen zur Verfügung stehen und der Anbau von Wildpflanzensaatgut zur Erzeugung geeigneter Mischungen die einzige praktikable naturnahe Begrünungsmethode in großen Teilen Deutschlands darstellt. Zudem werde die Sammlung von Ausgangsmaterial häufig durch nicht nachvollziehbare Auflagen und Kosten auch außerhalb von NSG- und FFH-Gebieten erschwert.
Werk warnt außerdem vor einer mangelnden Verfügbarkeit von Wildpflanzensaatgut in den kommenden drei Jahren. „Die ausreichende Produktion von entsprechendem Saatgut ist in vielen Regionen bisher noch nicht sichergestellt“, erklärt er. „Zudem ist das Wiesendruschverfahren für große Flächen nicht verfügbar, da drei bis fünf Mal größere Spenderflächen gegenüber der Zielfläche benötigt werden.“ Das BfN erläuterte auf Anfrage, dass die Saatgutverfügbarkeit für das Saatgut krautiger Arten regional sehr unterschiedlich sei, auch wegen der stark schwankenden und damit schwer prognostizierbaren Nachfrage nach gebietseigenem Saatgut. Es sei daher wichtig, dass Auftraggeber insbesondere großer Projekte nunmehr frühzeitig, am besten mehrere Jahre im Voraus, eine Markterkundung zur Verfügbarkeit von geeignetem Saatgut aus dem jeweiligen Ursprungsgebiet durchführen.
Markus Wieden, Geschäftsführer des VWW, hält dieses Vorgehen allerdings für wenig praktikabel. „Der Saatguthandel ist ein Tagesgeschäft“, erklärt er. Bis eine Genehmigung für die Ausbringung von Saatgut aus benachbarten Herkunftsgebieten vorliege, dauere es mitunter mehrere Wochen oder Monate. Bis dahin könne sich der Lagerbestand vor allem bei kleineren Produzenten schon wieder völlig verändert haben, was die Einholung neuer Genehmigungen zur Folge hätte.
Sinnhaftigkeit der Herkunftsgebiete
Darüber hinaus seien die heute von den Produzenten berücksichtigten Herkunftsgebiete nur eine mögliche und zudem ungeprüfte Herangehensweise an die genetische Vielfalt der Arten. Für zahlreiche Gräser, deren Pollen durch den anemochoren Transport weite Distanzen überwinden, seien 22 Gebiete zu detailliert, ihr Genpool unterscheide sich nicht so stark, dass sich die Fülle der Regionen damit begründen ließe. Umgekehrt seien isolierte Populationen von sehr auf einzelne Bestäuber spezialisierten Kräutern schon in direkt benachbarten Flächen so unterschiedlich, dass die Verbreitung innerhalb eines Herkunftsgebiets infrage zu stellen sei. „Eigentlich bräuchten wir eine Einzelartenbetrachtung“, erläutert er. „Die Herkunftsgebiete sind bei korrekter Auslegung des Gesetzes ein Schuss ins Blaue.“ Es brauche also neben weiterer Forschung auch eine Überarbeitung des Naturschutzgesetzes, um überhaupt dessen Erfüllung möglich zu machen. Insbesondere die Definition des Artbegriffs darf die Anwendbarkeit im praktischen Naturschutz nicht völlig aushebeln. Eine Möglichkeit besteht auch in Definitionen, die gemäß § 54 BNatSchG, der eine Ausführung der gesetzlichen Inhalte als konkretisierende Verordnung erlaubt, sorgfältig und mit Augenmaß für Umsetzbarkeit erarbeitet werden. Bis dahin müsse aber von Bund und Ländern eine einheitliche Übergangsregelung gefunden werden, da sonst das Marktangebot, wie wir es heute kennen, zum Erliegen kommt.
Umsetzungskontrolle
Auch wenn es unter Vermittlung der LANA (Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Naturschutz) zu einer praktikablen Auslegung der neuen Gesetzeslage käme, bleibt doch ungeklärt, wie eingeschleustes graues Material aus dem Markt verbannt werden kann: Die Verbände BBN und VWW bezweifeln aktuell, ob die personellen wie fachlichen Kapazitäten dafür vorhanden sind. Saatguteinsatz auf Baustellen wird im Prinzip gar nicht kontrolliert oder erst wenn ein zweifelhafter Aufwuchs den Projektträger ins Grübeln bringt.
Dementsprechend steigt die Gefahr, dass einzelne Anbieter oder Anwender „graues“ Material aus anderen Herkunftsgebieten oder gar -ländern dem Saatgut beifügen. Das ist zwar, wie Silke John vom Umweltministerium Baden-Württemberg betont, ein klarer Rechtsverstoß, der bei Bekanntwerden geahndet werde, doch Markus Wieden weist darauf hin, dass ein Nachweis nur auf Isotopen- oder genetischer Ebene erfolgen könne und daher sehr aufwendig sei, zumindest wenn es um Gerichtsverwertbarkeit geht. Erfolgversprechender wäre dagegen der verpflichtende Nachweis von Mutterquartieren und Vermehrungsorten bei Massenarten, wie Gräsern, Leguminosen und einigen häufigen Kräutern. Angesichts der zahlreichen offenen Fragenn ist die Verunsicherung bei den Akteuren sowohl auf der produzierenden wie auch auf der ausschreibenden Seite entsprechend hoch.
Artenfilter
Zu noch mehr Missverständnissen führt ein sogenannter Artenfilter, der ebenfalls im anfangs erwähnten DBU-Projekt entwickelt wurde. Er soll laut BfN ein fachliches Hilfsmittel darstellen, das es erlaubt, Wildpflanzenarten in den 22 Herkunftsgebieten regelbasiert, beispielsweise über ihre Verbreitung oder ihren Rote-Liste-Status, zu filtern. Er berücksichtigt jedoch, wie Silke John ergänzt, regionale Aspekte nur nachrangig und gibt zwar einheimische, aber in der Regel nur überregional häufige, weitverbreitete Arten aus.
Der Artenfilter ist als Kann-Kriterium zu verstehen und schließt dementsprechend keineswegs die Verwendung weiterer, in den gefilterten Listen nicht zugelassener gebietsheimischer Arten aus. Wird dieser Filter jedoch – fälschlicherweise – als „Positivliste“ derjenigen Arten verstanden, die ausschließlich verwendet werden dürfen, so kann das vor allem bei der Erstellung artenreicher oder gebietstypischer Biotoptypen zu einer Artenverarmung und einer fehlenden regionalen Anpassung führen.
Handlungsfelder
Die kritischen Stimmen zeigen klar: Es besteht noch akuter Handlungsbedarf, soll es nicht zu einem schwerwiegenden Versorgungsengpass und Umsetzungsverzögerungen bei zahlreichen Projekten kommen. Im Folgenden seien die wesentlichen Handlungsbedarfe nochmals zusammenfassend dargestellt:
- Bundeseinheitliche Handlungsanweisungen für Ausschreibende und für die Naturschutzbehörde
- Markterkundung zur Verfügbarkeit von Saatgut und Pflanzenmaterial mit gleichzeitiger Bedarfsermittlung für Großprojekte auf Landes- und Bundesebene
- Behördliche Regelungen für eventuelle Lieferengpässe, um Anhäufung von Einzelfallentscheidungen zu vermeiden, zum Beispiel über Ländererlasse
- Qualitätssicherung: Stichprobenkontrollen bei Produzenten und auf Baustellen, Nachweis von Mutterquartieren und Vermehrungsorten mit entsprechender Sanktionierung bei Nichteinhaltung
- Verzicht auf zusätzliche Akkreditierung der bestehenden Zertifikate und Förderung des Wildpflanzenanbaus als landeskulturelle, gesamtgesellschaftliche Aufgabe besonders in unterversorgten Regionen
- Aufklärung von Verwaltung und Öffentlichkeit über die Inhalte der Zertifikate und Anwendbarkeit von Mischungen
- Schaffung praktikabler gesetzlicher Grundlagen und Entwicklung eines Leitfadens zur Sicherstellung und Einsatz von regionalem gebietseigenem Saatgut
Unter Webcode NuL5112 finden Sie weitere Informationen, Leitfäden und Hilfestellungen der Länder zu Zertifizierung und Verwendung gebietseigener Gehölze und gebietseigenen Saatguts.
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