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Herausforderungen für weidebasierte Tierhaltungen und den praktischen Naturschutz

Der Wolf in Deutschland

Abstracts

Das derzeit exponentielle Populationswachstum des Wolfes (Canis lupus ) in Deutschland erzeugt innerfachliche Zielkonflikte im praktischen Naturschutz und belastet durch eine hoch emotionale Diskussion zunehmend die Kooperation mit den Akteuren der Landwirtschaft. Der Beitrag analysiert mögliche Konsequenzen für den Biodiversitätsschutz und diskutiert Handlungsoptionen vor dem Hintergrund, dass der Wolf in den Anhängen II und IV der FFH-Richtlinie geführt wird und somit einem strengen Schutz unterliegt. Durch seine Ausbreitung droht eine partielle Aufgabe der Weidewirtschaft auf naturschutzfachlich essenziellen Standorten. Konsequenter und unbürokratisch geförderter Herdenschutz ist nur ein Teil einer umfassenden Lösung. Als weitere Bausteine werden unter anderem Änderungen im Ordnungsrecht, stringente Vorgaben für das Wolfsmanagement bei zügiger Entnahme problematischer Einzeltiere sowie eine bessere Unterstützung für Grünlandnutzungen genannt. Abschließend werden Eckpunkte für eine versachlichte Kommunikation des Themas skizziert.

The wolf in Germany – challenges for pasture-based livestock management and practical nature conservation

The currently exponential population growth of the wolf(Canis lupus ) in Germany has created internal trade-offs in practical nature conservation and, in a highly emotional discussion, is increasingly straining cooperation with stakeholders in agriculture. This article analyses possible consequences for biodiversity protection as well as options for action whilst taking into account that the wolf is listed in Appendices II and IV of the Habitats Directive and is therefore subject to strict protection. There is a threat of a partial abandonment of pasture farming in locations that are essential for nature conservation. More consistent and unbureaucratic promotion of herd protection is only part of a comprehensive solution. Further elements include changes in regulatory law, stringent requirements in wolf management, with the rapid removal of problematic individual animals, and better support for grassland management. The article formulates the key points for more objective communication of the topic.

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 Abb. 1: Anzahl Wolfsübergriffe und Anzahl getöteter, verletzter oder vermisster Nutztiere (ohne mögliche Fehlgeburten nach Übergriffen) in Deutschland ab der ersten erfolgreichen Reproduktion im Jahr 2000.
Abb. 1: Anzahl Wolfsübergriffe und Anzahl getöteter, verletzter oder vermisster Nutztiere (ohne mögliche Fehlgeburten nach Übergriffen) in Deutschland ab der ersten erfolgreichen Reproduktion im Jahr 2000. DBBW (2020a)
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Eingereicht am 16. 10. 2020, angenommen am 30. 11. 2020

1 Einleitung

Der Wolf (Canis lupus ) hat einen festen Platz in unserem kulturellen Gedächtnis. Wolfsbilder werden in Märchen, Büchern und Filmen mit meist stereotypen Beschreibungen übermittelt: Der Wolf ist entweder bedrohliches Raubtier oder Inbegriff intakter Natur. Eine rationale Bewertung ist vor diesem Hintergrund schon immer schwergefallen und die Standpunkte sind polarisiert (König 2010). Während viele Natur- und Tierschützer die Ausbreitung des Wolfes in Deutschland begrüßen, sehen andere Interessensgruppen und direkt betroffene Akteure wie die Weidetierhalter das Raubtier kritisch. Ohne eigene Erfahrungen mit der Präsenz des Wolfes haben sich in der Gesellschaft unrealistische Sichtweisen entwickelt, nach denen eine vollständig friedliche Koexistenz von Wolf und Weidetier nur eine Frage finanzieller Mittel sei (etwa SRF / 3Sat 2020). Tatsache ist, dass die Ausbreitung des Wolfes mit steigenden Nutztierschäden korreliert ( 1) und damit mit zunehmenden gesellschaftlichen Konflikten.

Die in Deutschland (wieder) vorkommenden Wölfe wurden zunächst der mitteleuropäischen Flachlandpopulation zugeordnet, wobei davon ausgegangen wurde, dass diese weitgehend isoliert sei (Landesregierung Brandenburg 2013). Genetische Untersuchungen deuten nun an, dass die Population zumindest im Austausch mit der baltischen steht und deshalb nur ein geringes Inzuchtrisiko existiert (Czarnomska et al. 2013). Aufgrund einer hohen Wachstums- und Überlebensrate der Jungtiere breitet sich der Wolf in vielen Ländern des globalen Nordens aus (Mech 2017). Nach der rechtlich unverbindlichen Roten Liste der IUCN ist der Wolf als „nicht gefährdet“ eingestuft (IUCN 2020).

Die Art selbst bedeutet zunächst eine Ergänzung der heimischen Fauna. Wölfe beeinflussen das Raumnutzungsverhalten und die Bestände von Schalenwild im Wirtschaftswald und können dazu beitragen, Verbissschäden zu reduzieren und die Naturverjüngung zu fördern (Heurich 2019). Die Gleichung „Anwesenheit von Wölfen führt zu weniger Verbiss“ simplifiziert aber komplexe Wechselwirkungen und ist nicht in jedem Fall korrekt (Kupferschmid & Bollmann 2016). Effekte des forstwirtschaftlichen und jagdlichen Managements sind größer (Theuerkauf & Rouys 2008). Die Jägerschaft erlegt in Deutschland je Flächeneinheit deutlich mehr Schalenwild als Wölfe erbeuten (Wotschikowsky 2017).

Im Diskurs über den Wolf werden bislang mögliche negative Auswirkungen seiner Ausbreitung auf etablierte Naturschutzziele kaum beachtet. Der vorliegende Beitrag widmet sich daher (1) den potenziellen Konsequenzen für Ziele des Naturschutzes und (2) den möglichen Auswirkungen, welche die hoch emotionalen Konflikte zwischen den Akteuren für die Landnutzung bedeuten könnten. Dazu werden jeweils Thesen aufgestellt und Lösungsansätze für ein effektiveres Konfliktmanagement skizziert. Da die Kausalitäten vielschichtiger sind als gemeinhin angenommen, sind Erläuterungen voranzustellen.

2 Rechtliche Vorgaben zum Schutz des Wolfes

Der rechtlich verbindliche Schutzstatus für den Wolf ergibt sich in der EU aus der FFH-Richtlinie (FFH-RL), die 1992 unterzeichnet wurde. Zudem ist der Wolf durch die 1979 verabschiedete Berner Konvention geschützt (in den neuen Bundesländern ab 1990), worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.

In der FFF-RL ist der Wolf in den Anhängen II und IV gelistet. Von zentraler Bedeutung im FFH-Regelwerk ist Art. 12 Abs. 1, der die Mitgliedsstaaten verpflichtet, für Anhang-IV-Arten ein strenges Schutzsystem zu etablieren. Das absichtliche (und unabsichtliche) Töten und Fangen (= „Entnahme“) sowie die mutwillige Störung von Wölfen bei Fortpflanzung oder Aufzucht sind deshalb in Deutschland grundsätzlich verboten. Eine Ausnahme von Art. 12 Abs. 1 eröffnet Art. 16 FFH-RL unter folgenden Prämissen:

  • Es besteht keine andere zufriedenstellende Möglichkeit einer alternativen Konfliktlösung.
  • Die Populationen der Art verbleiben trotz der Ausnahmeregelung in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet ohne Beeinträchtigung in einem sogenannten „günstigen Erhaltungszustand“ (siehe unten) oder die Wiederherstellung eines solchen wird nicht behindert (EuGH, Urt. v. 14.06.2007 – C-342/05, Slg. 2007, I-04713, Rdnr. 29).

Gemäß Art. 16 Abs. 1 können folgende Begründungen im Ausnahmefall rechtfertigen, Individuen zu entnehmen:

a) Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen und die Erhaltung natürlicher Lebensräume,

b) die Verhütung ernster Schäden (etwa bei Weidetierhaltern),

c) im Interesse der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses inklusive positiver Folgen für die Umwelt,

d) aus Forschungszwecken sowie

e) um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme einer begrenzten und von den zuständigen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren zu erlauben.

Für e) muss immer eine zusätzliche Begründung zu a) bis d) genannt werden. Es handelt sich also um keine generelle Ermächtigung zur Entnahme. Es muss immer wissenschaftlich oder anhand von Vergleichsdaten begründet werden können, dass die Entnahme dem angestrebten Ziel dient (EuGH Rechtssache C 674/17).

Für die Bewertung des Erhaltungszustands der Wölfe in Deutschland sind die Kriterien des Art. 1i) FFH-RL bindend. Das europäische Recht erfordert die Gewährleistung eines günstigen Erhaltungszustands der Wolfspopulationen, und das getrennt nach biogeografischen Regionen. Deutschland hat Anteil an der atlantischen (Nordwest-Deutschland), kontinentalen (Süd- und Ostdeutschland) und der alpinen Region (Alpenraum). Neben dem Populationszustand sind auch Verbreitung, Zustand der Habitate sowie die Zukunftsaussichten für die Bestimmung des Erhaltungszustandes maßgeblich. Das heißt, dass die reine Anzahl der Individuen einer Population auch unter der Berücksichtigung des genetischen Austausches über Nationalgrenzen hinweg nur einer von vier Kriterien für die Bewertung des Erhaltungszustandes ist. Die EU gibt den Rahmen vor, wie die Mitgliedsstaaten zu einer Bewertung der einzelnen Kriterien gelangen. Innerhalb dieses Rahmens sind Interpretationsspielräume gegeben (siehe DG Environment 2017). Im aktuellen nationalen FFH-Zustandsbericht wird weder für die kontinentale noch für die atlantische biogeografische Region einer der vier Einzelfaktoren als günstig bewertet. Der Erhaltungszustand wird für diese Regionen jeweils insgesamt als ungünstig-schlecht beurteilt (in der alpinen Region gibt es noch keine sesshaften Wölfe). Nur der Trend der Gesamtbewertung wird positiv eingeschätzt (BfN 2019).

3 Entwicklung und Ökologie der heimischen Wölfe

Aktuell gibt es in Deutschland (mindestens) 128 Rudel (BfN 2020); die Individuenzahl kann mit dem bestehenden Monitoring nur geschätzt werden. Sie liegt wohl zwischen 1.200 und 1.500 Tieren. Seit der Wiederkehr reproduzierender Tiere im Jahr 2000 wurden 51 bekannt gewordene illegale Tötungen und 394 Totfunde an Straßen identifiziert, davon allein 98 im Monitoringjahr 2019/2020. Dies sind die Hauptgefährdungsursachen für heimische Wölfe. Vier Individuen wurden im Rahmen des Managements legal geschossen (DBBW 2020b). Die rasante Zunahme des Wolfsbestandes ( 2) seit dem Monitoringjahr 2009/2010 ist die Folge des strengen Schutzes (Mech 2017).

Wölfe sind reproduktionsfreudig und tolerieren fallweise eine jährliche jagdliche Entnahme von bis zu 30 % ihrer Population (Fuller et al. 2003). Die Wolfsfähe gebärt einmal jährlich vier bis acht Jungtiere, die nach 10–22 Monaten das elterliche Rudel verlassen (Reinhardt & Kluth 2007). Die Rudel Mitteleuropas bestehen aus drei bis elf Tieren (Fuller et al. 2003). Die Größe der Territorien korreliert mit der Beutetierdichte. Während in Schweden Territorien von 1.000 km² normal sind, liegen sie in Deutschland bei etwa 200 km². Rein rechnerisch sind hier zwischen 700–1.400 Wolfsterritorien möglich (Kramer-Schadt et al. 2020). Die meisten Rudel leben aktuell in Brandenburg (47), Sachsen (28) und Niedersachsen (23); die drei Bundesländer beherbergen in Summe 80 % aller Rudel (BfN 2020). Brandenburg weist sicherlich eine der europaweit höchsten Wolfsdichten auf. Im Diskurs wird immer wieder eine Theorie der sozialen Selbstregulation von Wölfen vermittelt, nach der diese ihre Anzahl selbst begrenzen (siehe Pimlott 1967). Tatsächlich wird die Wolfsdichte aber zunächst von der Verfügbarkeit der Beutetiere bestimmt, wobei tödliche Aggressivität gegenüber rudelfremden Wölfen kein ungewöhnliches Verhalten ist (Mech & Barber-Meyer 2015).

Der Wolf nimmt innerhalb der Arten der FFH-RL eine Sonderrolle ein. Er ist ausgesprochen ausbreitungsfreudig: Einzelwölfe können bei der Suche nach neuen Territorien innerhalb kurzer Zeit Hunderte Kilometer zurücklegen (Czarnomska et al. 2013). Zudem kann die Art als Nahrungs- und Habitatgeneralist praktisch jeden Landlebensraum besiedeln. Wölfe existieren in Natur- wie auch in Kulturlandschaften, sofern sie vom Menschen toleriert werden (Boitani 1995, Reinhardt & Kluth 2007). Sie erbeuten im Allgemeinen zunächst die Arten und Individuen, die leicht verfügbar sind. Regional fällt die Beutetierstatistik unterschiedlich aus. Räumlich oder saisonal häufige Beutetiere sind Rehe (Capreolus capreolus ), Wildschweine (Sus scrofa ), Rothirsche (Cervus elaphus ), Hasenartige, Damhirsche (Dama dama ), Mufflons (Bos gmelini ), in Südost- und Südeuropa auch Haustiere und Abfall (Jedrzejewski et al. 2012).

Sind Nutztiere einfach zu erbeuten (etwa bei fehlender Zäunung), werden sie als Nahrung rasch angenommen. Weidetiere, die ausreichend geschützt sind, werden deutlich seltener erlegt. Nutztiere machen etwa 1,6 % der Nahrung heimischer Wölfe aus ( 3). Bei der Nahrungswahl bestehen individuelle und rudelspezifische Präferenzen, die sich über die Verfügbarkeit hinaus auch maßgeblich aus positiven (leichte Beute) und negativen Erfahrungen (etwa Stromschlag an Elektrozaun) herausbilden und an Nachkommen weitergegeben werden. Wölfe können prinzipiell auch lernen, relativ wehrhafte Nutztiere wie adulte Rinder oder Pferde zu erlegen, wobei bei den großen Weidetieren viel eher Jungtiere gerissen werden (Imbert et al. 2016). 2019 wurden für Deutschland 887 Nutztierübergriffe bestätigt. Bei diesen Übergriffen kam es zu insgesamt 2.894 Schadensfällen. Pro Übergriff auf eine Herde waren in den letzten zehn Jahren im Schnitt fast konstant 3,4 Weidetiere von Attacken betroffen. Situativ mögliche stressbedingte Totgeburten gehen in diese Statistik nicht ein. 88 % aller Übergriffe wurden bei Schaf- und Ziegenherden gezählt. Mit Abstand folgen Gehegewild (7 %) und Rinder (4 %), vereinzelt wurden auch Pferde gerissen (DBBW 2020c).

4 Bietet guter Herdenschutz die Lösung?

Unter Herdenschutz werden sämtliche Maßnahmen verstanden, die aktiv oder passiv eine weidende Viehherde vor Beutegreifern schützen. In der historischen Weidewirtschaft gehörten arbeitsintensive Herdenschutzmaßnahmen wie die konsequente Behütung zum Repertoire. Auch geeignete Zaunsysteme, Nachtpferche und der Einsatz von Herdenschutzhunden sind Schutzoptionen. Allenfalls in der Testphase befinden sich signalbasierte Erkennungs- und Abwehrsysteme (etwa Schall-/Ultraschallgeräte). Herdenschutz bietet niemals einen absoluten Schutz vor Raubtieren (Linnell & Cretois 2018). In Ländern Osteuropas, in denen Herdenschutz relativ erfolgreich gegen Wolf und Bär eingesetzt wird, waren die großen Beutegreifer nie ausgerottet. Dort konnte sich eine lange Tradition im Herdenschutz herausbilden, entsprechendes Fachwissen blieb erhalten, die Hütehaltung ist bis heute noch weit verbreitet und die Akzeptanz unter den Landwirten relativ hoch. In Deutschland sind die Voraussetzungen hinsichtlich der Agrarstruktur, betrieblicher Ausgaben- und Einnahmeverteilung, der Nutzungsansprüche der Gesellschaft (etwa Erholungssuchende), Bevölkerungsdichte und Kulturlandschaftshistorie, die sich in langen Zeiträumen ohne Anwesenheit und Auseinandersetzung mit dem Wolf entwickelt hat, völlig anders. Die Übertragbarkeit des Vorgehens in Ländern mit kontinuierlicher Wolfspräsenz auf die deutsche Situation ist daher kaum statthaft (vergleiche Hackländer 2020, Reinhardt & Kluth 2007).

In Mitteleuropa war Herdenschutz seit der Ausrottung großer Beutegreifer allenfalls in der Schafhaltung (temporär) zum Schutz vor Fuchs- (Vulpes vulpes ) und Haushundübergriffen (Canis lupus familiaris ) regional notwendig. Das hat sich mit der Anwesenheit des Wolfes grundlegend geändert. Mit seiner Ausbreitung wird ein großer Teil der Weidetierhalter gezwungen, den Herdenschutz drastisch zu forcieren. Da Wölfe das Reißen von Nutztieren auch in kleinen Herden der Hobbyhaltung erlernen können, müssen sich staatliche Programme (neuerdings) auch explizit diesen Haltungen widmen. Defizitäre Zaunsysteme gefährden aufgrund des Lernverhaltens von Wölfen nicht nur die eigenen Nutztiere, sondern auch die Tiere anderer Halter. Daher ist es zur Verhinderung von Wolfsübergriffen prinzipiell zielführend, auch Hobbyhalter zu schulen und auch dort Herdenschutzmaßnahmen zu finanzieren.

Der definierte Grund- oder Mindestschutz von Weidetieren ist Voraussetzung, um im Falle eines Wolfsübergriffes auf Schafe, Ziegen oder Gatterwild Anspruch auf Schadensersatz zu haben (DBBW 2020c). Der Grundschutz ist ein Kompromiss zwischen dem Aufwand des Tierhalters und der Sicherheit gegenüber Wolfsangriffen. Bei kleinen Wiederkäuern erfüllen 90 cm hohe Netzzäune (und entsprechende Litzen- oder Drahtsysteme) per definitionem die Anforderungen des Grundschutzes, sofern (1) zusätzlich eine ausreichende Spannung (Erdung) gewährleistet ist und (2) der Bodenabstand zur ersten stromführenden Litze nicht mehr als 20 cm beträgt. Letzteres soll vor einem Unterkriechen von Wölfen schützen. Empfohlen werden höhere Elektrozäune (BfN 2019). Für große Weidetiere gelten diese Anforderungen des Grundschutzes nicht; für Gatterwild sind gesonderte Auflagen zu beachten. Ersatzzahlungen für gerissene Pferde oder Rinder werden nicht in allen Bundesländern gezahlt.

Besonders betroffen ist die Haltung kleiner Wiederkäuer nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in den erwerbsorientierten Haltungen in der Regel mobil ist und mit mehreren Herden gearbeitet wird. Die Anforderungen des Grundschutzes zu erfüllen ist hinsichtlich ausreichender Zaunspannung und maximal tolerierbarem Bodenabstand je nach örtlichen Gegebenheiten teils unproblematisch, teils aber auch sehr kompliziert bis nahezu unmöglich. Blockreiche, unebene Flächen, Hänge mit Viehgangeln und querende Bachläufe oder Drainagen erschweren eine wolfsabweisende Zäunung deutlich, da der Bodenabstand zum stromführenden Netz ohne zusätzliche Maßnahmen (etwa Einbringen von Isolatorpfählen) leicht die erforderlichen 20 cm überschreitet. Im Gelände sind diese Schwachstellen nicht immer zu erkennen. Hier ist Herdenschutz also nicht nur eine Materialfrage. Felsige oder überhaupt trockene oder gefrorene Böden senken zudem die Funktionstüchtigkeit der Erdung. Diese ist zwingende Voraussetzung, damit bei einer Tier-Zaun-Berührung der Stromkreis geschlossen wird. Teilweise existieren technische Lösungen (die unterste Litze dient dann als Erdungslitze). Diese Systeme können aber wiederum bei dichter Grasnarbe nicht verwendet werden. Auch auf Flächen mit hohen Strauch- oder Baumanteilen oder überhaupt hoher Vegetation ist die Gewährleistung einer wolfsabweisenden Zaunspannung nicht trivial, da der Zaun durch Kontakt mit der Vegetation Spannung verliert. Das gilt insbesondere auch bei Schneelagen. Felsblöcke, Flächen mit vielen Geländesprüngen oder auch umgestürzte Bäume sind für Wölfe „Einsprunghilfen“, sofern sie nahe genug am Zaun sind. Auch darauf ist bei der Zäunung zu achten.

Betrachtet man die derzeitige Ausbreitung des Wolfes in Deutschland, so ist festzustellen, dass eine Ausdehnung in Regionen, in denen die Gewährleistung des Grundschutzes aufgrund der vorherrschenden standörtlichen Begebenheit überdurchschnittlich viele Probleme verursachen wird, gerade erst begonnen hat. Die aktuellen Verbreitungsgebiete im Norden und Osten Deutschlands umfassen tendenziell Naturräume, die aufgrund ihrer Topografie relativ leicht wolfsabweisend zu zäunen sind. Außerdem wurden bislang die Bundesländer mit den meisten Schaf- und Ziegenhaltungen (Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein) vom Wolf noch kaum besiedelt.

Regional kann Herdenschutz verbessert werden, indem Hütehaltung und Nachtpferche unter Einsatz von Herdenschutzhunden (HSH) wiedereingeführt werden ( 4). Dieses Weidesystem ist aus Sicht des Naturschutzes anderen Haltungsformen tendenziell vorzuziehen (von Korn 2016). Die ausgesprochen arbeitsintensive Option kommt vor allem für großflächig bewirtschaftete Weiden infrage. Für Haltungen in Regionen mit eher kleineren Herden und hohen Anteilen von Hobby- und Nebenerwerbstierhaltern müssten Konzepte entwickelt werden, in denen Herden zu größeren, hütefähigen Einheiten zusammengelegt werden. Das ist theoretisch denkbar, aber praktisch kaum realisierbar.

Der Einsatz von HSH, der keine Anforderung des Grundschutzes ist, kann zusammen mit einem geeigneten Zaunsystem einen ausgesprochen wirksamen Schutz vor Übergriffen gewährleisten, zumindest, sofern es sich um geeignete, ausgebildete Hunde in einer an die Herdengröße angepassten Anzahl handelt. Die Bundesländer Sachsen, Brandenburg und Niedersachen sind im ländlichen Raum insgesamt relativ dünn besiedelt. Hier lassen sich HSH konfliktfreier einsetzen (vergleiche Arbeitsgemeinschaft Herdenschutzhunde o. J.). In Gebieten mit mehr Hundehaltern und Erholungssuchenden ist der Einsatz von HSH dagegen risikoreicher (HSH zeigen sich auch diesen gegenüber teils „aggressiv“). Prinzipiell können HSH auch in Geflügelhaltungen, bei Neuweltkameliden (Lama ,Vicunja ), Equiden und auch in der Mutterkuhhaltung eingesetzt werden.

Es ist jedoch illusorisch anzunehmen, dass jeder Weidetierhalter HSH anschaffen kann oder will. Dies kommt für Haltungen mit wenigen Tieren, großen Standweiden, täglichen Wechseln zwischen Weide und Stall (Milchviehhaltung), bereits ausgeschöpften Arbeitszeitkapazitäten und an Touristenhotspots nicht infrage. Für großflächige Ganzjahres-/Standweiden mit Naturschutzfokus ist der Einsatz von HSH ebenfalls nicht praktikabel: Die Weidetiere verteilen sich auf der Fläche, die oft ausgesprochen deckungsreich ist. Für HSH sind Fläche und Tiere dann nicht ausreichend einsehbar. Ein prinzipiell kritischer Aspekt sind die hohen (Anfangs-)Investitionen. So kostet ein ausgebildeter, zertifizierter HSH mindestens 5.000 Euro. Hinzu kommen die laufenden Kosten für Futter, Tierarzt und Witterungsschutz, die sich auf jährlich etwa 2.000 Euro pro HSH belaufen. Dazu addiert sich der zeitliche Aufwand für die tägliche Betreuung, der für jede einzelne HSH-Gruppe zirka eine zusätzliche Arbeitsstunde erfordert. Näherungsweise muss bei hohem Wolfdruck und abhängig von der Produktionsform pro 100 Schafen mit einem HSH gerechnet werden, wobei je Herde stets mindestens zwei Hunde eingesetzt werden müssen. Da HSH etwa bei Krankheit ausfallen können, sind je HSH immer 1,3 Hundearbeitsplätze vorzuhalten. In Berufsschäfereien wird die Gesamtherde üblicherweise zumindest temporär in zwei oder mehr Herden aufgetrennt. Schon in Haltungen mit 300 Mutterschafen müssten also bei entsprechendem Wolfsdruck für die Neuanschaffung (einmalig) mindestens 35.000 Euro investiert werden. Solche Kosten sind für die meisten Weidetierhalter nicht aus den betrieblichen Einnahmen finanzierbar und bedürfen deshalb zwingend staatlicher Unterstützung. Die mit der Haltung von HSH erforderliche zeitliche Mehrbelastung trifft Wirtschaftseinheiten, deren wöchentliches Arbeitspensum weit über dem Bundesschnitt liegt. Nach LEL (2015) beträgt die wöchentliche Arbeitszeit einer Arbeitskraft in der Berufsschäferei Baden-Württembergs (ohne HSH-Betreuung) durchschnittlich 69,5 h.

In vielen Fällen beziehungsweise Haltungen/Haltungsformen ist ein solch forcierter Herdenschutz also nicht möglich, aber auch (noch) nicht notwendig. Steigt der Wolfsdruck auf ein Niveau wie regional in Brandenburg, sind HSH für einen guten Schutz kleiner Paarhufer aber praktisch Voraussetzung. Rinderhalter sollten in Schwerpunktgebieten Abkalbeweiden und möglicherweise Jungviehweiden mit zusätzlichem Schutz einrichten. Auch der Pferdehaltung mit den zuweilen teuren Tieren ist zu wolfsabweisenden Zäunen zu raten. Der dann erforderliche Mehraufwand zum dort weithin üblichen Einfachlitzensystem wäre teils beträchtlich.

In der Theorie kann der durch die Anwesenheit des Wolfes erzwungene finanzielle Mehraufwand über Förderungen ausgeglichen werden. Das gilt sowohl für die Anschaffung von Weidzaunequipment, HSH und die zusätzliche Arbeitszeit. In keinem Bundesland werden bislang alle aufgeführten möglichen Kostenstellen des zusätzlichen Herdenschutzes gefördert. Noch sind Förderungen vielfach nach der De-minimis-Regelung der EU gedeckelt (auf 20.000 Euro pro Betrieb innerhalb von drei Jahren), sodass Betriebe nur einen ungenügenden Betrag abrufen können. Im Rahmenplan 2020–2023 der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK) sind Förderungen von Herdenschutzmaßnahmen (Ankauf HSH, Zaunequipment und dergleichen) und Hektarfördersätze für den erzwungenen Mehraufwand (maximal 450 Euro/ha) vorgesehen (BMEL 2020). Die Bundesländer können für derartige Fördermaßnahmen nun also Bundesmittel abrufen. Nach der anstehenden EU-Notifizierung der GAK-Maßnahmen ist die betriebliche Gesamtfördersumme auch nicht mehr gedeckelt. Die Höhe der Förderung ist durch das Förderrecht nach der Notifizierung nur formal, nicht aber real begrenzt. Die Wolfsförderung könnte flächendeckend also durchaus so ausgestaltet werden, dass für das Gros der Betriebe bilanziell ein finanzieller Mehrwert entsteht. Problematisch sind die begrenzten zeitlichen Ressourcen in den Betrieben und die psychische Belastung durch die Sorge um die eigenen Tiere.

In Deutschland lagen (bei stark steigendem Trend) die föderalen Ausgaben für Herdenschutzmaßnahmen 2019 bei rund 8 Mio. Euro und die Entschädigungszahlungen für Nutztierrisse bei zirka 420.000 Euro. Während solche Zahlungen für Nutztierrisse in Europa üblich sind, sind präventive Förderungen (etwa Zaunequipment), wie sie mittlerweile fast alle Bundesländer anbieten, in Europa relativ selten (DBBW 2020c).

Die in Deutschland oft ungeachtet der aktuellen Rechtslage diskutierte Reduktion der Wolfspopulation als Unterstützung des betrieblichen Herdenschutzes würde – und das wird oft übersehen – nicht voraussetzungslos zu weniger Nutztierübergriffen führen. Eine nicht-gezielte Bejagung, bei der die Rudelstruktur zerstört wird, kann zur Zunahme von Übergriffen führen, weil Einzeltiere viel eher Nutztiere reißen (Imbert et al. 2016). Eine selektive Bejagung ist wiederum mit teils großem Aufwand verbunden. Die erfolgslose Jagd auf den Rodewalder Rüden, der sich in Niedersachsen auf das Reißen von Rindern und Pferden spezialisiert hatte, kostete den Steuerzahler im Jahr 2019 rund 85.000 Euro (NLWKN 2020). Hat sich eine große Wolfspopulation erfolgreich etabliert, ist eine Reduktion mit jagdlichen Methoden eine große Herausforderung (Mech 2017).

5 Veränderungen in der Landwirtschaft und Weidetierhaltung

Seit der Ausrottung der Wölfe innerhalb der Grenzen der heutigen Bundesrepublik um etwa 1850 bis zum ersten Reproduktionserfolg in Sachsen im Jahr 2000 haben sich die Rahmenbedingungen und Betriebsstrukturen der Landwirtschaft fundamental verändert. Ab den 1950er-/60er-Jahren haben zahlreiche Faktoren (unter anderem Mineraldünger, moderne Maschinen, internationaler Handel) eine rasante Intensivierung und Spezialisierung der Landwirtschaft ausgelöst. Damit einher ging die zunehmende Unwirtschaftlichkeit von standörtlich oder strukturell benachteiligten Flächen und ganzer Regionen sowie die Aufgabe traditioneller Bewirtschaftungsmethoden (Hampicke 2018, Poschlod 2015). Vor allem Offenlandökosysteme unterliegen bis heute einem drastischen Arten- und Individuenrückgang (Schoof et al. 2019a, Seibold et al. 2019).

Wie fast alle Agrarsektoren sind Nutztierhaltungen – und in besonderem Maß weidebasierte Haltungen – ohne Agrarsubventionen nicht mehr darstellbar. Beispielsweise betrug im Zeitraum 2014–2018 die Unterdeckung in der deutschen Milcherzeugung 9,24 Cent pro kg Milch (Büro für Agrarsoziologie und Landwirtschaft 2019). Diese Entwicklungen werden von einem beständig zunehmenden Bürokratieaufwand begleitet (Schoof et al. 2019b). Anstelle von Milchkühen und Rindern in Mutterkuhhaltung wird das Offenland vor allem in Mittelgebirgen zunehmend durch reine Pflege-(Mulch-)Programme offengehalten. Wo diese nicht greifen und Tierhalter fehlen, müssen Aufforstung und Sukzession akzeptiert werden. Beispielhaft dargestellt sei die Entwicklung anhand von fünf Gemeinden im südlichen und mittleren Schwarzwald mit dominierendem (Steillagen-)Grünlandanteil (Tab. 1 und Abb. 5).

Die früher in dieser Region üblichen Gemeinschaftsweiden mit behüteten Herden wurden im 19. Jahrhundert aufgeteilt, privatisiert und, wo standörtlich besonders benachteiligt, auch aufgeforstet (vergleiche Mühleisen et al. 2001). Die verbliebenen Weideflächen sind heute fast alle gezäunt. Auch in der Schafhaltung wurde die Hütehaltung durch die Einführung elektrischer Zaunsysteme faktisch aufgegeben. Der Strukturreichtum der Weiden mit Hudebuchen, Dornsträuchern und Steinriegeln konnte durch Naturschutzmaßnahmen zwar stellenweise erhalten werden, allerdings können moderne Pflegemaßnahmen das traditionelle Weideregime nicht ersetzen. Die Folgen sind eine biozönotische Verarmung des Grünlandes. Lückenbesiedler wie Feld-Enzian (Gentianella campestris ) und Katzenpfötchen (Antennaria dioica ) sowie wehrhafte Arten wie Silberdistel (Carlina acaulis ) und Wacholder (Juniperus communis ) sind drastisch zurückgegangen. Auch Tierarten wie Zippammer (Emberiza cia ) und Kreuzotter (Vipera berus ) wurden vom Nutzungswandel negativ erfasst (Poschlod 2015). Die ehemals landschaftsprägenden Goldhafer-, Mager-, Feucht- und Nasswiesen, Borstgrasrasen und Heiden sind heute in ihrem Bestand stark gefährdet (Finck et al. 2017). Viele dieser Lebensräume sind nach FFH-RL geschützt und befinden sich in einem ungünstigen Erhaltungszustand (Bunzel-Drüke et al. 2019).

Der anhaltende Strukturwandel führte besonders, aber nicht nur in Mittelgebirgen zum „Höfesterben“. Davon betroffen ist auch die Nebenerwerbslandwirtschaft. Nebenerwerbsbetriebe und Hobbyhaltungen stehen bislang kaum im Fokus der agrarpolitischen Agenda, obwohl sie wichtige Partner des angewandten Naturschutzes und der Landschaftspflege sind (vergleiche Metta 2020). Selbst für das wenige verbliebene artenreiche Grünland fehlen regional schon heute geeignete Bewirtschafter, die die Nutzungs- und Habitattradition dieser Flächen fortführen könnten; dieser Trend wird sich nach heutiger Erkenntnislage fortsetzen (Schoof et al. 2019a). Bei Berufsschäfern liegen selbst im förderstarken Baden-Württemberg die durchschnittlichen Stundenlöhne bei nur 6,30 Euro (LEL 2015). Die Beantragung von Fördermitteln für Betriebsflächen, die einen hohen Strukturreichtum aufweisen, erfordert einen weit überdurchschnittlichen Bürokratieaufwand, obwohl es gerade die Flächen sind, die noch nennenswerte Beiträge für den Artenschutz leisten. Außerdem steigt hier das Sanktionsrisiko, da Förderauflagen vielfach praxisfern sind; das trifft vor allem Weidetierhaltungen (Schoof et al. 2019b). Die förderrechtlichen Herausforderungen gelten besonders für großflächige Weideprojekte mit Naturschutzfokus.

Für extensiv wirtschaftende Betriebe mit hohem Futteranteil aus dem Grünland haben sich in den vergangenen Jahren weitere Problemfelder aufgetan. Durch die Auswirkungen des Klimawandels hat in den letzten drei Jahren der Futteraufwuchs regional deutlich abgenommen. Nach eigener Recherche sind beispielsweise im Breisgau (Baden-Württemberg) die Heuerträge im Trockenjahr 2020 um bis zu 50 % zurückgegangen. Die Betriebe müssen Futter teuer zukaufen oder reagieren mit Bestandsreduzierungen. Die Pachtpreise sind in vielen Regionen stark angestiegen (Tietz 2018). Für Schäfereien mangelt es national an einer Verarbeitungskette für Wolle, für alle Weidetierhalter fehlen produktionsnahe Schlacht- und Verarbeitungsbetriebe. In der Summe beschreiben diese Bedingungen den ökonomischen, strukturellen und kulturhistorischen Rahmen, auf den die Ausbreitung des Wolfes trifft.

6 Diskussion, Thesen und Lösungsansätze

6.1 Rechtliche Limitierungen

Die Einwanderung des Wolfs stellt nicht nur Landwirtschaft und Naturschutz, sondern die Gesellschaft insgesamt vor neue Herausforderungen. Der Diskurs dazu wird sehr emotional geführt. Rational-abwägende Zugänge scheinen vielen nicht mehr möglich, evidente Fakten von gezielten Desinformationen zu trennen, fällt schwer. Fakt ist zum Beispiel, dass das bestehende europäische Recht keine Regulation der deutschen Wolfspopulation zulässt, um sie auf dem jetzigen zahlenmäßigen Stand zu halten oder zu dezimieren. Die absolute Individuenzahl der Wölfe ist außerdem nur eins von mehreren Kriterien, die erfüllt sein müssen, um überhaupt eine selektive, stets nach Art. 16 Abs. 1a) bis e) zu begründende Entnahme zu vereinfachen (siehe Abschnitt 2). Es wird auch übersehen, dass für eine Entnahme die Wirksamkeit bezogen auf das Ziel (hier: Vermeidung von ernsten Schäden) mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse nachgewiesen werden muss. Eine nicht-selektive Bejagung würde bei bestehender Gesetzeslage wohl auch schon deshalb scheitern, da der Erfolg für den Herdenschutz nicht wissenschaftlich belegbar wäre. Die Erfolgsaussicht ist nur bei der gezielten Entnahme von übergriffigen Tieren/Rudeln zweifelsfrei gegeben. Wird nur selektiv entnommen, ist eine Reduktion der Population wiederum nicht möglich, selbst wenn sie juristisch zulässig wäre. Aus den genannten Gründen sind auch die diskutierten „wolfsfreien“ Zonen rechtlich unzulässig.

Wie das europäische Recht umgesetzt wird, ist den Mitgliedsstaaten überlassen. Ob der Wolfschutz nun im Jagd- oder im Naturschutzrecht organisiert wird, hat keine Auswirkungen auf den Schutzstatus. Im Diskurs wird häufig auf das Wolfsmanagement in Frankreich verwiesen. Der Wolf wird in den biogeografischen Regionen Frankreichs, in denen er sesshaft ist, im günstigen Erhaltungszustand geführt. Falsch ist jedoch, dass in Frankreich oder anderen EU-Mitgliedsstaaten Wölfe nach grundlegend anderen Regeln gemanagt werden dürfen. Auch dort gilt das EU-Recht. Es gibt auch in Frankreich keine Populationsobergrenze, wohl aber eine nationale Regelung, nach der jährlich 10 % der Population entnommen werden kann. Eine Entnahme erfolgt immer nach der Ausnahmeregelung (Art. 16 Abs. 1 FFH-RL). Wie überall, wo der Wolf in Anhang IV FFH-RL kategorisiert ist, muss auch in Frankreich jede Entnahme selektiv und begründet erfolgen und zumutbare Alternativen müssen zuvor ergriffen worden sein (Ministère de la Transition écologique et solidaire & Ministère de l’Agriculture et de l’Alimentation 2018).

Abseits dieser juristischen Limitierung ist festzuhalten, dass noch in keinem vergleichbar dicht besiedelten Staat eine derart rasche Ausbreitung des Wolfes zugelassen wurde. Wie sich Wölfe in Deutschland bei noch weiter steigender Individuenzahl künftig bei der Nahrungssuche oder bei der sozialen Interaktion verhalten werden, welche Kosten der Herdenschutz dann verursacht und wie sich die Akzeptanz der Bevölkerung entwickelt, wenn Wölfe auch in Stadtnähe sesshaft werden, sind letztlich offene Fragen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit muss davon ausgegangen werden, dass die Ausbreitung des Wolfes kurzfristig nicht nur mehr Nutztierrisse nach sich ziehen wird, sondern auch Auswirkungen auf Ziele und Strategien des Naturschutzes hat.

6.2 Direkte Auswirkungen auf den praktischen Naturschutz

(1) Fallweise kann eine Bewirtschaftungsaufgabe auf ökologisch hochwertigen Offenlandflächen drohen. Strukturreiche, steile, trockene/nasse Flächen sind hinsichtlich ihrer Artenausstattung häufig Fokusräume des Naturschutzes. Hier ist die angepasste Beweidung oft die einzige landwirtschaftliche Nutzungsoption und zugleich die optimale Naturschutzstrategie. Die Beweidung ist dort auch teils zur Erreichung guter Erhaltungszustände einer großen Zahl an Lebensraumtypen (siehe Abschnitt 5) nach Anhang I FFH-RL und Anhangs-Arten (etwa Quendel-Ameisenbläuling,Maculinea arion ) notwendig (Bunzel-Drüke et al. 2019). Da der Herdenschutz auf solchen Flächen deutlich erschwert und der Arbeitsaufwand erhöht wird, könnten sich Weidetierhalter bei entsprechender Wolfsdichte dazu entschließen, die Beweidung solcher Flächen aufzugeben (etwa Alpwirtschaft) oder diese auszuzäunen. Die Habitattradition wäre bei einer Aufgabe gefährdet und damit könnten möglicherweise auch rechtsverbindliche Erhaltungsziele für Lebensraumtypen gemäß Abhang I FFH-RL sowie Anhangs-Arten nicht erreicht werden.

(2) Einer besonderen Situation sind die Betreiber halboffener Weidelandschaften ausgesetzt. Diese Beweidungssysteme sind ein essenzieller Baustein des Biodiversitätsschutzes (siehe Bunzel-Drüke et al. 2019). Tierverluste durch Wölfe können in diesen Gebieten beträchtlich sein (Abb. 6), wenn sich diese auf Fohlen und/oder Jungvieh spezialisiert haben (etwa Oranienbaumer Heide, Sachsen-Anhalt). Da HSH in diesen Flächen nicht infrage kommen beziehungsweise nicht effektiv schützen können, bleiben wolfabweisende Zäune in Form von Festzäunen als Option. Solche Zäune würden aber auch viele andere Wildtiere ein- oder aussperren. Die großflächigen Weideprojekte würden also in ihrer Raumwirkung eingeschränkt werden. Hinzu kommen die hohen Zaunkosten. Ein extensives Beweidungsprojekt mit Rindern und Pferden in Schleswig-Holstein, die Geltinger Birk, hat eine Außenzaunlänge von rund 21 km. Der Zaun wurde in den letzten Jahren tierschutzkonform erneuert (fünf glatte Drähte, zwei unter Strom). Die Kosten dafür lagen bei rund 220.000 Euro. Eine wolfsabweisende Einzäunung wäre je nach Ausführung noch deutlich teurer gewesen. Das Weideareal, das heute auf zirka 2,5 km ungezäunt in die Ostsee ausläuft, müsste zudem verkleinert werden. Auf einen erweiterten Herdenschutz kann zukünftig in vergleichbaren Projekten prinzipiell nur dann verzichtet werden, wenn kein Nutzungsanspruch besteht und bei getöteten Tieren keine Konflikte mit Erholungssuchenden zu erwarten sind. Die größte Gefahr durch die Wölfe liegt für solche Weidesysteme in der vom Wolf ausgelösten Verhaltensänderung der Herden. Das Handling der Herde spielt eine entscheidende Rolle. Die Weidetiere sollen sich zwar möglichst natürlich verhalten, bleiben im rechtlichen Sinne aber Haustiere in menschlicher Obhut. Insofern müssen Kälber Ohrmarken gesetzt, Rinder müssen jährlich geblutet werden und Fohlen im Jahr der Geburt einen Chip bekommen. Durch das „Verwildern“ würde sich der Betreuungsaufwand für die Projekte um ein Vielfaches erhöhen. Auch das würde die Kosten enorm steigern. Die Einrichtung und Aufrechterhaltung von halboffenen Weidelandschaften ist also durch die Ausbreitung des Wolfs gefährdet.

(3) Die Ausbreitung des Wolfs führt insgesamt zu einer drastischen Zunahme von wolfs- und damit auch wildtierabweisenden Zäunen. Regional (etwa Schleswig-Holstein) waren und sind selbst in der Schafhaltung Einfachlitzensysteme üblich, die für alle Wildtiere leicht passierbar sind. Da Schafe Wasser meiden, wurden Gewässerverläufe bislang oft nicht gezäunt. In der Rinder- und Pferdehaltungen sind Zäune, die für querende Wildtiere ein absolutes Hindernis sind, noch die Ausnahme. Der nun erforderliche Herdenschutz erzwingt eine Aufrüstung zahlreicher Zaunanlagen. Damit werden die Bewegungsräume vieler Wildtiere eingeschränkt, für einige davon sind auch kleine strukturreiche Weiden ideale Lebensräume (etwa Feldhase,Lepus europaeus ). In der Milchviehhaltung ist die Anwesenheit des Wolfs ein weiterer Grund, die Abläufe auf Stallhaltungssysteme mit intensiver Mähwiesennutzung umzustellen – zumindest, wenn Übergriffe auf Jungtiere zunehmen sollten. Auch dieses wäre kontraproduktiv für Naturschutzziele.

(4) Um die Zaunkontrolle zu erleichtern und den Herdenschutz zu gewährleisten (etwa durch die erforderliche elektrische Spannung), ist es vorstellbar, dass die Zaunlänge fallweise angepasst, also möglichst kurzgehalten wird. Dies würde zu kleineren Flächen und damit zu temporär höheren Besatzdichten und damit zu einer steigenden Beweidungsintensität führen. Diese Entwicklung wäre aus Sicht des Biodiversitätsschutzes bedenklich.

(5) Weiden in Lagen mit langen Wald-Offenland-Grenzen sind aus Sicht des Herdenschutzes problematisch. Herabfallende Äste können den Zaun treffen und Bäume teils als Einsprunghilfe dienen. Daher werden Weidetierhalter versucht sein, die Zäune in Richtung Offenland zu verlegen. Saumgesellschaften zwischen Wald und Offenland können eine hohe Biodiversität mit einer großen Anzahl gefährdeter Arten beherbergen (Metzing et al. 2018). Die neuen Anforderungen könnten die Qualität dieser Lebensräume mindern, wenn ihre Nutzung entfällt.

(6) Eine besondere Problematik kann sich für Waldweiden in Wolfsgebieten ergeben. Wie hier stabile und sichere Zaunsysteme errichtet werden können, ist noch ungeklärt.

(7) Schließlich sind auch Haltungsaufgaben ein realistisches Szenario: Einerseits ist der Herdenschutz teuer. Nicht alle Bundesländer fördern alle entstandenen neuen Anforderungen. Die Sorge um die Tiere und Verluste durch Risse sind eine hohe emotionale Belastung. Die zeitliche Mehrbelastung durch zusätzlichen Herdenschutz wurde dargestellt. In welchem Ausmaß dies alles zu Aufgaben von Tierhaltungen führen wird, ist spekulativ. In jedem Fall würde der Naturschutz wichtige Partner verlieren, die ihre Tiere im Sinne des Tierwohls und vielfach auch in Identifikation mit Naturschutzzielen halten. Der Einstieg von Junglandwirten oder engagierten Hobbyhaltern in die Weidetierhaltung scheint uns durch den nun zu erwartenden Mehraufwand (weiter) an Attraktivität zu verlieren. Insgesamt sind Betroffenheit und Emotionalität der Landwirte nachvollziehbar. Werden Weidetiere von Wölfen angegriffen, kann dies neben Verhaltensänderungen auch zu Ausbrüchen führen. Die Folge können Unfälle auf Verkehrswegen mit erheblichen finanziellen Folgen sein. Gegen solche Schäden sind Tierhalter versichert, aber bei jedem Schadensfall wird dem Versicherer ein Kündigungsrecht eingeräumt. Vermutlich würde der Versicherer dieses erst nach mehreren Schadensfällen wahrnehmen; dann wären Weidetierhalter aber gezwungen, ihre Arbeit einzustellen, da alternative Versicherer das Risiko sicherlich scheuen würden. Schäden müssen vom Versicherer außerdem nur dann ersetzt werden, wenn die Wirkungskette unmittelbar mit der Wolfsattacke in Verbindung gebracht werden kann, was nicht immer leicht gelingt.

(8) Der Diskurs hat zu neuen Fronten geführt. Weidetierhalter sind vom Verhalten einiger Naturschutzverbände, die sich nach ihrer Auffassung stärker für den Wolfs- als den Weidetierschutz einsetzen, zutiefst enttäuscht. Dass trotz des rasanten Wachstums der Wolfspopulation und des strengen rechtlichen Schutzes noch Spendengelder für Wölfe gesammelt werden, interpretieren viele Landwirte als Affront. Der Dissens sorgt dafür, dass sich Weidetierhalter auch eher von anderen Naturschutzanliegen distanzieren. Naturschutz gemeinsam mit der Landwirtschaft zu realisieren, eine zwingende Notwendigkeit zum Nutzen beider Partner, wird damit erschwert.

6.3 Ansätze für ein effektives Konfliktmanagement

(1) Ordnungsrecht: Es besteht für uns kein Zweifel, dass ab einer gewissen Wolfsdichte, die in : Es besteht für uns kein Zweifel, dass ab einer gewissen Wolfsdichte, die in den oben genannten Bundesländern bereits erreicht scheint, der Abschuss von Wölfen ordnungsrechtlich wesentlich vereinfacht werden muss. Der bestehende europäische Rechtsrahmen verhindert das. Die FFH-RL wurde zu einem Zeitpunkt formuliert, als weder Ansiedlung, Ausbreitung noch die Dimension der Auswirkungen allen Vertragspartnern völlig klar waren. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist auf das europäische Recht angewiesen. Viele Arten und Lebensraumtypen sind nur mithilfe eines grenzüberschreitenden Schutzansatzes zu sichern. Ein rechtlich flexiblerer Umgang mit Wölfen darf keinesfalls zu einem Dammbruch im europäischen Naturschutzrecht führen und als Präzedenzfall die Naturschutzrichtlinien insgesamt schwächen. Mit der Europäischen Kommission wäre eine Diskussion zu führen, die folgende Aspekte beleuchtet und pragmatische Lösungen sucht:

Es besteht ein Konflikt hinsichtlich der Verpflichtung zur Erreichung des günstigen Erhaltungszustandes beim Wolf und von Anhang-I-Lebensraumtypen und möglicherweise Anhang-II- und -IV-Arten, deren guter Erhaltungszustand im Falle eines Wegbrechens der Weidetierhaltung nicht mehr realisierbar wäre. Es bedarf einer ergebnisoffenen Abwägung konfligierender Schutzziele innerhalb der FFH-RL (und hinsichtlich der Ziele der Vogelschutzrichtlinie).

Wölfe wären aus rein fachlicher Sicht nicht gefährdet, selbst wenn das heutige Populationsniveau regulativ stabilisiert werden würde. Die erreichten Individuenzahlen, das eher geringe Inzuchtrisiko und das aktuell exponentielle Populationswachstum legen diesen Schluss nahe. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die bisher gültigen Kriterien zur Bestimmung des Erhaltungszustandes explizit bei dieser Art aus fachlicher Sicht diskutabel sind. Es muss auch geklärt werden, ob die gegebenen Spielräume bei der Auslegung dieser Bewertungskriterien zu einer abweichenden Beurteilung des Erhaltungszustandes seitens der Mitgliedstaaten führen. Möglicherweise wäre es zielführend, bei der Bewertungsmethode bereits auf europäischer Ebene stärker auf die Biologie einzelner Arten einzugehen.

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