Des Guten zu viel
Meine Kollegin Waltraud ist als kompromisslose Umweltschützerin bekannt und gefürchtet. Bei aller Notwendigkeit und Liebe zu Natur und Umwelt sollte jedoch immer die Sicherheit des Menschen – gerade bei den häufigen Aufenthalten in Gleisbereichen bei unserer Arbeit als Umweltbauüberwacher – an erster Stelle stehen.
Waltraud liebt Reptilien. Besonders Ringelnattern haben es ihr angetan. Schon als kleines Kind sammelte sie Reptilien und Schlangen. Ihre Leidenschaft brachte sie auch dazu, Biologin zu werden und sich für den Schutz der Tiere einzusetzen. Das ehrt sie sehr, nur leider schießt sie gelegentlich über das Ziel hinaus.
So auch bei dem nächsten Projekt, einer ICE-Strecke, bei der beim Abbruch und Neubau einer Brücke jede Sekunde zählt. Der Termin für den Abbruch ist bereits seit Jahren auf eine bestimmte Nacht festgesetzt. Jeder Handgriff muss sitzen – es darf zu keinen Verzögerungen kommen. Jede Minute, die die Strecke länger gesperrt bleibt, kostet die Baufirma zu der Zeit rund 1.000 € Strafe.
Auf dem Bahndamm befindet sich eine alte, locker aufgeschichtete Steinmauer, die den Hang abstützt. Ein traumhafter Lebensraum für die Ringelnattern in dem Gebiet. Den gesamten Sommer über habe ich Begehungen gehabt, bei denen ich einige Tiere absammeln und in ein dafür vorbereitetes Ersatzhabitat bringen konnte.
Etwa eine Woche vor Baubeginn bin ich mit Waltraut wegen einer anderen Sache in der Gegend unterwegs. Sie bittet mich, ihr doch kurz das Gebiet zu zeigen. Auf der Baustelle herrscht normaler Betrieb, die Strecke ist noch nicht gesperrt, alle Arbeiten liegen im zeitlichen Rahmen. Waltraut sieht die Mauer und legt ihre Stirn in Falten.
„Bist du sicher, dass du auch wirklich alle Tiere abgefangen hast? Es könnten doch welche entkommen sein und sich in die Mauer zurückgezogen haben?“, grübelt sie.
„Ich habe einige Tiere gefunden und umgesiedelt. Ich schätze die Möglichkeit, dass sich Ringelnattern in der Mauer befinden, als sehr, sehr gering ein.“
Da kommt der Polier der Baustelle auf uns zu, um uns zu begrüßen. Waltraud stellt sich vor und legt auch gleich los: „Wie genau wollen Sie den Abriss durchführen? Ich habe mich gerade mit meiner Kollegin besprochen, also die Möglichkeit, dass sich noch Ringelnattern in der Mauer befinden, ist nicht ausgeschlossen!“
„Wie ich mir das vorstelle? In der Nacht auf Sonntag wird um 22 Uhr die Strecke dicht gemacht, dann kommt unser Bagger zum Einsatz und reißt die komplette Brücke samt Mauer ab.“
„Nein, das geht natürlich überhaupt nicht,“ entrüstet sich Waltraud, die sich, wenn es um ihre Lieblinge geht, auch ungefragt in Projekte einmischt, die sie eigentlich nichts angehen. „Frau Schmitz wird anwesend sein und sich beim Abriss neben den Bagger stellen und nach jeder Baggerschaufel nachsehen, ob Tiere zu sehen sind!“
Die Vorstellung ist so abwegig, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann, während der Polier sie entsetzt ansieht: „Wie stellen Sie sich das vor? Im Arbeitsraum des Baggers wird sich zu dem Zeitpunkt kein Mensch aufhalten. Das ist viel zu gefährlich!“
Ich gehe dazwischen, beruhige den Polier und sage dass alles abgeklärt ist und wir es so machen, wie es mit der Umweltbehörde abgesprochen ist. Allerdings wird die Autofahrt nach Hause wieder einmal von langen Diskussionen geprägt sein, bei denen es um Reptilien geht und um die Frage, inwieweit man sich in die Projekte seiner Kollegin einmischen darf …
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