Von „naturnah“ weit entfernt - Hemerobie der Wälder in Deutschland
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Der Grad der kulturbedingten Nutzungseinflüsse auf Ökosysteme wird auch als Hemerobie bezeichnet (griech. hemeros = kultiviert, gezähmt). Ausgangsgröße bei der Bemessung des Hemerobiegrades von Wäldern ist der „ahemerobe“ Zustand eines völlig unbeeinflussten Urwaldes. Bestimmte Wald-Merkmale wie zum Beispiel die Baumartenzusammensetzung und strukturelle Veränderungen, die auf eine Waldnutzung zurückzuführen sind, lassen Rückschlüsse auf den Grad der Abweichung vom natürlichen Ausgangszustand zu. Daraus abgeleitet können mindestens neun Hemerobiestufen definiert werden (siehe Tab. 1).
Erstmals wurden in Österreich für ein ganzes Land die Hemerobiestufen speziell von Wäldern über ein Stichprobennetz erfasst (Koch & Grabherr 1998). Für die Einstufung wurden 11 Kriterien definiert, wobei der „Naturnähe“ der Baumartenkombination sowie der Bodenvegetation hohe Gewichtungen beigemessen wurden.
Für Deutschland fehlt immer noch eine derart aussagekräftige Erhebung. Von Walz & Stein (2014) wurde zwar für alle Nutzungstypen eine „Karte der Hemerobie Deutschlands“ veröffentlicht, die allerdings die Wälder in einer sehr groben Hemerobie-Abstufung darstellt. Darin sind alle Wälder mit annähernd PNV-identischer Vegetation als „oligohemerob“, alle nicht PNV-identischen Wälder als „mesohemerob“ klassifiziert. Nach einer Einschätzung des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung (siehe Jedicke 2003) sind die Wälder in Deutschland je nach Zustand mindestens in die ersten fünf Hemerobiestufen (H1 bis H5) einzuordnen (siehe Tab. 1). Damit gehören Wälder im Vergleich zum agrarisch geprägten Offenland noch zu den naturnächsten Land-Ökosystemen, auch wenn sie durch Bewirtschaftungsmaßnahmen zum Teil stark beeinflusst werden.
Bewertungsmerkmale
Bestimmte Waldzustände mit bestimmten Merkmalskombinationen, die einer Hemerobiestufe zugeordnet werden können (siehe Tab. 1), lassen sich mit Hilfe der Daten der Bundeswaldinventur (BWI) ohne größeren Aufwand quantitativ erfassen. Die jeweils über die BWI-Datenbank (https://bwi.info/) zu erfassenden Merkmale lassen sich in folgende Kategorien unterteilen: oligo- bis mesohemerobe Wälder, mesohemerobe Wälder, meso- bis euhemerobe Wälder und euhemerobe Wälder. Die ausführlichen Untergruppierungen und deren Definitionen finden Sie unter Webcode NuL5684 .
Einigkeit dürfte darin bestehen, dass vollkommen unbeeinflusste Urwälder in Deutschland nicht mehr existent sind. Gleichwohl kommen in angelegenen Gebirgslagen noch kleinflächig Primärwald-Relikte wie zum Beispiel im Harz, im nordhessischen Edersee-Gebiet, im Bayerischen Wald und am Alpennordrand vor. Solche Relikte können der Hemerobiestufe H1 zugeordnet werden und umfassen nach eigenen Erhebungen bundesweit nicht mehr als 650 ha (Panek 2011). Hinzuzurechnen wären noch alte Wälder in Reservaten, in denen seit mindestens rund 100 Jahren keine Holznutzung mehr stattgefunden hat. Derartige Reservate mit sehr naturnahen, primärwaldähnlichen Strukturen umfassen bundesweit noch rund 2.260 ha (Panek 2011).
Bei den „Wäldern mit geringem Holzeinschlag“ (H2) wurden neben den „alten“ Laubwäldern (laut BWI rund 270.155 ha) auch die dauerhaft nutzungsfreien Flächen mit natürlicher Waldentwicklung (sogenannte NWE-Flächen) einbezogen, die aktuell etwa 324.000 ha umfassen (siehe auch Wildmann et al. 2014).
Ergebnisse
Auf der Grundlage der definierten Wald-Merkmale und unter Hinzuziehung der Flächendaten der Bundeswaldinventur wurden die Flächenanteile der einzelnen Hemerobiestufen für den deutschen Wald rechnerisch ermittelt. Die Ergebnisse sind in Tab. 2 zusammenfassend dargestellt.
Die Auswertung zeigt eindrücklich, wie weit sich der deutsche Wald von seinem Naturzustand bereits entfernt hat. Danach sind 77 % der Wälder in Deutschland durch menschliche Eingriffe überwiegend stark beeinflusst (H4 + H5), während nur gut 5 % der Waldbestände als relativ „schwach“ beeinflusst gelten können (H1 + H2). Bei den „alten Laubwäldern“ blieb der Zustand der in der Regel stark aufgelichteten Schirmschlag-Buchenbestände unberücksichtigt. Junge Laubholzbestände sind häufig als (bedingt) naturferne Altersklassen-Reinbestände ausgeprägt. In der Bewertung unberücksichtigt blieben außerdem auch Waldbodenveränderungen, die sich in einer teilweise stark beeinträchtigten Bodenvegetation durch vermehrtes Auftreten von Neophyten und/ oder sogenannten Störungs- und Eutrophierungszeigern äußern. Das Ausmaß der „Ruderalisierung“ der Wälder durch walduntypische Arten veranschaulicht eine Untersuchung im Rahmen der Bodenzustandserhebung II in den Ländern Hessen und Niedersachsen (Meyer & Schmidt 2008), wo bereits rund 80 % der dort untersuchten Buchenwälder mittlerer Standorte durch das Auftreten von Störungszeigern und Offenlandarten in der Bodenvegetation gekennzeichnet sind, oft verursacht durch forstliche Eingriffe. Eine genauere Erfassung dieser Einflussfaktoren dürfte das Gesamtergebnis in der Summe noch stärker in Richtung Hemerobiestufe H5 verschieben.
Schlussfolgerungen
Mit der durchgeführten Erhebung wurde der Versuch unternommen, eine differenzierte Aussage über den Grad der Hemerobie (Kultureinflüsse) für die deutschen Wälder zu treffen. Die Ergebnisse dieser Übersichtsanalyse zeigen klar, dass sich die Wälder in Deutschland auf einem gravierend hohen Teil ihrer Fläche in einem überwiegend stark beeinflussten, naturfernen Zustand befinden, für den allein die deutsche Forstwirtschaft Verantwortung trägt. Dieser Zustand ist durch eine mehr oder weniger fehlende „ökologische Elastizität bzw. Plastizität“ der Forst-Ökosysteme charakterisiert, das heißt, die Forstbestände sind vor allem bei wechselnden Umweltbedingungen extrem instabil und nur wenig anpassungsfähig. Dies ist vor dem Hintergrund des schnell fortschreitenden Klimawandels insofern besorgniserregend, als damit die aktuelle Ausgangslage extrem ungünstige Voraussetzungen für die Entwicklung naturnaher, klimaplastischer Wälder bietet. Das hohe Schadensrisiko naturferner Forstbestände verdeutlichen die aktuellen Zahlen zu den in den letzten drei Jahren entstandenen Kalamitätsflächen – fast 300.000 ha nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Durch großflächige Schadholzräumungen wird die Ausgangslage weiter extrem verschlechtert. Nach Berechnungen des Thünen-Instituts für Waldökosysteme (Bolte 2021) sind die Fichtenbestände auf einer Risikofläche von 2,28 Mio. ha zukünftig weiter durch Trockenstress und Schädlingsdruck akut bedroht. Durch forstliche Maßnahmen stark ausgedünnte und aufgelichtete Baumbestände tragen auch im Laubholz mit dazu bei, dass die Wasserspeicherfähigkeit unserer Wälder weiter abnimmt und Waldböden infolge fehlender Beschattung weiter austrocknen.
Eine der größten Herausforderungen wird letztlich sein, angesichts der dramatischen Klimaveränderungen einen Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft möglichst schnell einzuleiten – weg von der derzeit priorisierten, intensiven Holzproduktion hin zu einem ökologisch orientierten Waldmanagement, das sich vorrangig um die Bewahrung der Funktionstüchtigkeit unserer Waldökosysteme kümmert.
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