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VGH Kassel, Beschluss vom 12.5.2021 – 3 B 370/21

FFH-Verträglichkeitsprüfung bei Baugenehmigungen

§ 34 Abs. 8 BNatSchG befreit Vorhaben in Gebieten mit Bebauungsplänen nach § 30 BauGB und während der Planaufstellung nach § 33 BauGB von der Pflicht, eine FFH-Verträglichkeitsprüfung durchzuführen. Diese Regelung ist jedoch nicht anwendbar, wenn im Rahmen der Bauleitplanung keine beziehungsweise keine ausreichende Prüfung durchgeführt wurde.
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 Für Arten wie die Uferschnepfe muss in der FFH-Verträglichkeitsprüfung der kritische Schallpegel betrachtet werden , wenn von dem geplanten Projekt Lärmemissionen ausgehen können.
Für Arten wie die Uferschnepfe muss in der FFH-Verträglichkeitsprüfung der kritische Schallpegel betrachtet werden , wenn von dem geplanten Projekt Lärmemissionen ausgehen können. Julia Schenkenberger
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§ 34 BNatSchG verlangt die Durchführung einer Verträglichkeitsprüfung für alle Projekte, die – einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen – ein Natura-2000-Gebiet erheblich beeinträchtigen könnten. Um eine „doppelte Prüfpflicht“ zu vermeiden, nimmt § 34 Abs. 8 BNatSchG Vorhaben i.S.v. § 29 BauGB (z.B. Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen oder Aufschüttungen und Abgrabungen größeren Umfangs), die bereits im Rahmen der Bauleitplanung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung unterzogen wurden, vom Geltungsbereich des § 34 BNatSchG aus.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) musste nun darüber entscheiden, ob trotz der Regelung des § 34 Abs. 8 BNatSchG vor Erteilung der Baugenehmigung für ein Logistikzentrum eine FFH-Verträglichkeitsprüfung erforderlich gewesen wäre. In seinem Beschluss macht der VGH deutlich, dass § 34 Abs. 8 BNatSchG nur dann zum Tragen kommen kann, wenn bereits „auf der Ebene des Bebauungsplans sämtliche gebietsrelevanten Auswirkungen des planerisch vorbereiteten Projekts geprüft wurden“. Ein Rückgriff auf § 34 Abs. 8 BNatSchG ist daher zum Beispiel nicht möglich, wenn es sich um ein Vorhaben handelt, das auf den Festsetzungen eines „alten Bebauungsplans“ beruht, der vor der Meldung oder Ausweisung eines vom Plan betroffenen Natura-2000-Gebiets aufgestellt wurde. Da ein Bebauungsplan, der mit negativen Auswirkungen auf ein Natura-2000-Gebiet verbunden sein könnte, nicht ohne die europarechtlich vorgeschriebene Verträglichkeitsprüfung umgesetzt werden darf, ist bei solchen „alten Bebauungsplänen“ zu überprüfen, ob das beantragte Vorhaben mit den Erhaltungszielen des Natura-2000-Gebiets verträglich ist, bevor die Entscheidung über eine Baugenehmigung getroffen werden kann.

Auch wenn auf der Ebene der Bauleitplanung eine FFH-Verträglichkeitsprüfung zwar durchgeführt wurde, diese aber unvollständig ist und sie den Anforderungen an eine „angemessene Prüfung“ nicht genügt, ist § 34 Abs. 8 BNatSchG nicht anwendbar. Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen dargelegt, was unter einer „angemessenen Prüfung“ zu verstehen ist. So sind vor der Genehmigung von Plänen und Projekte n„unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sämtliche Gesichtspunkte der Pläne oder Projekte zu ermitteln, die für sich oder in Verbindung mit anderen Plänen oder Projekten die für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungsziele beeinträchtigen können“ (EuGH, Urt v. 24.11.2011 – C-404/09 und Urt. v. 7.11.2018 – C-461/17). Die Prüfung darf nicht lückenhaft sein; sie muss vollständige, präzise und endgültige Feststellungen enthalten, die geeignet sind, jeden vernünftigen wissenschaftlichen Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen auf das Natura-2000-Gebiet auszuräumen (EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – C-258/11, Urt. v. 21.7.2016 – C 387/15 und C 388/15).

Unter Verweis auf die Schlussanträge in der Rechtssache C-127/02 (EuGH) hebt der VGH Kassel hervor, dass jede Beeinträchtigung von Erhaltungszielen erheblich ist und daher als Beeinträchtigung des Natura-2000-Gebiets zu werten ist. Nur Beeinträchtigungen, die kein Erhaltungsziel nachteilig berühren, dürfen demnach als „unerheblich“ eingestuft werden. Es ist Aufgabe der FFH-Vorprüfung und der gegebenenfalls anschließenden Verträglichkeitsprüfung, festzustellen, ob ein Vorhaben zu einer „erheblichen Beeinträchtigung“ eines Natura-2000-Gebiets führen könnte. Im Rahmen der Vorprüfung (Screening) werden die von dem geplanten Projekt ausgehenden Auswirkungen auf die Erhaltungsziele oder Schutzzwecke des Natura-2000-Gebiete überschlägig abgeschätzt. Können Beeinträchtigungen nicht offensichtlich ausgeschlossen werden, so muss sich an die Vorprüfung eine umfassende FFH-Verträglichkeitsprüfung anschließen. Das Ergebnis der Prüfungen ist nachvollziehbar zu belegen.

Im vorliegenden Fall stellt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass weder die im Januar 2020 durchgeführte Vorprüfung noch die FFH-Verträglichkeitsprüfung vom April 2021 erkennen lassen, dass „Ermittlungen vor Ort oder Kartierungen durchgeführt wurden, welche die dort getroffenen Einschätzungen hinsichtlich des Vorliegens beziehungsweise Nichtvorliegens erheblicher Beeinträchtigung der Natura-2000-Gebiete tragen könnten“. Bezüglich der Vorprüfung ist einem Vermerk der zuständigen Fachstelle für Naturschutz und Landschaftspflege lediglich zu entnehmen, dass die Prüfung auf der „Aktenlage und den Orts- und Aktenkenntnissen des Verfassers“ beruhe und davon ausgegangen werde, dass vorhandene und geplante Gehölzsäume optische und akustische Beeinträchtigungen wirksam abpufferten. Durch derart vage Angaben, so der VGH Kassel, könne „eine vorgeblich durchgeführte FFH-Vorprüfung (Screening)“ nicht nachvollziehbar belegt werden. Weiter führt das Gericht bezogen auf das streitige Vorhandensein einzelner geschützter (und in den angrenzenden Natura-2000-Gebieten vorkommender) Arten aus, dass sich die zuständige Behörde nicht darauf berufen könne, die behaupteten Arten-Vorkommen lägen schon so weit in der Vergangenheit, dass sie für die Prüfung keine Rolle mehr spielten. Denn auch dies entbinde die Behörde nicht davon, so der VGH, auf konkrete Tatsachenermittlungen bezogene Prüfergebnisse vorzulegen, die verifizierbar belegen, dass die genannten Arten heute nicht mehr anzutreffen sind und daher erhebliche Beeinträchtigungen der Natura-2000-Gebiete ausgeschlossen werden können.

Ob hier eine FFH-Vorprüfung ausreichend oder vielmehr eine vertiefende FFH-Verträglichkeitsprüfung angebracht gewesen wäre, musste der VGH letztlich nicht entscheiden, da im April 2021 doch noch eine FFH-Verträglichkeitsuntersuchung erstellt wurde. Allerdings ist auch diese derart mangelhaft, dass sie nicht den Nachweis erbringen kann, dass von dem Bauvorhaben keine erheblichen Beeinträchtigungen im Sinne des § 34 Abs. 1 BNatSchG/Art. 6 Abs. 3 FHH-RL auf die Natura-2000-Gebiete ausgehen. Das Gericht führt hierzu aus: „Trotz ihres Umfangs ist die von der Beigeladenen eingereichte FFH-Verträglichkeitsuntersuchung vom April 2021 ebenso unzureichend wie der Vermerk über die FFH-Vorprüfung vom 24. Januar 2020. Denn auch die FFH-Verträglichkeitsuntersuchung leidet an dem Mangel, dass sie nicht aufgrund aktueller und verlässlicher Angaben über das Inventar der Lebensraumtypen und Arten erstellt wurde und damit unklar bleibt, ob sämtliche Auswirkungen des Vorhabens auf die Schutzzwecke und Erhaltungsziele der Natura-2000-Gebiete in den Blick genommen wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob die Prüfung unter Anwendung der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgenommen wurde.“ Die bemängelte FFH-Verträglichkeitsprüfung stützt sich auf allgemeine Datenerfassungsblätter und Berichte, wie die Standarddatenbögen der Natura-2000-Gebiete, die Grunddatenerhebung aus 2010, Artdaten der Vogelschutzwarte und des Onlineportalportals „Ornitho“. Außerdem wird mit „Luftbildauswertung und Ortsbegehung“ diejenige Datengrundlage genannt, die, so der VGH, „Inhalt einer qualifizierten FFH-Verträglichkeitsuntersuchung zu sein hat, nämlich die Erfassung der Arten vor Ort durch Begehung des Geländes, Kartierung und Bestandsaufnahme. Aufgrund der vor Ort ermittelten Tatsachen hätte sodann die Einschätzung zu erfolgen, ob erhebliche Beeinträchtigungen des Gebiets zu erwarten sind.“ Allerdings könne der FFH-Verträglichkeitsuntersuchung nicht entnommen werden, dass derartige Untersuchungen auch tatsächlich stattgefunden hätten. Vielmehr beziehe sich die Untersuchung ausschließlich auf Datenbestände verschiedener Auskunftsstellen. Dabei werde weder deutlich gemacht, wie umfassend die dortigen Erfassungen tatsächlich sind, wann sie durchgeführt wurden und ob und gegebenenfalls aufgrund welcher Umstände sie auch heute noch zur Beurteilung des Vorhabens herangezogen werden können. Wenn hinsichtlich der Nutzung des Gebiets durch verschiedene, in den angrenzenden Natura-2000-Gebieten vorkommenden geschützten Vogelarten darauf verwiesen wird, aktuelle Vorkommen dieser Arten könnten weder aus ornitho.de noch den Daten des Vogelschutzwarte entnommen werden, belege auch dies, so das Gericht, dass eigene Ermittlungen vor Ort nicht durchgeführt wurden. Der VGH Kassel betont, dass eine konkrete Kartierung der im Wirkraum des Vorhabens vorkommenden Vogelarten auch deshalb zwingend erforderlich gewesen wäre, weil potenzielle Bruthabitate der geschützten Vogelarten (zum Beispiel Wiesenweihe, Rohrweihe; Wachtel) innerhalb der artspezifischen Fluchtdistanzen oder Störradien liegen. Weiter bemängelt das Gericht, dass die Beurteilung der Empfindlichkeit der Vögel nicht aufgrund der Effektdistanz, sondern anhand der Fluchtdistanz erfolgt ist. Für etliche lärmempfindliche Arten hätte zudem auch der kritische Schallpegel betrachtet werden müssen (wie Bekassine, Drosselrohrsänger, Grauspecht, Großer Brachvogel, Kiebitz, Rohrschwirl, Tüpfelsumpfhuhn, Uferschnepfe, Wachtel, Wachtelkönig, Wasserralle und Zwergdommel). Weitere die Erhaltung von Vogelbeständen beeinflussende Wirkfaktoren wurden entweder gar nicht oder nur am Rande erörtert.

Fazit des VGH Kassel: „Die den Bewertungen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung vom April 2021 zugrundeliegenden Annahmen zur Beeinträchtigung von Vogelarten erweisen sich auch im Übrigen bei summarischer Prüfung als wissenschaftlich nicht tragfähig.“ Daher kann eine Beeinträchtigung der angrenzenden Natura-2000-Gebiete infolge der erteilten Baugenehmigung nicht ausgeschlossen werden. Damit, so das Gericht, erweist sich die Baugenehmigung als offensichtlich rechtswidrig.

Autoren

Ass. jur. Jochen Schumacher und Dipl.-Biol. Anke Schumacher arbeiten am Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen. Das Institut ist interdisziplinär orientiert und befasst sich insbesondere mit Fragestellungen, die sowohl naturschutzfachlich-ökologische Aspekte als auch (umwelt- und naturschutz-)rechtliche Problemstellungen aufweisen.

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