Schützt Art. 12 Abs. 1 Buchst. d FFH-RL auch aktuell nicht genutzte Fortpflanzungs- und Ruhestätten?
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Anmerkungen zum Urteil des EuGH vom 2.7.2020 – C-477/19
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichts Wien mit Fragen zur Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der FFH-Richtlinie (92/43/EWG) zu befassen. Art. 12 FFH-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, für alle in Anhang IV Buchst. a FFH-RL genannten Tierarten ein strenges Schutzsystem einzurichten. Dieser Schutz erstreckt sich auch auf die Fortpflanzungs- und Ruhestätten dieser Tierarten. Verboten ist jede Beschädigung oder Vernichtung dieser Stätten.
Nachfolgend wird das Urteil vorgestellt, es wird auf die Zulässigkeit bestimmter Handlungen im Rahmen des § 44 Abs. 5 BNatSchG näher eingegangen und weiterführende Praxishinweise werden gegeben.
Sachverhalt
Dem vorliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Gegen den Dienstnehmer eines Bauträgers wurde seitens der zuständigen Behörde eine Geldstrafe und bei Nichteinbringung eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt, weil er Fortpflanzungs- oder Ruhestätten des Feldhamsters(Cricetus cricetus) beschädigt oder zerstört haben soll. Die Art ist nach Anhang IV der FFH-Richtlinie streng geschützt.
Dem Bauträger war das Artvorkommen bekannt gegeben worden und ein Sachverständiger hatte „insbesondere im Hinblick auf den gebotenen Schutz der am Baugrundstück siedelnden Feldhamster […] vor dem Beginn aller Bauarbeiten auf fachkundige Weise alle Hamsterbaue (genau genommen alle Hamsterbaueingänge) kartiert und in weiterer Folge vor Beginn einer Bautätigkeit in einem bestimmten Bereich ermittelt, ob die Hamsterbaue in diesem Bereich bewohnt sind oder nicht“. Auf den in Folge für die eigentliche Bautätigkeit erforderlichen Flächen war als Vergrämungsmaßnahme „die Grasnarbe abgezogen [worden], um auf diese Weise zu gewährleisten, dass die allenfalls in diesem Bereich siedelnden Feldhamster“ in die für sie als „Schutzbereich reservierten und geschützten Flächen ,umziehen‘ und sich damit aus der Gefährdungszone wegbewegen.“ Hierbei handelte es sich um eine ansonsten wohl praxisübliche Vorgehensweise in Form einer „bei notwendigen Bauarbeiten von der Behörde regelmäßig genehmigte[n] Maßnahme zur Erreichung der Absiedlung gefährdeter in Erdhöhlen wohnender Tiere“ (Verwaltungsgericht Wien, Beschl. v. 12.6.2019 – VGW-001/042/2355/2019).
Der belangte Dienstnehmer legte gegen die von der Verwaltungsbehörde verhängte Geldstrafe Beschwerde beim Verwaltungsgericht Wien ein. Die Beschwerde begründete er unter anderem damit, dass die Feldhamsterbaue zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahmen nicht benutzt wurden und dass die Maßnahmen auch nicht zu einer Beschädigung oder Zerstörung der Ruhe- oder Fortpflanzungsstätten des Feldhamsters geführt hätten.
Widerrechtliches Vorgehen aufgrund einer fehlenden behördlichen Genehmigung
Das vorlegende Gericht konnte weder eine unsachgemäße, noch unverhältnismäßige oder nicht gebotene Vorgehensweise im Rahmen des gesetzten Eingriffs (Abtragung der Grasnarbe, Freimachung des Bauplatzes, Anlegung einer Baustraße) erkennen, ging aber – vorbehaltlich der Beantwortung der an den EuGH gestellten Fragen – von einem widerrechtlichen Vorgehen aufgrund des Fehlens einer behördlichen Genehmigung aus. Denn die FFH-RL (i. V. m. dem Wiener Naturschutzgesetz) verfolge das Ziel, Eingriffe in das durch diese Richtlinie geschützte Rechtsgut von einer behördlichen Genehmigung abhängig zu machen. Auf diese Weise sei gesichert, dass die Behörde in sachverständiger Weise vor einem Eingriffsakt in die Lage versetzt wird, alle nötigen Vorkehrungen (insbesondere Auflagenvorschreibungen) zu treffen, um einen gerechtfertigten Eingriff in das durch die FFH-Richtlinie geschützte Rechtsgut möglichst gering zu halten. „Bei Zugrundelegung dieser Auslegung ist daher eine Zerstörung oder Beschädigung einer Ruhestätte oder einer Fortpflanzungsstätte nur dann zulässig, wenn diese Zerstörung oder Beschädigung ausdrücklich durch die Behörde (nach vorheriger Durchführung eines Prüfungsverfahrens) allenfalls unter Auflagen genehmigt worden ist“, so das VG Wien. Dies gelte selbst für den Fall, dass der Eingriff verhältnismäßig und geboten sei und demnach mit dem Eingriffsvorbehalt des Art. 16 der FFH-RL vereinbar wäre, betonte das österreichische Gericht.
EuGH: Auch verlassene Ruhestätten sind bei zu erwartender Wiedernutzung durch die betreffende Art geschützt
Insgesamt legte das VG Wien dem EuGH acht Vorlagefragen vor, von denen der EuGH jedoch nur die erste Frage als entscheidungsrelevant einstufte. Dabei ging es darum, ob auch eine mittlerweile verlassene, ehemalige Ruhestätte dem durch Art. 12 Abs. 1 Buchst d der FFH-RL vermittelten Schutzregime unterliegt.
Der EuGH wies in seinem Urteil einleitend darauf hin, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang und die mit der Vorschrift verfolgten Ziele zu berücksichtigen sind, auch unabsichtliche Handlungen verbotsrelevant sein können und dass das in Art. 12 der FFH-RL vorgesehene Schutzsystem geeignet sein muss, „Beeinträchtigungen der geschützten Tierarten und insbesondere Eingriffe in ihren Lebensraum tatsächlich zu verhindern“. Das Verbot nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der FFH-RL würde im Unterschied zu den in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c genannten Handlungen nicht unmittelbar auf die Tierarten abzielen, sondern solle wichtige Teile ihres Lebensraums schützen. Dieser strenge Schutz solle gewährleisten, dass wichtige Teile des Lebensraums der geschützten Tierarten so erhalten werden, dass diese Arten die unter anderem für die Ruhe wesentlichen Bedingungen vorfinden können. Der Gerichtshof führt weiter aus: „Es wäre jedoch mit diesem Ziel nicht vereinbar, den Ruhestätten einer geschützten Tierart den Schutz zu versagen, wenn diese nicht mehr beansprucht werden, aber eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Art an diese Stätten zurückkehrt.“
Diese Position hatte bereits die Europäische Kommission in ihrem Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse (endgültige Fassung, Februar 2007, Kap. II.3.4.b, Rdnr. 54) vertreten. Bezüglich Vögeln hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) schon 2006 geurteilt, dass unter Brutstätten „nicht nur von Vögeln gerade besetzte, sondern auch regelmäßig benutzte Brutplätze zu verstehen [sind], selbst wenn sie während der winterlichen Abwesenheit von Zugvögeln unbenutzt“ blieben. Sie seien jedenfalls dann in der im damaligen § 42 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG 2002 beschriebenen Weise [Anmerkung: Verbot der Beschädigung oder Zerstörung von Nist-, Brut-, Wohn- oder Zufluchtsstätten u.a.] betroffen, „wenn ein ganzes Brutrevier, in dem sich solche regelmäßig benutzten Brutplätze befinden, vollständig beseitigt wird“ (BVerwG, Urt. v. 12.6.2006 – 9 A 28.05). In den Hinweisen der Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA 2009) zu zentralen unbestimmten Rechtsbegriffen des BNatSchG wurden die o. g. Bewertungen übernommen. Im Übrigen ist klarzustellen, dass sich die Anforderung der wiederholten Nutzung keinesfalls auf ein und dasselbe Individuum beziehen muss. Im Wortlaut des EuGH-Urteils wird auf die Art abgestellt und nichts anderes wäre auch vor dem Hintergrund der Zielsetzung der FFH-RL [sowie analog der Vogelschutzrichtlinie, V-RL (2009/147/EG), die im Wortlaut des Art. 5 Buchst. b enger auf den Nestschutz abstellt] plausibel. Es ist auch kein Hinweis darauf erkennbar, dass sich die wiederkehrende Nutzung einer Fortpflanzungs- oder Ruhestätte über ein sehr enges Zeitfenster manifestieren müsste oder die regelmäßige Nutzung nicht auch zumindest einzelne Ausfalljahre etwa bei Extremereignissen und im Zuge natürlicher Fluktuationen aufweisen könnte. Hier schließen sich artbezogen Fachfragen an.
Konkret hat der EuGH in seinem Urteil vom 2.7.2020 für Recht erkannt:
„Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen ist dahin auszulegen, dass unter dem Begriff ,Ruhestätten‘ im Sinne dieser Bestimmung auch Ruhestätten zu verstehen sind, die nicht mehr von einer der in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten geschützten Tierarten, wie etwa demCricetus cricetus (Feldhamster), beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Art an diese Ruhestätten zurückkehrt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.“
Fortpflanzungs- und Ruhestätten sind gleichermaßen geschützt
Zur Fragerichtung des vorlegenden Gerichts, was unter dem Begriff einer Fortpflanzungsstätte im Sinne der FFH-RL genau zu verstehen und wie diese räumlich von anderen Orten abzugrenzen sei, hat der Gerichtshof nicht entschieden, weil im konkreten Fall keine Erheblichkeit der Frage erkennbar war. Er wies allerdings darauf hin, „dass, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie ausdrücklich ergibt, das Verbot einer Beschädigung oder Vernichtung alternativ entweder die Fortpflanzungsstätten oder die Ruhestätten der geschützten Tierarten betrifft und bei der Anwendung dieses Verbots nicht nach Maßgabe des Teils des betreffenden natürlichen Lebensraums unterscheidet“. Weitere Fragen des vorlegenden Gerichts nach der Auslegung der Begriffe „Beschädigung“ und „Vernichtung“ im Sinne der FFH-RL ließ der Gerichtshof mit Verweis unter anderem auf ihre im vorliegenden Fall nach Ansicht der Kommission hypothetische Natur unbeantwortet. Es war den Unterlagen nicht zu entnehmen, dass die Höhe der verhängten Strafe danach ausgerichtet worden wäre. Im vorliegenden Fall war dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass zwei Feldhamsterbaueingänge, die Teil der Baue sind, durch die Maßnahmen zerstört wurden. Daraus war zu folgern, dass diese Hamsterbaue zumindest beschädigt wurden. Hier erging ein Hinweis darauf, dass das bereits vorstehend genannte Verbot nicht nach der Art des Eingriffs unterscheidet und alternativ entweder die Beschädigung oder die Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der geschützten Tierarten umfasst. Die Frage, wie und in welcher Differenzierung Verstöße nach nationalen Vorschriften zu ahnden sind, bleibt dabei unberührt.
Fazit
Das EuGH-Urteil hat – wieder einmal – deutlich gemacht, dass die einzelnen Regelungen – wie hier der Schutz von Fortpflanzungs- und Ruhestätten – nicht isoliert betrachtet werden können, sondern immer in Bezug zu den mit der Richtlinie verfolgten Zielen zu sehen sind. So zielt auch der durch Art. 12 Abs. 1 FFH-RL sowie Art. 5 V-RL etablierte strenge Schutz von Arten des Anhangs IV FFH-RL und der europäischen Vogelarten darauf ab, diese Arten in einem „günstigen Erhaltungszustand“ zu bewahren oder diesen wiederherzustellen (vgl. Art. 2 FFH-RL und Art. 2 V-RL). Der Erhaltungszustand einer Art wird als „günstig“ betrachtet, wenn „die Art ein lebensfähiges Element ihres natürlichen Lebensraums bildet und langfristig weiterhin bilden wird, ihr natürliches Verbreitungsgebiet nicht abnimmt und ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird“ (Art. 1 Buchst. i UAbs. 2 FFH-RL). Fortpflanzungs- und Ruhestätten kommt eine besondere Bedeutung für den Erhalt der Art zu, weshalb sie einen gesteigerten Schutz genießen. Insbesondere bei Arten, die sich – wie der Feldhamster – in einem ungünstigen Erhaltungszustand befinden, mangelt es häufig an geeigneten Lebensräumen. Um einer weiteren Verschlechterung des Erhaltungszustands entgegenzuwirken, ist es daher zwingend erforderlich, dass geeignete, aber aktuell ungenutzte Habitatflächen und -strukturen erhalten bleiben. Im Übrigen ist beim Feldhamster und weiteren solchermaßen geschützten Arten bekannt, dass verlassene Baue oder andere Lebensraumstrukturen immer wieder, auch von anderen Individuen der jeweiligen Art, genutzt werden. Es ist daher folgerichtig, das Verbot des Art. 12 Abs. 1 Buchst. d FFH-RL so auszulegen, dass verwaiste Fortpflanzungs- und Ruhestätten nicht beschädigt oder vernichtet werden dürfen, sofern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für deren Wiedernutzung besteht. Der Schutz erlischt erst dann, wenn die Stätte endgültig aufgegeben wurde.
Hinweise für die Praxis in Deutschland
Noch immer stößt man auf die Auffassung, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten könnten i. d. R. – auch ohne funktionserhaltenden Ansatz über Maßnahmen im Sinne des § 44 Abs. 5 BNatSchG – beseitigt werden, wenn die Tiere sich zum Zeitpunkt der Beseitigung nicht an bzw. in der betreffenden Stätte befänden. Dies blendet jedoch den eigenständigen, über das entsprechende Verbot verfolgten Schutz für die Lebensstätten aus. Hier hat das aktuelle Urteil des EuGH zur Klarstellung beigetragen.
Ergänzend unterstreicht der Fall, dass für die legale Beschädigung oder Zerstörung von Fortpflanzungs- oder Ruhestätten die Zulässigkeit der Handlung an sich Voraussetzung ist – selbst bei fachlich plausiblem, erwartetem „Ausweichen“ von Tieren in das Umfeld ohne qualitativ-quantitative Funktionseinbußen.
Alle Erleichterungen, die § 44 Abs. 5 BNatSchG für den Umgang mit besonders oder streng geschützten Arten bereithält, setzen letztlich die Vereinbarkeit eines Vorhabens mit der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung (vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v. 14.7.2011 –- 9 A 12.10, Rdnr. 117-118 und Urt. v. 9.11.2017 – 3 A 4.15, Rdnr. 50) bzw. einen bestimmten Status in der kommunalen Bauleitplanung voraus: Bei den beabsichtigten Handlungen muss es sich um solche handeln, die bei nach § 15 Abs. 1 BNatSchG unvermeidbaren Beeinträchtigungen durch Eingriffe in Natur und Landschaft notwendig sind und vorher nach § 17 Abs. 1 oder Abs. 3 BNatSchG zugelassen wurden (Eingriffsregelung) oder von einer Behörde durchgeführt werden. Außerdem gelten sie für Vorhaben im Sinne des § 18 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, was Gebiete mit Bebauungsplänen nach § 30 des Baugesetzbuches (BauGB), während der Planaufstellung nach § 33 BauGB und im Innenbereich nach § 34 BauGB umfasst. § 33 BauGB (Zulässigkeit von Vorhaben während der Planaufstellung im Rahmen der verbindlichen, kommunalen Bauleitplanung) fordert dabei in Abs. 1 einen hinreichenden Konkretisierungsstand der Planung, indem nach Aufstellungsbeschluss ein Vorhaben erst dann als zulässig erachtet wird, wenn „kumulativ“ (1) die erforderliche Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung durchgeführt worden ist, (2) anzunehmen ist, dass das Vorhaben den künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans nicht entgegensteht, (3) der Antragsteller diese Festsetzungen für sich und seine Rechtsnachfolger schriftlich anerkennt und (4) die Erschließung gesichert ist.
Nur in denjenigen Fällen, in denen diese Voraussetzungen erfüllt sind, können einerseits die nicht vor europarechtlichem Hintergrund geschützten Arten – jedenfalls im engen Kontext des § 44 BNatSchG – ausgeblendet werden und andererseits vorbereitende Maßnahmen wie die Herstellung neuer Lebensräume (funktionserhaltende, sogenannte CEF-Maßnahmen), soweit selbst mit der Beeinträchtigung anderer geschützter Arten verbunden, oder gar Vergrämungsmaßnahmen nach Abstimmung mit oder als Folge von Nebenbestimmungen der zuständigen Behörde gestartet werden. Bei an sich genehmigungsfreien Vorhaben wie etwa bestimmten Sanierungsmaßnahmen kommt als Weg gegebenenfalls auch ein feststellender Verwaltungsakt der zuständigen Behörde infrage (vgl. Handlungsleitfaden zum Artenschutz in der Bauleitplanung und bei Bauvorhaben des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württ. 2019).
Hier schließt sich der Kreis zur vorne zitierten Auffassung des VG Wien, wonach „eine Zerstörung oder Beschädigung einer Ruhestätte oder einer Fortpflanzungsstätte nur dann zulässig [ist], wenn diese Zerstörung oder Beschädigung ausdrücklich durch die Behörde (nach vorheriger Durchführung eines Prüfungsverfahrens) allenfalls unter Auflagen genehmigt worden ist“. Dabei ist es unerheblich, ob mit den Maßnahmen vorgreifend ein Funktionserhalt von Fortpflanzungs- oder Ruhestätten eingeleitet oder etwa ein Individuenschutz per Vergrämung erreicht werden sollte, zumal letztere selbst einen Verbotstatbestand auslösen kann (s. BVerwG, Urt. v. 27.11.2018 – 9 A 8.17, Leitsatz 4).
Sind verbotsrelevante Folgen nicht zu vermeiden und handelt es sich bei der Maßnahme um einen atypischen Fall in nicht-öffentlichem Interesse, ist ggf. die Möglichkeit einer Befreiung nach § 67 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG zu prüfen, ansonsten kommt eine ggf. auch vorgezogen und separat – etwa für Baugrunduntersuchungen bzw. Kampfmittelerkundung oder für zeitlich drängende Artenschutzmaßnahmen – zu erteilende Ausnahme nach § 45 BNatSchG in Betracht.
Zur räumlich-funktionalen Abgrenzung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten sowie zum vorstehend verwendeten Begriff des „Ausweichens“ bedarf es allerdings abschließend noch einer jeweiligen Präzisierung:
Zwar hat der oben genannte Fall auf die Beschädigung oder Zerstörung von Bauen als einem zentralen Element des Feldhamster-Lebensraums fokussiert. Die jeweilige Fortpflanzungs- oder Ruhestätte wird sich aber meist räumlich-funktional über solche Einzelelemente hinaus auf zusätzliche essenzielle Bereiche erstrecken (s. dazu etwa Runge , H., Simon, M., Widdig , T. 2010: Rahmenbedingungen für die Wirksamkeit von Maßnahmen des Artenschutzes bei Infrastrukturvorhaben. F&E-Vorhaben im Rahmen des Umweltforschungsplans des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz. Hannover, Marburg). Hierzu hat das BVerwG entschieden: „Was als Fortpflanzungs- oder Ruhestätte i. S. d. Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie anzusehen ist, ist in erster Linie eine naturschutzfachliche Frage, die je nach den Verhaltensweisen der verschiedenen Arten unterschiedlich beantwortet werden kann.“ (BVerwG, Urt. v. 13.5.2009 – 9 A 73.07, Leitsatz 3 und Rdnr. 91). Bei Eingriffen und Schutzmaßnahmen ist dies zu beachten.
Die „Eigenkompensation“ durch Ausweichen von Tieren auf andere Lebensstätten schließlich mag in begrenztem Umfang bei häufigen und weit verbreiteten Arten mit kapazitativ ausreichendem Habitatpotenzial des Umfelds zur Aufnahme weiterer Individuen(gruppen) und deren biologisch-ökologisch üblicher Interaktionen möglich sein. Der Regelfall ist das aber keineswegs.
Bereits bei Arten wie der Feldlerche kann hiervon nicht mehr ausgegangen werden: Hier hatte etwa das BVerwG bereits in einem Hinweisbeschluss bemängelt, dass sich im betreffenden Fall keine Angaben dazu fanden, „ob der Naturraum in der unmittelbaren Umgebung genügend geeignete Flächen für eine Revierverschiebung bietet“ und weiter ausgeführt, dass auch „eine Revierverschiebung ohne Weiteres nur möglich [sei], wenn die angrenzende Umgebung nicht schon von Feldlerchen besetzt ist“ (BVerwG, Hinweisbeschl. v. 6.3. 2014 – 9 C 6.12, Rdnr. 61 b).
Bei dieser und noch stärker gefährdeten Arten bzw. solchen mit ungünstigem Erhaltungszustand ist in aller Regel von erforderlichen Maßnahmen im Kontext von § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr.3 und Satz 3 BNatSchG zur Neuschaffung oder kapazitativen Aufwertung auszugehen, bevor ihre bisherigen Lebensstätten beansprucht werden können. Auch kann die Genehmigungsfähigkeit infrage gestellt sein, falls sich solche Möglichkeiten nicht adäquat bieten.
Autoren
Jürgen Trautner ist Landschaftsökologe und geschäftsführender Gesellschafter der Arbeitsgruppe für Tierökologie und Planung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im europarechtlich begründeten Arten- und Gebietsschutz sowie in der Bewertungs- und Planungsmethodik.
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