Zulässige Höhe von Stickstoffeinträgen in gesetzlich geschützte Biotope
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Für die nach § 30 BNatSchG oder ergänzenden landesrechtlichen Regelungen gesetzlich geschützten Biotope gilt ein weitgehendes Veränderungsverbot. Verboten sind alle Handlungen, die potenziell geeignet sind, negative Folgen eintreten zu lassen. Dabei reicht es aus, wenn eine Beeinträchtigung „hinreichend wahrscheinlich“ ist. § 30 Abs. 2 verbietet nicht nur beeinträchtigende Handlungen, die direkt auf den Biotopflächen stattfinden, sondern auch Maßnahmen, die von außerhalb einwirken. Zu solchen von außen einwirkenden Maßnahmen zählen auch Stickstoffeinträge aus emittierenden Anlagen.
Für die Genehmigung von Anlagen, die unter das Immissionsschutzrecht fallen, regelt die TA Luft in Nr. 4.8 (Sonderfallprüfung), dass bei Vorliegen von Anhaltspunkten dafür, dass der Schutz vor erheblichen Nachteilen durch Schädigung empfindlicher Pflanzen und Ökosysteme durch Stickstoffdeposition nicht gewährleistet ist, die Stickstoffeinträge ergänzend zur Ammoniakkonzentration geprüft werden sollen. Für die Beurteilung von Stickstoffeinträgen in gesetzlich geschützte Biotopen wird in der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungspraxis zumeist auf den sogenannten LAI-Leitfaden (Leitfaden zur Ermittlung und Bewertung von Stickstoffeinträgen der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz, Stand: 1. März 2012) zurückgegriffen, dessen Vorgaben nun jedoch in mehreren Urteilen als nicht mit § 30 Abs. 2 BNatSchG vereinbar eingestuft wurden. Das OVG Berlin (Urt. v. 4.9.2019 – 11 B 24.16) stellte klar, dass es sich bei dem LAI-Leitfaden lediglich um einen „Vorschlag für eine bundeseinheitliche Vorgehensweise“ handelt, der als „behördliche Vollzugshilfe“ der Vereinfachung der Verwaltungspraxis dienen soll. Dem LAI-Leitfaden kommt daher weder die Rechtsqualität eines antizipierten Sachverständigengutachtens noch die einer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift zu.
Konkret beanstandet wurden das im LAI-Leitfaden enthaltene „Abschneidekriterium“ von 5 kg N/ha/a, die pauschale Berücksichtigung von Zuschlagfaktoren sowie das regelmäßige Abstellen auf den mittleren Spannenwert des Critical Load (CL, der CL-Wert umschreibt die Belastungsgrenze für Vegetationstypen oder andere Schutzgüter, bei deren Einhaltung eine Luftschadstoffdeposition auch langfristig keine signifikant schädlichen Effekte erwarten lässt). Die Anwendung der Vorgaben des LAI-Leitfadens kann damit zu Bewertungsmängeln bei der immissionschutzrechtlichen Genehmigung stickstoffemittierender Anlagen führen.
Das beanstandete Abschneidekriterium legt fest, bis zu welcher Schwelle Zusatzbelastungen bei der Genehmigung als irrelevant betrachtet und deshalb unberücksichtigt bleiben können. Nur diejenige Fläche um den Emissionsschwerpunkt, in dem die Zusatzbelastung den Schwellenwert überschreitet, wird als Einwirkungsbereich der geplanten Anlage angesehen, weshalb sich der Untersuchungsraum für eutrophierende Stickstoffeinträge auf diesen Bereich begrenzt. Um dem Beeinträchtigungsverbot aus § 30 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG gerecht zu werden, muss die Höhe des Abschneidewerts so bemessen sein, dass sichergestellt ist, dass die außerhalb des Untersuchungsraums liegenden Biotope nicht zerstört oder erheblich beeinträchtigt werden können. Sowohl das VG Münster (Urt. v. 12.4.2018 – 2 K 2307/16) als auch das OVG Magdeburg (Urt. v. 8.6.2018 – 2 L 11/16), das OVG Berlin (Urt. v. 4.9.2019 – 11 B 24.16; Beschl. v. 23.1.2020 – 11 S 20.18) und das OVG Lüneburg (Beschl. v. 15.9.2020) urteilten, dass das Abschneidekriterium des LAI-Papiers von 5 kg N/ha/a keine Anwendung finden dürfe, da es hierfür keine hinreichende naturschutzfachliche Begründung gebe. Eine derart hohe Bagatellschwelle für sämtliche geschützte Biotope, daß heißt unabhängig von ihrer jeweiligen Stickstoffempfindlichkeit und der Vorbelastung, würde ansonsten zu dem wenig plausiblen Ergebnis führen, dass bei besonders stickstoffempfindlichen Biotopen eine Höhe von 50 bis 100 % der Spannweite maximal tolerierbarer CL als zusätzliche Stickstoffbelastung als irrelevant eingestuft würden, was weder nachvollziehbar noch gerechtfertigt sei, befanden die Gerichte. Für die Bestimmung des zu betrachtenden Einwirkungsbereichs einer geplanten Anlage dürfte – analog zu dem beim FFH-Gebietsschutz anerkannten Abschneidekriterium – das Gebiet anzusehen sein, welches von der Isolinie der Zusatzbelastung von mehr als 0,3 kg N/ha/a erfasst wird, urteilte unter anderem das OVG Magdeburg. Dagegen ließ das VG Sigmaringen (Beschl. v. 27.3.2020 – 5 K 3036/19) trotz Bedenken die Anwendung des LAI-Abschneidewerts „mangels besserer gesicherter fachwissenschaftlicher Erkenntnisse“ zu.
Sowohl das OVG Magdeburg als auch das OVG Berlin führten in ihren Entscheidungen aus, dass – anders als beim FFH-Gebietsschutz – bei gesetzlich geschützten Biotopen vieles dafür spräche, dass die Überschreitung des CL allein noch kein Maßstab für eine erhebliche Beeinträchtigung sei. Es komme vielmehr darauf an, ob eine Beeinträchtigung des betroffenen Biotops hinreichend wahrscheinlich sei. Mittlerweile haben Untersuchungen gezeigt, dass bereits eine niedrige chronische Stickstoffdeposition eine hohe Artenverlustrate zur Folge haben kann und vom Verschwinden die – aus Naturschutzsicht wertgebenden – seltenen, für den Lebensraum charakteristischen Tier- und Pflanzenarten überproportional betroffen sind. Daher wird auch bei der derzeit stattfindenden Neufassung der Belastungsgrenzen für in Deutschland vorkommende Vegetationseinheiten, die vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg übernommen wurde, davon ausgegangen, dass die CL-Werte derzeit den Schutz der Biodiversität (noch) nicht ausreichend berücksichtigen. Derzeit muss daher davon ausgegangen werden, dass bei Überschreitung des CL eine Beeinträchtigung des betroffenen Biotops wahrscheinlich ist. Zukünftig soll deshalb bei der wissenschaftlichen Ermittlung der CL-Werte nicht nur auf den Vegetationstyp insgesamt, sondern verstärkt auch auf die stickstoffempfindlichen Arten des jeweiligen Lebensraums abgestellt werden.
Auch der pauschalen Berücksichtigung von Zuschlagfaktoren erteilten die Gerichte eine Absage. Je nachdem, wie gefährdet der Biotoptyp insgesamt ist, sieht der LAI-Leitfaden die Einstufung als gering, mittel oder hoch gefährdet vor. Wird einem Biotoptyp eine mittlere Gefährdungsstufe zugewiesen, liegt der Zuschlagfaktor bei 1,2, sodass sich der Beurteilungswert auf 6 kg/ha/a erhöht. Für gering gefährdete Biotoptypen ergibt sich aufgrund eines Zuschlagfaktors von 1,5, dass eine Stickstoffdeposition von 7,5 kg/ha/a als irrelevant gilt. Die Gerichte haben hier klargestellt, dass Zuschlagfaktoren, die auf die Gesamtsituation des Biotoptyps abstellen, die Gefährdung des konkreten Biotops aber unberücksichtigt lassen, nicht mit § 30 Abs. 2 BNatSchG vereinbar sind. Vielmehr hat die Betrachtung immer nur für das jeweils konkret betroffene Biotop zu erfolgen; maßgeblich ist, ob eine Zerstörung oder eine sonstige erhebliche Beeinträchtigung des einzelnen Biotops droht, nicht aber, ob andernorts noch genügend Biotope der gleichen Art vorhanden sind.
Das OVG Berlin (Urt. v. 4.9.2019 – 11 B 24.16) entschied zudem, dass es naturschutzfachlich nicht vertretbar ist, aus Gründen der Verfahrensvereinfachung innerhalb der Spannweite maximal tolerierbarer Stickstoffbelastungen empfindlicher Biotope regelmäßig auf den mittleren Spannenwert des Critical Load abzustellen, anstatt einen auf das konkret betroffene Biotop bezogenen ökosystemspezifischen Wert abzuleiten. Wenn aus Gründen der Verfahrensvereinfachung auf eine derartige Ableitung verzichtet wird, könne lediglich der untere Spannenwert für die Bewertung herangezogen werden, so das Gericht.
Eine weitere Regelung des LAI-Leitfadens, die sogenannte 30 %-Regel, war zwar nicht Gegenstand der Rechtsprechung, sie erscheint aber ebenfalls nicht mit dem Beeinträchtigungsverbot des § 30 Abs. 2 BNatSchG vereinbar. Die 30 %-Regel soll auch in Gebieten mit hoher Vorbelastung eine Genehmigung ohne Einzelfallprüfung ermöglichen. Demnach liegt keine erhebliche Beeinträchtigung eines Biotops vor (Irrelevanzschwelle), wenn die Gesamtbelastung zwar den „Beurteilungswert“ (Critical Load-Wert x Zuschlagfaktor) überschreitet, die anlagenbedingte Zusatzbelastung aber bei maximal 30 % des Beurteilungswerts liegt. Der LAI-Leitfaden räumt bei dieser Regelung selbst ein, dass hierdurch ein höheres Risiko für eine Schädigung vorliegt und erhebliche Nachteile nicht ausgeschlossen werden können. Da die 30 %-Regel eine nicht unerhebliche Überschreitung des CL-Werts mit sich bringt, ist regelmäßig davon auszugehen, dass ihre Anwendung zu einer nicht tolerablen erheblichen Beeinträchtigung von gesetzlich geschützten Biotopen führt. Bereits eine Zusatzbelastung im Umfang von 5 % des Critical Load kann bei besonders empfindlichen Lebensraumtypen zu einer graduellen Funktionsbeeinträchtigung von 70 % führen, bei einer Zusatzbelastung von 7 % des jeweiligen CL-Wertes „kippen“ bereits 50 % der Schutzgebiete „um“ ( Gellermann , NuR 2019, 747/750), weshalb einen eine 30-prozentige Überschreitung des „Beurteilungswerts“ (Critical Load-Wert x Zuschlagfaktor) nicht als irrelevant eingestuft werden kann.
Ist eine erhebliche Beeinträchtigung eines Biotops i.S.d. § 30 Abs. 2 BNatSchG durch Stickstoffeinträge zu erwarten, besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Zulassung einer Ausnahme nach § 30 Abs. 3 BNatSchG oder der Gewährung einer Befreiung gemäß § 67 Abs. 1 BNatSchG.
Autoren
Ass. jur. Jochen Schumacher und Dipl.-Biol. Anke Schumacher arbeiten am Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen. Das Institut ist interdisziplinär orientiert und befasst sich insbesondere mit Fragestellungen, die sowohl naturschutzfachlich-ökologische Aspekte als auch (umwelt- und naturschutz-)rechtliche Problemstellungen aufweisen.
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