Rotwildgebiet bedarf der Ausweitung
Anmerkungen zum Wildtiermanagement im Nationalpark Kellerwald-Edersee
Zum Beitrag von Mark Harthun „Jagdtradition im Widerspruch zu Nationalparkzielen – ‚Wildnis light‘ im Nationalpark KellerwaldEdersee?“ in Naturschutz und Landschaftsplanung50 (1), 2018, S. 1622, sowie zur Diskussion von Bauer et. al., Naturschutz und Landschaftsplanung50 (3), 2018, S. 89 f.
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Vorab: Das Gebiet des heutigen Nationalparks Kellerwald-Edersee ist dem Autor seit den 1980-Jahren sehr vertraut und noch heute wandert er jedes Jahr hier. Zunächst war das Areal Wildschutzgebiet, dann Waldschutzgebiet, schließlich Nationalpark. Bei den Wanderungen fiel bereits auf, dass regelmäßig ausschließlich das Muffelwild tagsüber in Anblick kam – obgleich bekannt war, dass es stark reduziert sein und eigentlich gar nicht mehr vorkommen sollte! Im Gegensatz dazu konnte Rotwild nie bei Spaziergängen beobachtet werden.
Der nach der Fertigstellung des o.a. Beitrags von Harthun (2018) erzielte Kompromiss zum Wildtiermanagement und jagdfreien Zonen ( Bauer et al. 2018) ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings lässt er einen wesentlichen Aspekt unerwähnt und ungelöst: nämlich die für das Rotwild entscheidendeFrage der Ausweisung eines jagdrechtlichen „Rotwildgebiets“ im unmittelbaren Umfeld des Nationalparks . Das Rotwildgebiet „Kellerwald-Edersee“ liegt wie eine (zu kleine) Insel im ansonsten jagdrechtlich offiziell „rotwildfrei“ zu haltenden Gebiet, ohne direkten Kontakt zu den Rotwildgebieten im Burgwald/Kellerwald und Rothaargebirge – eine künstliche Verinselung der Population, die mit den Vorgaben der Biodiversitätskonvention (CBD) nicht vereinbar ist ( Heck 2003, 2004). Ein gemeinsames, das Umfeld umfassendes Wildtiermanagement wird zwar gefordert, z.B. durch die „Einrichtung einer Hegegemeinschaft, die einen Bejagungsring um das Schutzgebiet betreut“ ( Harthun 2018). Ohne aber überhaupt die erforderlichen rechtlichen Grundlagen zu schaffen, bleiben „Absprachen zum jagdlichen Management“ und „gegenseitiger Austausch von Daten“ ( Bauer 2018) lobenswerte und gut gemeinte, aber (zu) unverbindliche Absichtsbekundungen.
Die Erfüllung der Forderung von Harthun (2018), dasRotwildgebiet „Burgwald-Kellerwald“ nach Norden so zu erweitern, dass der Nationalpark vollständig eingebettet wird , bildet die wichtigste Grundvoraussetzung zur Lösung möglicher „Umfeldprobleme“ und ist im Kompromiss von Bauer et al. (2018) nicht wiederzufinden bzw. durch die obigen Formulierungen zu schwach geraten. Die Zuständigkeit zur Ausweitung des Rotwildgebiets liegt nicht beim Nationalparkamt. Dies ist Aufgabe der teils im Nationalparkbeirat vertretenen Ministerien der Rechtskreise Jagd und Naturschutz als oberste Landesbehörden. Diese sollten bereits aufgrund der o.a. Rechtsprobleme tätig werden – aber umso mehr, um mögliche Umfeldprobleme („Wildschäden“, Akzeptanz und dergleichen) in den Griff zu bekommen.
Die Problematik der Rotwildgebiete ist längst bekannt, tiefgründig durchdrungen und diskutiert ( v. Münchhausen 2004, 2007 ). Auch wurde sie regional behandelt: Bereits 2001 fand eine Fachtagung in Frankenberg statt ( Heck 2001, 2002). Anlass für die Veranstaltung war die „Resolution zum Schutz des Rothirsches an den damaligen Hessischen Forstminister Wilhelm Dietzel des NABU-Kreisverbandes Waldeck-Frankenberg vom Sommer 1999, die unbeantwortet blieb. Kritisiert wurde die „bedrohliche Bestandssituation“ der heimischen Rotwildpopulationen in den im Kreis Waldeck-Frankenberg gelegenen Rotwildgebieten „Rothaargebirge“ und „Burgwald/Kellerwald“ u.a. anhand des Gesamtstreckenverlaufs, der von knapp 600 Stück 1959/60 seit 1998/99 auf unter 200 Stück abgefallen war ( Heck 2001, 2002). Das Thema einer möglichen Gefährdung des Rothirsches bzw. entsprechende Vermeidungs- und Managementstrategien wurden annähernd zeitgleich auf Bundesebene vielfältig und tiefgründig unter dem Dach der Deutschen Wildtierstiftung und der Technischen Universität Dresden diskutiert ( Holst & Herzog 2002). Das zeigt, dass die Situation im Kellerwald im Grundsatz keineswegs ein Einzelfall war/ist.
Der Winterbestand des Rotwildes im Nationalpark wird auf 130 bis 150 Stück geschätzt, was einer Dichte von etwa 2,5 pro 100 ha entspricht ( Bauer 2014, zit. nach Harthun 2018). Man sollte sich bewusst machen, dass eine solch niedrige Anzahl von Tieren in einem rechtlich isolierten Gebiet gerade einmal im Bereich der „minimum viable population (mvp)“ ( Shaffer 1981) liegt, also der Mindestanzahl von Tieren entspricht, die für das langfristige Überleben der Population fachlich für mindestens erforderlich gehalten wird: Für isolierte Populationen werden zum Erhalt der genetischen Vielfalt gemäß der „50/500-Faustregel“ Populationsgrößen von mindestens 50, besser 500 Individuen für erforderlich gehalten ( Primack 1993)!
Eine Dichte von 2,5 Rothirschen pro 100 ha kann als forstlich vorbildlich gelten – nur dass dieser Maßstab in einem Nationalpark keinerlei Rechtfertigung hat, wie Harthun (2018) zu Recht anhand der ökologisch einflussreichen Funktionen des Rothirsches darstellt. Ohnehin sind Dichteangaben bei einer Rudel bildenden Tierart, die schon von Natur aus nicht gleichmäßig über die Fläche verteilt vorkommt, mehr als fragwürdig. Die Erfassung der absoluten Bestandsgröße ist schwierig genug und mit einigen Unwägbarkeiten verbunden.
Maßstab der Populationsgröße muss ihr langfristiges Überleben sein. Zusätzlich können die Tagerlebbarkeit, der Beitrag zur Offenhaltung der Wiesentäler sowie die vegetationssoziologisch erfassbaren Einflüsse auf lebensraumtypische Pflanzengesellschaften Maßstäbe für die Populationsgröße und ihr Management sein. Gezäunte Vergleichsflächen zur Vegetationsaufnahme sind nach Kenntnisstand des Autors im Gebiet eingerichtet.
Rotwild kann zweifelsfrei alsZielart im Naturschutz dienen ( Heck 2005) und sollte es nach wie vor insbesondere für den Nationalpark Kellerwald-Edersee sein und bleiben. Sein Beitrag zur Offenhaltung der Waldwiesentäler durch den Äsungsdruck, die Schaffung von Habitatstrukturen durch sein Verhalten (Äsen, Schälen, Suhlen, Tritt usw.) sowie seine potenzielle Tagerlebbarkeit, insbesondere zur Brunft, sind ganz maßgebliche Aspekte, die der Nationalpark nutzen muss! Das Ziel einer wahrnehmbaren Tagaktivität wurde bislang offenbar nicht erreicht, wie die eigenen Erfahrungen eingangs zeigen, darf aber keineswegs aus den Augen verloren werden. Alles andere käme einer Bankrott-Erklärung gleich. Wo sonst als in einem Nationalpark sollte das realisierbar sein?! Und man bereise positive Beispiele wie den „Duvenstedter Brook“ bei Hamburg oder den „Darß“, wo es trotz Bejagung und sehr starken Besucheransturms hervorragend gelungen ist, Rotwild tagaktiv erlebbar zu machen. Neben einer vernünftigen Besucherlenkung über das Wegenetz ist die richtige Jagdstrategie und vor allem Jagdruhe das Entscheidende ( v. Münchhausen et al. 2009) , nicht die regelmäßig überschätzte „Störung“ durch den gewöhnlichen Spaziergänger, der für das Rotwild keine Gefahr darstellt .
Leider ist festzustellen, dass die Ergebnisse der regionalen Tagung 2001 in Frankenberg, festgehalten in der damals verabschiedeten Resolution, im Wesentlichen auch nach 17 Jahren nicht erreicht sind.
Neben der fehlenden Ausweitung des Rotwildgebiets auf das Umfeld mit Verbindungen zu den benachbarten Rotwildgebieten gehört dazu offenbar auch, dass der den Nationalpark umschließende Naturpark „Kellerwald-Edersee“ seine Chancen zur Profilbildung durch diese Tierart nicht genutzt hat. Ein weiteres Defizit scheint struktureller Art zu sein: Die Besetzung der Gremien – hier der entsprechenden Arbeitsgruppe bzw. des Nationalparkbeitrats – bildet nicht ausgewogen die gesellschaftlichen Anspruchsgruppen ab, die auf ein Wildtiermanagement im und um den Nationalpark einwirken sollten. Vielmehr ist eine Dominanz von forstlichen Vertretern und Interessen festzustellen, die ein berechtigtes, aber allenfalls gleichwertiges, keinesfalls jedoch ein vorrangiges Anliegen unter vielen sein darf.
Harthun (2018) kritisiert strukturell-personelle Probleme innerhalb der Nationalparkverwaltung durch Jagdtraditionen und ein ungünstiges Kosten-Nutzenverhältnis beim Wildtiermanagement. Diese Probleme könnten durch dieEinstellung eines Berufsjägers in der Nationalparkverwaltung abgestellt werden. DieseMaßnahme wird immer häufiger sogar dort umgesetzt, wo man es eher nicht erwarten oder für notwendig erachten würde: so z.B. örtlich in den Stiftungsforsten Haina und auch bei ThüringenForst – beides Institutionen, in denen es zahlreiche jagende Forstbeamte und angestellte gibt! ThüringenForst lässt mittlerweile sogar Berufsjäger ausbilden. Ein solcher ist als professioneller Wildtiermanager und nicht traditioneller Jäger zumeist bei allen Beteiligten als fachkundig und jagdlich neutral akzeptiert.
Eine Arbeitsgruppe, die vereinzelt tagend ein solches Grundsatzproblem des Wildtiermanagements lösen soll, scheint dazu nicht geeignet zu sein. Gerade die Ankündigung bei Bauer et al. (2018), dass sich nach dem erzielten Kompromiss die AG nach fünf Jahren (!) wieder treffen solle, zeugt von der Unterschätzung der Problemlage. Zwar werden die jagdfreien Zonen im Nationalpark ausgeweitet – das Grundsatzproblem mit dem Umfeld und des Wildtiermanagements als solchem ist dadurch nicht gelöst und auch nicht lösbar. Dies bedarf entsprechenderStrukturen: sowohl personell als auch institutionell.
Eine (neutrale) wissenschaftliche Moderation (hier aus einer Fakultät fürForst wissenschaften!) einer solchen AG erscheint grundsätzlich sinnvoll, löst aber ebenfalls nicht das Grundproblem. Besser erscheint eine Beteiligung vonVertretern anderer Nationalparke mit entsprechenden Praxiserfahrungen – man muss nicht alles neu erfinden, und Vieles wird erst durch die Bewährung in der Praxis belastbar!
Zum Schluss noch einige Anmerkungen zurRolle des Muffelwildes : Das Muffelwild ist für seine Tagaktivität bekannt und dadurch für Nationalparkbesucher hoch attraktiv sowie bedeutsam für das Naturerleben. Dass eine solche Art, die damit in das Konzept eines Nationalparks hervorragend passt, partout ausgerottet werden soll, erscheint ideologisch motiviert. Da sich die „Versuche“ der letzten Jahre ohnehin als aussichtslos erwiesen haben, ist es zudem unverantwortbar: Man verengt ohne Not bei einer bereits isolierten Kleinpopulation den „genetischen Flaschenhals“ und setzt Biodiversität auf genetischer Ebene aufs Spiel, z.B. mit Blick auf die Verpflichtungen der Biodiversitätskonvention (CBD). Zur bestehenden Verantwortlichkeit bei der Erhaltung des Muffelwildes wird auf Herzog & Guber (2017) verwiesen.
Warum wird im Nationalpark eigentlich nicht mit gleichen Maßstäben wie beim Muffelwild derWaschbär (Procyon lotor) behandelt? Zwar erscheint bei ihm ein Ausrotten im Nationalpark noch unrealistischer als beim Muffelwild. Allerdings besteht hier – im Gegensatz zum Muffelwild – einerechtliche Handlungspflicht durch die national direkt geltende und mittlerweile im Bundesnaturschutzgesetz in den §§ 40a-f BNatSchG umgesetzte Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten („IAS-Verordnung“). Es ist allein von der Normhierarchie her schon nicht erklärlich, dass eine europäische Verordnung innerhalb eines Nationalparks nicht gelten sollte. Die Vorgaben können nicht durch nationale Vorgaben außer Kraft gesetzt werden, schon gar nicht durch einen Nationalparkplan. Vielmehr käme dem Nationalpark nicht zuletzt moralisch eine besondere Verantwortung im Umgang mit dem Waschbär zu: Schließlich waren die hiesigen Waldungen Waldecks in den 1930er-Jahren einer der zentralen Aussetzungs- und Auswilderungsorte für den Waschbär, von wo aus er sich über Deutschland ausgebreitet hat. Und nun muss er europaweit gemanagt werden – nur nicht im Kellerwald? Es böte sich auch hier ein notwendiges Betätigungsfeld eines Berufsjägers. Die Waschbärbejagung gehört schließlich nicht zur Königsdisziplin der traditionellen Jagd.
Literatur
Bauer, M., Küthe, M., Mai, H., Harthun, M. (2018): Wildtiermanagement im Natiomnalpark Kellerwald-Edersee. Naturschutz und Landschaftsplanung 50 (3), 89-90.
Harthun, M. (2018): Jagdtradition im Widerspruch zu Nationalparkzielen - "Wildnis light" im Nationalpark Kellerwald-Edersee? Naturschutz und Landschaftsplanung 50 (1), 16-22.
Heck, A. (2001): Situation und Perspektiven des Rotwildes im Landkreis Waldeck-Frankenberg. Hessenjäger 12, 15.
– (2001): „Kulturgut Rotwild“: Beispiel gemeinsamer Verantwortlichkeit. Jahrb. Naturschutz in Hessen 6, 191-193.
– (2002): Biotopverbund und Schutz des Rotwildes im Kreis Waldeck-Frankenberg – zwei Ziele mit Synergieeffekten. Vogelkdl. Hefte Edertal 28, 203-208.
– (2003): Zur Vereinbarkeit jagdrechtlicher und naturschutzrelevanter Vorschriften in Deutschland mit dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Biodiversitätskonvention). Eine Analyse am Beispiel des Rotwildes (Cervus elaphus Linné, 1758). European Journal of Wildlife Research / Zeitschrift für Jagdwissenschaft (Z.J agdwiss.) 49, 288-302.
– (2004): Das Übereinkommen über die Biologische Vielfalt und das nationale Jagdrecht in Deutschland – Kongruenz oder Diskrepanz? Forschungserkenntnisse am Beispiel des Rotwildes. In: Korn, H., Feit , U., Bearb., Treffpunkt Biologische Vielfalt IV, Bundesamt für Naturschutz, Bonn-Bad Godesberg, 223-226.
– (2005): Die Bedeutung des Rotwildes (Cervus elaphus Linné, 1758) als Schutzobjekt und Zielart im Naturschutz. Jahrb. Naturschutz in Hessen 9, 54-60.
Herzog, S., Guber, S. (2017): Die naturschutzrechtliche raum- und wirkungsbezogene Klassifikationssystematik von Arten sowie daraus folgende staatliche Handlungspflichten – erläutert an den Arten Mufflon (Ovis ammon musimon ) und Wolf (Canis lupus ). Natur und Recht 39 (2), 73-88.
Holst, S., Herzog, S. (Hrsg., 2002): Der Rothirsch – ein Fall für die Rote Liste? Neue Wege für das Rotwildmanagement. Tagungsband zum Rotwildsymposium der Deutschen Wildtier Stiftung in Bonn vom 30.05.-01.06.2002, 2. überarb. Aufl., 348 S.
Primack, R.B. (1993): Naturschutzbiologie. Springer, Heidelberg, 564 S.
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v. Münchhausen Freiherr, H., Becker, M., Herzog, S., Wotschikowsky, U. ( Hrsg., 2004): 2. Rotwildsymposium der Deutschen Wildtierstiftung: „Ein Leitbild für den Umgang mit dem Rothirsch in Deutschland. Vom Reden zum Handeln“, 07.–08.05.2004 in Bonn, 264 S.
–, Herrmann, M.J.K. ( Hrsg., 2007), Hrsg.: 3. Rotwildsymposium der Deutschen Wildtierstiftung: „Freiheit für den Rothirsch – zur Zukunft der Rotwildgebiete in Deutschland“, 08.-09.09.2006 in Berlin, 210 S.
–, Kinser, A., Herzog, S. ( Hrsg., 2009), Hrsg. : 4. Rotwildsymposium der Deutschen Wildtierstiftung: „Jagdfrei“ für den Rothirsch! – Strategien zur Verringerung des Jagddrucks“, 29.-30.08.2008 in Döllnsee-Schorfheide, 246 S.
Autor
Andreas Heck , Diplom-Umweltwissenschaftler und Master of Studies in Environmental Law, Mitarbeiter einer Unteren Naturschutzbehörde, Tiefenort (Thüringen)
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