Bedeutung digitaler Bestimmungshilfen
Bestimmungs-Apps sind derzeit im Trend – schon zu einigen Taxa der Fauna und Flora erschienen mehr oder minder gehaltvolle Anwendungen auf den Markt. Unter diesen finden sich auch Apps, die das Zeug haben, selbst Fachkundige zu begeistern, in jedem Fall aber ein breites Publikum anzusprechen vermögen. Mit diesem Anspruch wird die neue App iFlora im Vergleich zur Flora Helvetica einem Test unterzogen.
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Ein Praxistest der neuen Pflanzen-Bestimmungs-App iFlora im Vergleich zur App Flora Helvetica
Die Digitalisierung der Bestimmung entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sondern ist auch im Interesse des Naturschutzes. In der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS) von 2007 hebt die Bundesregierung die Bedeutung einer fundierten Ausbildung in Taxonomie und Artenkenntnis für die Erhaltung der Diversität hervor (BMU 2007: 28). Apps wecken das Interesse für Flora und Fauna nicht nur, sondern helfen auch bei der fachlichen Vertiefung etwa bei der Lehre an Hochschulen. Sie sind mit ihrer enormen Breitenwirkung zentraler Baustein in der Schulung von Wissen und Achtsamkeit und damit von großer naturschutzfachlicher Bedeutung.
Dabei bietet die Technik neben Bequemlichkeit auch Spontaneität: Ein Spaziergang in der Innenstadt kann mithilfe einer App schnell zur Bestimmungsübung werden, wenn etwa in einer Mauerritze eine unbekannte Art gedeiht und direkt und ohne Ausreißen identifiziert werden kann.
Ein weiteres Plus: Apps sind vom Entwickler per Update prinzipiell adaptierbar, während z.B. Umstellungen der Systematik in Büchern erst in neuen Auflagen berücksichtigt werden können. Das via Apps vermittelte Wissen bleibt also eher up to date. Im Sinne des Naturschutzes ist es also besonders erfreulich, dass nun mit der iFlora die erste umfassende und ernstzunehmende Bestimmungs-App der heimischen Flora erschienen ist.
iFlora – die erste umfassende Bestimmungs-App der heimischen Flora
Seit April 2016 ist iFlora für Android-Smartphones und Tablets und bald auch für iOS-Systeme auf dem Markt und aktuell via GoogleStore mit allen Zusatzfunktionen für 89,90 € erhältlich. Das deutsche Pendant erscheint damit etwa vier Jahre später als die eidgenössische Flora Helvetica App der Haupt Verlag AG. Die Software von Dr. Oliver Tackenberg erhebt Anspruch auf Vollständigkeit: Erfasst sind Merkmale aller wildwachsenden Bedeckt- und Nacktsamer sowie der Farne Deutschlands (insgesamt rund 2800 Einträge).
Rezensiert bzw. verglichen werden hier die Vollversionen (Android) der deutschen (iFlora) und eidgenössischen (Flora Helvetica) App. Beide können mit stark begrenzter Artenzahl kostenfrei von jedermann getestet werden. Die iFlora bietet im Gegensatz zum schweizerischen Produkt zahlreiche modulare Erweiterungen, über deren Erwerb der Nutzer selbst entscheidet, während die eidgenössischen Autoren Konrad Lauber, Gerhart Wagner, Andreas Gygax und der Verlag dem Motto „ganz oder gar nicht“ folgten und ihre digitale Flora für 99,99€ anbieten. Nur der zusätzliche dichotome Bestimmungsschlüssel ist dort fakultativ. Als Konkurrenten treten die beiden Apps durchaus auf, wenngleich vor allem im norddeutschen Raum versierte Nutzer auf Arten etwa der Salzwiesen nicht verzichten werden wollen, während die hochgebirgsaffinen User ihrerseits doch gerne die vollständige Liste der Alpenarten im Datensatz wissen.
Elektronische Bestimmungshilfen ersetzen den (zahlreichen) Büchertransport ins Gelände, sind ihren gedruckten Verwandten meistens visuell, in jedem Fall aber haptisch überlegen. Die digitale Bestimmung bietet ein schnelles Hin und Her zwischen Bestimmungsschritten, das lästige und für viele frustrierende Blättern bei fehlerhaften Bestimmungsschritten ist wesentlich kürzer, die Identifikation der vorliegenden Art wird mithilfe der Technik vor allem bei Nicht-Experten in aller Regel schneller verlaufen. Abgerufen werden können in Artensteckbriefen jeweils nicht nur Fotos und detaillierte Merkmalsbeschreibungen in Textform, sondern u.a. auch Verbreitungskarten. Die Programme vereinen also die Informationen mehrerer Bücher. Entsprechend voluminös fällt der Speicherplatzbedarf mit 1,3 (Flora Helvetica) und 2 GB (iFlora) aus.
Die Multikriterien-Revolution
Beiden Apps gemein ist auch der Multikriterienschlüssel, der das obligatorische dichotome Bestimmungsprozedere der gebundenen Blätterwerke ersetzen kann und für die ältere Expertengeneration geradezu revolutionär daherkommt. Die Vorteile dieser neuen, digitalen Möglichkeit liegen auf der Hand: Der Nutzer kann die Bestimmung mithilfe von selbstgewählten Merkmalen vorantreiben und sie so auch (endlich) dem Lebenszyklus der Pflanze anpassen. Eine Identifikation der Art auch ohne fertile Pflanzenteile ist in vielen (nicht allen!) Fällen möglich. Absolute und oftmals viel zu frühe Bestimmungssackgassen bekannter dichotomer Schlüssel können mit dem Multikriterienansatz umgangen werden. So war in manchem gedruckten Standardwerk die Einsicht auf die Frucht zwingend erforderlich, um bei der Bestimmung voranzukommen. Die Pflanze blieb dieses Merkmal allerdings dann und wann schuldig, wenn sie nun einmal gerade blühen und noch nicht fruchten wollte. Ein Umstand, der hin und wieder für Frustration sorgen konnte.
Die Bestimmungsmerkmale des Multikriterienschlüssels sind dabei jeweils einer Kriteriengruppe wie etwa Blüte, Blatt, Stängel, Frucht oder Pflanzentyp zugeordnet und prinzipiell frei an- und auswählbar. Dabei wird die Auswahl bei der iFlora automatisch einschränkt, wenn Merkmalskombinationen in natura bei keiner heimischen Art realisiert sind. Mit dem Multikriterienansatz führen sprichwörtlich viele Wege zum Ziel, was die Sache vor allem für ambitionierte Anfänger, ob Studierende, Umweltpädagogen oder Hobby-Botaniker, sehr interessant macht. Ein Glossar hilft in der Regel beim Verständnis botanischer Fachbegriffe, im Falle der iFlora smart und ohne Unterbrechung des Bestimmungsflusses durch interne Verknüpfungen. Beide Apps erfordern allerdings dennoch Übung, was aber mit den Hürden von Bestimmungsbüchern nicht mehr zu vergleichen ist.
Laien und Experten im Fokus
Die iFlora versucht sich weiter in Richtung Laie zu bewegen und reizt die Technik noch stärker aus: Ein „interaktiver“ Modus bietet dem Nutzer bei der Bestimmung Vorschläge und fokussiert ihn auf die Kriterien, die die Artenauswahl jeweils maximal einschränken. Dieser fakultative Modus reicht oftmals allerdings nicht bis hin zur eindeutigen Benennung einer Spezies. Die verbleibenden Arten können über die zwei weiteren Modi („Icon“ und „Text“) weiter eingeschränkt werden. Alternativ können die Ergebnisse, sprich Arten, auch jederzeit mit allen zur Verfügung stehenden Informationen abgerufen werden, was in der Regel das Mittel der Wahl ist, wenn eine hinreichend kleine, infrage kommende Auswahl erreicht ist.
Nun werden sich geübte Freunde der heimischen Flora zu Recht fragen, ob der Start bei null tatsächlich die Bestimmung vereinfacht, sind doch die jeweilige Gattung des vorliegenden Exemplars oft und die Familie in der Regel bereits bekannt. Diese Nutzergruppe begann die eigentliche Identifikationsarbeit bei den gedruckten Bestimmungshilfen bei entsprechenden Unterkapiteln bzw. Seiten. Um auch diesen Nutzern gerecht zu werden, gehen die Entwickler der beiden Apps unterschiedliche Wege. Die iFlora bietet jederzeit eine Einschränkung auf ein beliebiges höheres Taxon (z.B. Gattung), bleibt ansonsten aber dem oben beschriebenen multikriteriellen Prozedere treu. Die Flora Helvetica hingegen bietet diese Fokussierung auf ein bestimmtes Taxon nur als Alternative zum Multikriterienschlüssel. Wer sich auf eine bestimmte Familie oder Art fokussieren will, wechselt hier also in den dichotomen Bestimmungsschlüssel (ein kostenpflichtiges Add-On). Das wirkt auf den ersten Blick altbacken, bietet aber einen entscheidenden Vorteil: Hier sind spezifische Merkmale wie etwa die Einbuchtung der Kronblätter bei Campanula- oder der Glanz der Blätter bei Galium-Arten eingebunden. Das wiederum erfordert auf der anderen Seite gewisse Feld-Erfahrung. Bei Qualitäten wie die des letztgenannten Beispiels müssen auch Profis von Saison zu Saison ihre Sinne neu schärfen.
Die iFlora wiederum verzichtet vollständig auf dichotome Bestimmungswege, die Eingrenzung der in Frage kommenden Arten wird auch bei der Eingabe eines Taxons (eine kostenpflichtige Zusatzfunktion) alleinig über die Auswahl der zur Verfügung stehenden Kriterien eingeengt. Das hat den offensichtlichen Nachteil, dass gattungs- bzw. artspezifische Merkmale dichotomer Werke im Multikriterienschlüssel der iFlora bis auf Ausnahmen (Süßgräser, Farne) noch außen vor bleiben. Um ins Detail zu gehen, muss der Nutzer die nach der Kriterieneingabe verbleibende (kleine) Auswahl abrufen und mithilfe der Texte der Merkmalsbeschreibungen, die auch artspezifische Spezialmerkmale aufführen, die Bestimmung selbst finalisieren. Der Autor der iFlora versucht diesen Ansatz mit einer höheren Anzahl an Fotos und sogar Detailzeichnungen zu stärken. Bei den Detailzeichnungen handelt es sich um ältere aus der Literatur, die offenbar für die App aufbereitet wurden, leider allerdings nicht auf bestimmungsrelevante Merkmale aufmerksam machen. Dennoch sind Qualität und Quantität der visuellen Bestimmungshilfen der iFlora beachtlich, wenngleich auch sie eine kostenpflichtige Zusatzfunktion darstellen.
Kenner und Liebhaber der dichotomen Standardwerke werden von dem konsequenten Multikriterienansatz der iFlora-App vielleicht etwas enttäuscht sein und die Lösung der Flora Helvetica – dichotomer Bestimmungsweg bei Auswahl eines Taxons – bevorzugen. Dort wiederum ist die unbefriedigende Quantität und Qualität der Fotos (i.d.R. nur eines pro Art) ebenso negativ zu vermerken wie der Umstand, dass beim Multikriterienansatz nicht auf ein Taxon eingegrenzt werden kann. Bei beiden Apps wären nachbessernde Updates wünschenswert.
Unterschiede im Handling
Das Handling der iFlora ist nach einer Eingewöhnungszeit auch für Anfänger nutzerfreundlich, bietet hier und da aber noch Luft nach oben. Die Flora Helvetica setzt schweizerische Maßstäbe und lässt insbesondere für die der botanischen Fachtermini mächtigen Nutzer kaum Wünsche offen. Auch die visuelle Performance dieses Programms setzt hohe Maßstäbe, die die iFlora (noch) nicht zu erreichen vermag. Die eidgenössische Genauigkeit wird zudem auch im Programmablauf jedem Klischee gerecht. Die Programmierer haben die 3297 (Art-)Einträge und deren Merkmale in eine digitale Struktur verwoben, die absolut zuverlässig und schnell Ergebnisse liefert.
Die Arbeit der deutschen Kollegen bleibt hinter dieser Leistung zurück. Unverständlich bleiben nervige Programmabstürze und die Tatsache, dass nicht darauf verwiesen wird, dass schnelle Hardware für eine ansprechende Performance der App absolut notwendig ist: Der innovative und prinzipiell durchaus zielführende, obligatorische (im Hintergrund) ablaufende „interaktive Modus“ (s.o.) fordert einiges an Rechenleistung. Das betagte Test-Smartphone (Samsung Galaxy S Advance GT-I9070 mit Android 4.1.2) brauchte deshalb einige Zeit, bis endlich das nächste Bestimmungsmerkmal eingegeben werden konnte. Dieser Kritikpunkt ist in Zeiten, in denen Google-Nutzer-Bewertungen weiter an Gewicht gewinnen, fast schon fahrlässig, wenn auch nicht das Problem von Besitzern genügend schneller Hardware. Die beinahe unverzeihlichen Lücken bei Merkmalsbeschreibungen, auch bei naturschutzfachlich bedeutsamen Arten wie etwa Dianthus gratianopolitanus, sind aber für alle ärgerlich und müssen dringend und zeitnah per Update behoben werden.
Die Schweizer Kollegen haben einen Entwicklungsvorsprung, die Flora Helvetica wurde bereits vielen Updates unterzogen. Die iFlora sollte in Zukunft per Update wie der ältere Bruder noch um Zeigerwerte erweitert werden, auch die Nennung von Gefährdungsklassen, internationaler Verbreitung oder Toxizität einer Art sind Infos, die die iFlora im Gegensatz zur Schweizer Konkurrenz aktuell nicht liefert.
Die jüngere iFlora liefert im Gegenzug aber auch Funktionen, die der Schweizer App fehlen: Hervorgehoben wurde bereits der innovative „interaktive Modus“; auch der automatische Abgleich von Standort mit Verbreitungsgebiet einer Art ist eine Funktion, die es in der Flora Helvetica App nicht gibt. Ebenso ist die Anlage von Feldprotokollen bei der iFlora besser gelungen. Die Flora Helvetica beschränkt sich dabei unnötig auf Basics. Keine Funktion, aber ein absolutes Plus ist das schnelle und überzeugende Feedback des iFlora-Autors und die glaubhafte Bereitschaft, Anregungen in zukünftige Updates aufzunehmen. Die Schweizer Kollegen sind deutlich reservierter und bieten faktisch keine Kontaktmöglichkeit.
Fazit
Die iFlora ist eine App, die es sich zum Ziel gesetzt hat, sowohl Laien als auch Fortgeschrittene anzusprechen. Der gewählte Ansatz ist vielversprechend, die Spaltung der App in verschiedene Kaufoptionen ebenfalls, wenngleich manche Zusatzfunktionen eigentlich obligatorisch integriert werden müssten (z.B. die Auswahl via Taxon). Für 89,90€ erhält der Nutzer die vollständige App, die hinsichtlich des Inhalts und der Funktionen dann nicht viele Wünsche offenlässt – immer vorausgesetzt, dass Updates zeitnah die angesprochenen Mängel beheben. Auch der Preis ist angesichts der wohl erbrachten Arbeit nachvollziehbar und angebracht.
Leider gilt das nicht für das Layout und die Arbeit der Programmierer. Hier hätte man angesichts der schon erbrachten inhaltlichen Arbeit eine bessere Entwicklung und Umsetzung gewünscht. Dass dabei mehr möglich ist, zeigen die Eidgenossen eindrucksvoll. Die iFlora ist allerdings bei weitem kein Replikat der Flora Helvetica, obwohl dieser die längere Produktlaufzeit eben doch anzumerken ist. Im Test wünschte man sich oft eine Verschmelzung der beiden Produkte, denn beide haben ihre inhaltlichen Vor- und Nachteile, natürlich ganz abgesehen davon, dass die Artenlisten nicht (vollständig) deckungsgleich sind. Angesichts des noch etwas instabilen Programmablaufs hätte der iFlora ein etwas längerer Testbetrieb sicher gutgetan. Das gilt allerdings für viele aufwendige Apps, die auf den Markt kommen (auch die Flora Helvetica damals). Der Grund dafür ist, dass die Technik der vielen verschiedenen Smartphones so unterschiedlich und komplex ist, dass die Testphase auf den Betrieb erweitert werden muss, um alle Fehler per Nutzerrückmeldung erkennen und beheben zu können.
Über den Test hinaus drängt sich abschließend die Einsicht auf, dass beiden Apps quasi en passant eine Leistung gelungen ist, die der Bildungspolitik, trotz entsprechend formulierter Ziele der Bundesregierung, nie gelang. Die digitale Bestimmungsmöglichkeit via Multikriterienschlüssel spricht viele junge Menschen an und macht Taxonomie wieder attraktiv. Das empfindet der Autor selbst so, wird aber auch in der universitären Lehre deutlich. Leider ist der Preis für Studenten in beiden Fällen noch eine echte Hürde, aber vielleicht fühlen sich die Forschungseinrichtungen ja zukünftig berufen, entsprechende Lizenzen zu erwerben.
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