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Rauschen im Feigenblätter-Wald

Der Landesbetrieb Hessen-Forst hat 2010 eine „Naturschutzleitlinie“ eingeführt, die die rund 342000 ha umfassende hessische Staatswaldfläche ökologisch aufwerten soll. Eine kritische Analyse: Schafft die Leit­linie nur ein „grünes Deckmäntelchen“ ohne wirkliche Verbesserungen?

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Hessen-Forst hat jetzt eine „Naturschutzleitlinie“

Von Norbert Panek

Kernstück der Leitlinie ist ein so genanntes Habitatbaum- und Kernflächenkonzept. Darin sollen einerseits die bereits erfassten Habitatbäume mit bekannten Vorkommen schutzrelevanter Arten (z.B. FFH-Arten) und andererseits zusätzlich je Forstamt mindestens drei weitere Habitatbäume pro Hektar in den über 100-jährigen Laubholzbeständen dauerhaft gesichert werden. Nach Schätzungen des Landesbetriebs würden somit zusätzlich hessenweit rund 214000 Habitatbäume ausgewiesen. Bei dieser Baumzahl wäre laut Hessen-Forst eine Totholzanreicherung von rund 850000 m³ zu erwarten. Der durchschnittliche Totholzvorrat würde im Staatswald damit mittel- bis langfristig auf über 40 m³ je Hektar steigen. Zudem soll laut Richtlinie der Holzeinschlag in Laubwald­beständen von Mitte April bis Ende August ruhen, um die Brut und Aufzucht störungsempfindlicher Vogelarten (z.B. Schwarzstorch) verlustfrei zu gewährleisten. Für Großbrüter sind außerdem „Horstschutzzonen“ vorgesehen.

Darüber hinaus werden auf Forstamtsebene nutzungsfreie „Kernflächen“ ausgewiesen, die allerdings, so wird immer wieder vorgerechnet, bereits vorhandene Prozessschutz­flächen, z.B. bestehende Alt­holz­inseln und Naturwaldreservate, einbeziehen sollen. Nach Angaben von Hessen-Forst würden bereits rund 21000 ha (= 6 %) Staatswaldflächen nicht mehr genutzt. Allein ein Viertel dieser Flächen liegt allerdings im Na­tionalpark „Kellerwald-Edersee“.

Das Kernflächenkonzept folgt einer modifizierten „Hotspots“-Strategie, die von dem britischen Ökologen Norman Myers ursprünglich für artenreiche Regenwaldregionen in den Tropen entwickelt wurde. Danach soll mit einem möglichst geringen räumlichen (und finanziellen) Aufwand eine maximale Anzahl von Arten geschützt werden. In mitteleuropäischen Wäldern ist eine relative Artenvielfalt in der Regel vor allem in den Alters- und Zerfallsphasen von Laubwäldern sowie auf Sonder- und Extremstandorten zu erwarten. Daher zielt das Konzept auf eine Auswahl und Sicherung vornehmlich solcher Phasen bzw. Wald­standorte ab. Faktisch sind aber vor allem alte, im Zerfall befindliche Bestände im normalen Wirtschaftswald außerhalb von Schutzgebieten nicht mehr existent. Nimmt man allein die laut Statistik noch vorhandenen über 180-jährigen Laubbaumbestände, dann umfasst die potenziell noch verfügbare Fläche (nach Angaben von Hessen-Forst!) lediglich ca. 3000 ha (= 0,87 % des hessischen Staatswalds).

Letztlich greift das eingeführte Konzept mehr oder weniger auf die bestehenden, größtenteils bereits gesicherten Altholzbestände zurück, z.B. auf die bereits ausgewiesenen Altholzinseln und Naturwaldreservate, auf kartierte Waldbiotopflächen und sonstige Schutzgebiete. Dieses „Potenzial“ umfasst laut Hessen-Forst rund 14300 ha. Als mögliche Erweiterungs- und Arrondierungsflächen werden lediglich noch die „Waldbestände außer regelmäßigem Betrieb“ (abgekürzt: W.a.r.B.) betrachtet.

Völlig ausgeklammert bleiben dagegen alle 140- bis 160-jährigen Laubwaldbestände. Gerade Buchenbestände dieser Altersklasse wären für den Aufbau eines Flächen­potenzials zukünftiger Alters- und Zerfallsphasen prädestiniert. Aktuelle Angaben zu den tatsächlichen Anteilen der über 140-jährigen Buchenbestände im Staatswald liegen offiziell nicht vor bzw. werden von Hessen-Forst systematisch verschwiegen. Dabei trägt gerade Hessen für den Erhalt dieser Bestände weltweite Verantwortung.

Es ist offensichtlich, dass diese „Hotspots“-Strategie allein dazu dienen soll, dem Staatsforstbetrieb ein neues „grünes“ Deckmäntelchen zu verpassen, das den derzeitigen Status der Waldbewirtschaftung weitgehend unangetastet lässt – also: Naturschutz mit möglichst geringstem Aufwand, minimaler Flächenin­anspruchnahme und auf unterstem fachlichen Niveau! Hessen-Forst missbraucht das Kernflächenkonzept dazu, weitergehende Schutzkonzepte als uneffektiv und „unwissenschaftlich“ abzustempeln. Indiz dafür sind die zahlreichen, z.T. abstrusen Einlassungen im Erläuterungstext zur Richtlinie.

So wird beispielsweise behauptet, dass ein Nutzungsverzicht in unseren heimischen Waldbeständen weitreichende Folgen für Wälder in anderen Regionen der Erde hätte. So würde dort der Nutzungsdruck enorm steigen. Aus diesem Grund müsse der eigene Holzverbrauch zu möglichst hohen Anteilen in deutschen Wäldern gedeckt werden und „jeder Nutzungsverzicht gut begründet sein.“

Fakt ist: Schon jetzt werden beträchtliche Mengen von Holz-Rohstoffen nach Deutschland importiert, ohne dass dieses vernehmbare Proteststürme der deutschen Forst- und Holzlobby, insbesondere bei Hessen-Forst, ausgelöst hätte. Allein im Nadelholzbereich lagen die Einfuhrmengen von Roh- und Schnittholz nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums im Zeitraum von 2007 bis 2009 bei rund 35 Mio. Festmetern. Die gesamte Holzimportmenge umfasst aktuell jährlich über 100 Mio. m³. Ein geschätzter stilllegungsbedingter Nut­zungs­ausfall von maximal 5 Mio. m³ per anno wird auf die Holzhandelsbilanz daher auch zukünftig kaum nennenswert Einfluss nehmen.

Ferner behauptet Hessen-Forst:

Der notwendige Umfang nutzungsfreier Wälder lasse sich wissenschaftlich nicht begründen. Die Debatte darüber sei „ideologisch“ motiviert.

Der Schutz vieler kleiner „Kernflächen“ sei für den ­Erhalt der Artenvielfalt wirk­samer als eine „Konzentration auf wenige große Gebiete“.

Außerdem sei ein Biotopverbund im Wald für ausbreitungsschwache Arten weitgehend unwirksam und mitunter sogar schädlich (!).

Außerdem ist Hessen-Forst überzeugt: Die Rahmenbedingungen für den Schutz von Arten und Lebensraumtypen werden durch die Bewirtschaftung der Wälder vorbestimmt. „Messlatte der Populationsdichten und -größen kann also nicht der Naturwald sein.“

Waldbestände müssten „nicht zwangsläufig dauerhaft aus der Nutzung genommen werden.“ Zum Beispiel könnten Altwaldbestände nach dem Erreichen der Pionierphase wieder genutzt werden, weil „das Habitat für die Arten der Alters- und Zerfallsphase verloren“ sei und „eine Bewirtschaftung des neu heranwachsenden Waldes“ wenig Einfluss auf deren Population hätte.

Mit solchen Thesen ignoriert Hessen-Forst bewusst den aktuellen fachwissen­schaft­lichen Kenntnisstand, der gerade in den letzten Jahren durch eine Vielzahl von einschlägigen Studien und Publikationen erweitert wurde (siehe Scherzinger, Leibundgut, Mlinsek, Flade, Winter, Jedicke, Müller u.a.). Vor allem das Beispiel der „ausbreitungsschwachen“ Totholz-Arten macht deutlich, wie von Hessen-Forst Sachverhalte forst­ideologisch einseitig ausgelegt werden (z.B. als Argument ­gegen die Wirksamkeit von Biotopverbundsystemen oder gegen die Einrichtung von Großschutzgebieten). Dabei böte gerade die „Ausbreitungsschwäche“ der zitierten Arten Anlass, die Ausweisung möglichst großer, nutzungsfreier Waldreservate verstärkt voranzutreiben. Denn die für diese Arten überlebensnotwendigen Totholzstrukturen können sich im erforderlichen Umfang nur in solchen großflächigen Reservaten mit starken Holzvorräten entwickeln. Dabei spielen für die anspruchsvollen Totholz-Arten (Urwald-Reliktarten) neben dem Umfang auch die räumliche Verteilung, die unterschiedlichen (zeitlich versetzten) Abbaustadien sowie die Konstanz der Totholzmengen eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Autoren weisen auf die herausragende ­Bedeutung mächtig dimensionierter (stehender) Totholzstämme hin. Nur unter diesen Bedingungen (großflächiger Prozessschutz) können sich langfristig ausreichend individuenstarke Spender-Popula­tionen entwickeln.

Die Frage der Mindestgrößen für nutzungsfreie Kernflächen wird von Hessen-Forst jedoch mit dem Hinweis „nicht wissenschaftlich belegbar“ ausgeblendet und die „Naturschutzleitlinie“ bleibt demzufolge unkonkret (Kernflächen ab 1 ha Größe, Erweiterung durch W.a.r.B.-Flächen, „wo möglich und wirtschaftlich vertretbar“). Der Landesbetrieb agiert damit sogar gegen die Vorgaben seiner fachlich zuständigen Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt, die für Kernflächen („hot spots“) eine „wissenschaftlich begründete“ Mindestfläche von 20 ha empfiehlt. Für das Überleben totholzgebundener Käfer-Arten fordert Geiser (1994) Reservatflächen in der Größenordnung von 2000 ha.

Seit langem gesicherte Kenntnisse, die sich aus der Insel-Biogeographie bzw. Arten-Areal-Relation ableiten, werden in der Leitlinie weder thematisiert noch berücksichtigt. Die von Hessen-Forst unterstellte „Unwirksamkeit“ von Biotopverbundsystemen beruht in den meisten Fällen auf einer zunehmenden Isolation und einer zu geringen Flächengröße der Vernetzungs- und Trittsteinbiotope (vgl. Mader 1981). Daher werden für die Einrichtung von Altholzinseln mittlerweile Mindestflächen von 5 ha und für Naturwaldreservate Mindestflächen von 100 ha gefordert (Jedicke 2006 und 2008). Die mittlere Größe der ausgewiesenen Altholzinseln in Hessen beträgt gerade 1,78 ha!

Wichtigste Schlüssel-Bausteine eines überregionalen Biotopverbunds sind große zusammenhängende Gebiete, in denen das gesamte Spek­trum systemtypischer, dynamischer Naturprozesse ungestört ablaufen kann (siehe auch Heinrich 1996). Zurzeit ist im hessischen Staatswald bislang lediglich der Nationalpark „Kellerwald-Edersee“ als größerer „Schlüssel-Baustein“ etabliert.

Nach Angaben von Hessen-Forst liegt der „aktuelle“ Totholz-Anteil bei 36 m³ je ha, wobei aus dem Richtlinientext nicht klar hervorgeht, ob sich dieser Wert nur auf Staatswaldflächen oder auf die gesamte hessische Waldfläche bezieht. Seit der letzten Bundeswaldinventur (2002) hat sich der dortige Totholz-Anteil mehr als verdoppelt, was sich im Wesentlichen durch eine Senkung der Erfassungsgrenze (Mindest-Stammdurchmesser > 10 cm) erklären lässt. Hessen-Forst führt außerdem Windwurf und Erntetätigkeiten als Ursache für den gestiegenen Totholz-Anteil an, d.h. der Vorrat besteht hauptsächlich aus Schwachholz (Kronenreisig) und Baumstubben. Zahlreiche Autoren weisen auf die besondere ökologische Bedeutung von stark dimensi­oniertem Totholz hin. Mit zunehmendem Stammdurchmesser wächst auch die Vielfalt der Holz bewohnenden Tierarten (vgl. Jedicke, Möller u.a.). Stärker dimensionierte Tot­hölzer sind in hessischen Laubwäldern Mangelware und Vorräte ab einem Stammdurchmessen von 40 cm sind nur mit einem Anteil von ca. 8 m³ je ha vertreten (der Anteil ab Stammdurchmesser 60 cm liegt bei 1 m³ je ha!).

Der minimalistische Ansatz der von Hessen-Forst eingeführten Naturschutzleitlinie setzt sich im so genannten Habitatbaum-Konzept fort: Durchschnittlich drei Bäume pro Hektar sind das Mindestmaß. Nach neueren Untersuchungen (z.B. Flade et al.) sollten Wirtschaftswälder mit mindestens fünf Biotopbäumen je ha ausgestattet sein. Das Naturschutzkonzept der Bayerischen Staatsforsten sieht sogar zehn Bäume pro ha vor. Dabei sollten die Bäume einen Brusthöhen-Durchmesser von mindestens 40 cm aufweisen. Andere Autoren fordern einen Anteil von mindestens 10 % des erntereifen stehenden Vorrats, der auf Dauer ungenutzt als „Biotopholz“ erhalten bleiben sollte (siehe Möller o. J.).

So hat die von Hessen-Forst vorgegebene Habitatbaum-Zahl allenfalls kosme­tischen Wert. Die Wirkung von Habitatbaum-Konzepten müsste parallel durch Änderung der Waldbewirtschaftung unterstützt bzw. optimiert werden, z.B. durch Verlängerung der Endnutzungszeitpunkte bzw. der Umtriebszeiten. In den üblicherweise relativ vorratsarmen, durch selektive Holzentnahme gelichteten Wirtschaftswäldern ist das Grundpotenzial an Biotop- und Totholzbäumen generell stark eingeschränkt.

Verschärft wird die Situation aktuell durch erhöhten (weiter steigenden) Nutzungsdruck und eine weitgehend maschinell organisierte Waldbehandlung, was sich unmittelbar auf die Struktur der Bewirtschaftungsflächen auswirkt (zunehmende Erschließung und Homogenisierung der Baumbestände). Derart gewandelte Rahmenbedingungen erschweren die Integra­tion von Naturschutzmaß­nahmen beträchtlich. Die Naturschutzleitlinie von Hessen-Forst enthält weder Hinweise auf diese Problematik noch (als Konsequenz daraus) Vorschläge für etwaige Bewirtschaftungsänderungen. Zudem wird an keiner Stelle der Richtlinie die besondere Schutzverantwortung erwähnt, die Hessen speziell für das Naturerbe der Rotbuchenwälder und insbesondere für die verschiedenen Lebensraumtypen der Buchenwälder im Rahmen der europäischen FFH-Richtlinie trägt.

Die neue Naturschutzleit­linie ist vom Geist einer Forstideologie durchtränkt, der die Nutzung des Waldes als seinen besten Schutz betrachtet. Dabei bestimmt der Forstmann nach Gutdünken, ob und wie viel Naturschutz auf welcher Fläche stattfinden darf. „Messlatte“ für etwaige Schutzmaßnahmen „kann also nicht der Naturwald sein“, sondern „der für den Wirtschaftswald typische Nutzungszyklus“ (Zitat­ende). Ein so definierter Handlungsrahmen konterkariert jegliche Bemühung um einen naturnäheren Umgang mit unseren Wäldern, stellt ihn sogar in Frage. Denn: Vorbild für „Naturnähe“ kann letztlich nur der Naturwald sein und nicht ein manipuliertes Waldnutzungssystem. Insofern offenbart die Leitlinie ihre wahre Intention als grünes Feigenblatt.

Literatur

Geiser, R. (1984): Artenschutz für holzbewohnende Käfer. Ber. ANL 18, 89-114.

Heinrich, C. (1996): Waldnaturschutzgebiete – Urwälder von morgen. Konzeption zum Schutz und zur Entwicklung naturbelassener Laubwaldökosysteme in großflächigen Waldschutzgebieten im Bundesland Hessen, NABU/BUND Hessen, Hrsg., Wetzlar.

Jedicke, E. (2006): Altholzinseln in Hessen, Hrsg. Gesellschaft f. Ornithologie u. Naturschutz – Arbeitskreis Main-Kinzig, Rodenbach, 80 S.

– (2008): Biotopverbund für Alt- und Totholz-Lebensräume – Leitlinien eines Schutzkonzepts inner- und außerhalb von Natura 2000. Naturschutz und Landschaftsplanung 40 (11), 379-385.

Mader, H.J. (1981): Untersuchungen zum Einfluß der Flächengröße von Inselbiotopen auf deren Funktion als Trittstein oder Refugium. Natur und Landschaft 56 (7/8), 235-242.

Möller, G. (o.J.): Entwurf einer Richtlinie zur Umsetzung ökologisch-naturschutzfachlicher Ziele im öffentlichen Wald (Skript). Berlin.

Vollständige Literaturliste der im Text genannten Autoren auf Anfrage. Die Naturschutzleitlinie ist unter http://www.hessen-forst.de abrufbar.

Anschrift des Verfassers: Dipl.-Ing. (Landespflege) Norbert Panek, An der Steinfurt 13, D-Korbach, E-Mail norbertpanek@gmx.de, Internet http://www.wald-kaputt.de.

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