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Zur Klage gegen die A 44:

3-%-Bagatellschwelle für NOx-Depositionen

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig hat am 14. April 2010 die Klage gegen den Bau eines Teilstücks der Autobahn A 44 (Kassel - Herleshausen) im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis zwischen Hessisch Lichtenau-Ost und Hasselbach abgewiesen (BVerwG 9 A 5.08 – Urteil vom 14. April 2010, siehe vorstehender Bericht).

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Kommentiert von Klaus-Ulrich Battefeld

Bedeutender als in Bezug auf die Erhaltungsziele für die beiden fraglichen Fledermausarten ist die Entscheidung des BVerwG zu den tolerierbaren Stickstoffeinträgen in FFH-Gebiete. Die mit dem Betrieb der Autobahn verbundenen Stickstoffdepositionen in dem FFH-Gebiet „Werra- und Wehretal“ – hier schon bisher weit über den Critical Loads liegend – werde geringfügig weiter ansteigen, stellte das Gericht fest; nach gesicherter fachwissenschaftlicher Einschätzung könne der Verkehr auf dem Autobahnabschnitt aber keinen signifikanten Ursachenbeitrag zur Schädigung dieser Lebensräume leisten. Sie falle deshalb unter den aus dem gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Bagatellvorbehalt. Verworfen hat das BVerwG in diesem Zusammenhang die von der Planfeststellungsbehörde einem Leitfaden des Brandenburger Landesumweltamtes entnommene und durchaus auch begründete Bagatellschwelle einer Überschreitung von Critical Loads um 10 %. Gegen die Annahme einer Bagatellschwelle von 3 % sah das Gericht jedoch keine Bedenken, da in der fachlichen Diskussion derzeit keine begründete Auffassung vertreten werde, die eine noch niedrigere Bagatellschwelle fordere.

Am 10. und 11. März 2010 hatte der für „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ zuständige neunte Senat des BVerwG als Tatsacheninstanz mündlich über den Planfeststellungsabschnitt der geplanten Autobahn A 44 zwischen Kassel und Eisenach verhandelt. Das Gericht hatte die vorrangig zu verhandelnden Einzelthemen in einen neunseitigen Fragenkatalog gefasst. Die beiden Hauptthemenkomplexe waren der Gebietsschutz nach der FFH-Richtlinie und der besondere europäische Artenschutz.

Ein besonderes Problem stellte hierbei die z.T. parallel erfolgte Abgrenzung der Natura-2000-Gebiete und Autobahnplanung dar, die sich zudem zeitlich mit verschiedenen Änderungen des Naturschutzrechts und Rechtsfortentwicklungen durch die Rechtsprechung überschnitten hatte.

Fachlich und inhaltlich anspruchsvolle Fragen ergaben sich aus der Begründung der Gebietsabgrenzung und der Notwendigkeit der Erfassung und Bewertung gebietsexterner Habitatfunktionen der im Gebiet vorkommenden Bechsteinfledermaus, die ein nur untergeordnetes Erhaltungsziel eines FFH-Gebietes darstellt. Das beklagte Land hob hervor, dass zum Zeitpunkt der Gebietsmeldung diese für die Bechsteinfledermaus bereits ausreichend erfolgt war und insofern die Abgrenzung ausschließlich an den Habitaterfordernissen des Großen Mausohres ausgerichtet werden konnten.

Für das Gericht klärungsbedürftig war ferner die Frage, nach welchen fachlichen Maßstäben untergeordnete gebiets­externe Habitatfunktionen und deren Rückwirkung auf den Gebietsschutz zu bewerten seien. Klärungsbedürftig war außerdem, ob und ggf. inwieweit sich der Gebietsschutz auf bedeutende gebiets­externe Habitatfunktionen des Großen Mausohres erstreckt. Dies betraf insbesondere Flugkorridore zwischen den unter Gebietsschutz stehenden Wochenstubenquartier im Dorf und den Jagdhabitaten im Wald. Ähnlich wie bei der (nicht unter Gebietsschutz stehenden) Verbindungsfunktion eines Flusslaufes zwischen einzelnen FFH-Gebieten zum Schutz von Wanderfischarten oder den „Einflugschneisen“ vor einem Vogelschutz-Rastgebiet handelt es sich hierbei aber nach Auffassung des Landes nicht um selbständig unter Gebietsschutz zu stellende Bereiche, sondern Strukturen und Funktionen, die nur wegen ihrer Rückwirkung auf die Funktionsfähigkeit des FFH-Gebiets geschützt sind. Breiten Raum nahm dabei die fachliche Diskussion der zur Vermeidung von Beeinträchtigungen von Fledermäusen ergriffenen besonderen Bauverfahren und Schutzeinrichtungen (z.B. Leit- und Querungseinrichtungen) ein. Erneut stand das Fehlen eindeutiger fachlicher Konventionen hierüber zur Diskussion. Im Ergebnis schloss sich aber das Gericht der Position des beklagten Landes Hessen an.

Von besonderer Bedeutung und fachlich unbefriedigend war erneut die Diskussion über die Erheblichkeit der Einwirkung von Stickstoffbelastungen in Lebensraumtypen der FFH-Richtlinie. Die Maßstäbe hierzu hatte das Gericht erst kürzlich weiter verschärft. Der Senat hatte in der Entscheidung zur Ortsumgehung Hildesheim (BVerwGE 110, 301; BVerwG Beschluss vom 10. 11.2009 – 9B 28/09) die Verträglichkeit von zusätzlichen Schadstoffbelastungen oberhalb einer die Critical Loads überschreitenden Hintergrundbelastung als grundsätzlich unverträglich angesehen. Besonderes Gewicht erlangte die Diskussion auf Grund der an dieser Entscheidung anknüpfenden Ankündigung des Berichterstatters RiBVerwG Dr. Nolte in jurisPR-BVerwG 5/2010 vom 01.03.2010: „In Kürze wird der 9. Senat des BVerwG ein Klageverfahren verhandeln, in dem es erneut um die Beurteilung von Stickstoffeinträgen in habitatrechtlich geschützte Lebensräume geht, die einer den maßgeblichen Critical-Load-Wert überschreitenden Hintergrundbelastung ausgesetzt sind (Az. 9A 5.08)“.

Nolte hatte in dieser Publikation den strittigen Sachverhalt bereits zugespitzt: „Beide vorgenannten Studien empfehlen mit Rücksicht darauf, dass in weiten Teilen Deutschlands die Critical Loads für Stickstoff seit Jahren oder gar Jahrzehnten schon durch die Hintergrundbelastung überschritten werden, der Beurteilung mehr oder weniger großzügig bemessene Irrelevanzschwellen für die Zusatzbe­lastung zugrunde zu legen (Brandenburger Vollzugshilfe grundsätzlich 10 %, Kieler Studie grundsätzlich 3 % der jeweils maßgeblichen Critical Loads). Diese Relativierung der Critical Loads als Beurteilungswerte für die Verträglichkeitsprüfung lässt sich der besprochenen Entscheidung zufolge jedenfalls im Grundsatz nicht mit deren Verständnis als Belastungsgrenzen vereinbaren.“

Das zentrale fachliche Problem dürfte in der relativ frühzeitigen Festlegung des Senats liegen, ohne triftigen fachlichen Grund Critical Loads als Belastungsgrenzen ansehen zu wollen. Tatsächlich sind Critical Loads aber nach der fachlichen Definition Irrelevanzschwellen, bis zu deren Erreichen in jedem Falle von der Schadlosigkeit einer Belastung auszugehen ist. Zudem beziehen sich Critical Loads auf andere Schutzgüter und dürfen nicht undifferenziert auf das Schutzgut Lebensraumtypen im Sinne der FFH-Richtlinie übertragen werden. Ferner führt die undifferenzierte Anwendung von Critical Loads als Maßstab zu einer doppelten Beweislastumkehr, die nicht nur fachliche, sondern auch rechtliche Bedenken aufwirft. Nachdem die Rechtsprechung die Grundsätze der Herzmuschelfischereientscheidung des EuGH bereits ohne Rücksicht auf die im Sinne eines Case Law notwendige Einschlägigkeit einer Entscheidung für alle nur denkbaren Fälle verallgemeinert und den Nachweis der Unschädlichkeit einer beliebigen Einwirkung der Entscheidungsbehörde aufgebürdet hatte, hat das BVerwG mit der hier beschriebenen Form der Anwendung der Critical Loads eine weitere, zusätzliche Beweislastumkehr eingeführt.

Wenn das Gericht in seinen weiteren Fragestellungen regelmäßig die Abweichungsprüfung im Sinne des Art. 6 FFH-RL als Lösungsvorschlag anbietet, dann sind dies volkswirtschaftlich gesehen letztlich Steine statt Brot. Nur weil die durchaus bestehende Möglichkeit der fachbehördlichen Einschätzungsprärogative durch die Rechtsprechung zum europäischen Naturschutzrecht zunehmend an den Rand gedrängt wird, müssen dann für kleinste Beeinträchtigungen am Rande der Nachweisgrenze aufwändige und in der Sache oftmals eher gekünstelte Abweichungsprüfungen als kostenträchtige „Ehrenrunde“ vorgenommen werden, ohne dass sich am faktischen Endergebnis viel ändert. Damit wäre dem Buchstaben des Gesetzes zwar Genüge getan; ob diese Verfahrensweise sinnvoll ist, muss sich dann wohl der Gesetzgeber fragen lassen. Oder das Gericht sollte sich bei nächster Gelegenheit eingehender mit der Frage auseinandersetzen, wann denn Zweifel an der Unerheblichkeit einer Beeinträchtigung im Sinne der Rechtsprechung „vernünftig“ zu nennen sind. Bei Stickstoffeinträgen im unteren Promille- bis Prozentbereich des Stoffumsatzes einer Waldgesellschaft und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Europäische Umweltagentur (EEA) in Ihren Prognosen für 2020 von einer deutlichen Verringerung der Stickstoffbelastung für das mittlere Kontinentaleuropa ausgeht, legt die Rechtsprechung Scheingenauigkeiten an, die fachlich eigentlich nicht zu rechtfertigen sind.

Im Ergebnis hat das Gericht seine vorgeprägte ablehnende Haltung zu einer 10- %igen Bagatellschwelle bekräftigt, aber – zumindest vorläufig – die Berücksichtigung einer 3- %igen Bagatellschwelle nicht beanstandet. Es besteht Hoffnung, dass diese Entscheidung eine gewisse Zeit Bestand haben wird.

Spannend waren die abschließenden Erörterungen von Fragestellungen des europäischen Artenschutzes. Waren bislang eher räumlich eingrenzbare Artvorkommen wie z.B. Feldhamster Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung gewesen, standen jetzt neben großräumig aktiven Arten wie Luchs, Wildkatze und Fledermausarten u.a. auch schwer nachweisbare Arten wie die Haselmaus im Fokus. Dabei stellte das Gericht auch die Frage, ob die bundesrechtlich zulässige Entnahme von Individuen zum Zwecke der Umsiedlung aus dem Trassenbereich heraus überhaupt mit Europarecht vereinbar sei. Da diese Frage trotz vergleichbarer rechtlicher Rahmenbedingungen bislang bei der zulässigen Aufnahme von kranken oder verletzten Tieren nicht gestellt wurde, sollte hier allerdings kein großer Anlass zur Sorge bestehen.

Aus fachlicher Sicht kritischer zu beurteilen sind die Nachfragen des Gerichts zum Erhaltungszustand der Populationen in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet. Hier ist Vorsicht und Aufmerksamkeit geboten, ob jeweils die außergewöhnlichen Umstände im Sinne der finnischen Wölfe-Entscheidung vorliegen, die gleichwohl eine Ausnahme zulassen. Im Ergebnis hat das Gericht aber auch die artenschutzrechtliche Entscheidung in der Planfeststellung unbeanstandet passieren lassen.

Zusammenfassend erstreckte sich die Verhandlung in weiten Teilen auf naturschutzfachlich gesehen eigentlich relativ triviale Sachverhalte, die aber für den naturschutzfachlichen Laien Klärungsbedarf aufwerfen können, insbesondere wenn sie nicht hinreichend substantiiert sind. Es ist problematisch, wenn naturschutzfachliche „Allgemeinplätze“ wegen ihrer eigentlichen Trivialität nicht hinreichend fachlich nachvollziehbar begründet sind. Ein weiteres Problem scheint erneut dann zu bestehen, wenn fachliche Inhalte nicht in einer Form kommuniziert werden, dass sie sofort für den fachlichen Laien (d.h. Juristen) nachvollziehbar sind.

Die schriftlichen Urteilsgründe werden wohl noch eine gewisse Zeit auf sich warten lassen. Und es ist abzusehen, dass es nicht die letzte Gerichtsverhandlung über ein Verkehrsprojekt Deutsche Einheit – mehr als 20 Jahre nach Grenzöffnung – vor dem Bundesverwaltungsgericht bleiben wird. An der A44 stehen noch einige Planfeststellungsabschnitte zur Entscheidung an, über die man dann trefflich streiten kann.

Anschrift des Kommentators: Klaus-Ulrich Battefeld, Am Parkfeld 14d, D-65203 Wiesbaden, E-Mail battefeld@web.de .

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