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Insektensterben in Mitteleuropa

Ist der Rückgang zu stoppen?

Am 17. Juni erschien im Verlag Eugen Ulmer das Buch „Insektensterben in Mitteleuropa“. Die Autoren bündeln darin zahlreiche Fakten zu den Ursachen des Insektensterbens, beschreiben die komplizierten Wirkungsgefüge und schlagen konkrete, umsetzbare Maßnahmen der Naturschutzpraxis vor. Wir durften einen Blick in die druckfrische Neuerscheinung werfen und haben zwei der Autoren, Prof. Dr. Thomas Fartmann und Prof. Dr. Eckhard Jedicke, zu ihrem Werk befragt.
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Redaktion: „Insektensterben“ ist kein neues Phänomen – spätestens seit der Krefelder Studie sollte die Problematik eigentlich jedem bekannt sein. Warum jetzt ein Buch dazu?

Thomas Fartmann: Bislang gibt es kein vergleichbares Buch. Es fehlte ein Werk, in dem die bisherigen Erkenntnisse gebündelt wurden. Die Krefelder Studie hat für viel Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt, aber unter Eingeweihten war das ja nichts Neues. Dieses Wissen, das anscheinend noch nicht in der breiten Bevölkerung angekommen ist, zusammenzutragen, ist Ziel dieses Buchs.

Eckhard Jedicke: Wir wissen seit langem, dass wir in einer globalen Biodiversitätskrise stecken. Was uns in der Diskussion um das Insektensterben gestört hat, ist die Verkürzung in der öffentlichen Wahrnehmung. „Da haben ein paar Biologen mal untersucht und da ist angeblich ein großes Insektensterben …“. Daher war unser Ziel, anhand einer breit angelegten Literaturrecherche eine fundierte Studie vorzulegen, um zu analysieren: Wie ist das Ausmaß des Insektensterbens? Aber auch: Was sind die Ursachen und was die dahinterstehenden Treiber? Und vor allen Dingen auch positiv in die Zukunft zu schauen: Was sind denn die nötigen Maßnahmen, um dem Insektensterben entgegenzutreten? Die Insekten sind dabei Stellvertreter für die Biodiversität und damit gute Indikatoren für den Zustand der biologischen Vielfalt insgesamt.

Herr Jedicke, Sie sprechen das Ausmaß an. Ist der Insektenrückgang denn überall gleichermaßen stark ausgeprägt?

Jedicke: Der Rückgang ist dort am intensivsten, wo der Mensch die Landschaft am tiefgreifendsten umgestaltet hat. Also, in einer intensivst genutzten Agrarlandschaft, wo außer Acker nichts mehr ist an Strukturen, können nur noch sehr wenige Insekten existieren, die aber dann vielfach sehr gut, sodass sie zum Schädling werden. Genauso im Siedlungsraum: Wenn wir die Fläche zu 100% versiegelt haben, ist logischerweise nicht mehr viel Platz für Insekten. Wenn wir viele Strukturen vorfinden, die Vegetation, Stauden und Blüten tragen, dann ist die Insektenvielfalt größer oder umgekehrt: Dieses Ökosystem trägt nicht so stark zum Insektensterben bei. Im Wald ist es genauso.

Fartmann: Man kann das gut nach den Lebensraumtypen ordnen. Die massivsten Rückgänge der Insektenvielfalt und generell der Biodiversität haben wir ganz klar in den Agrarlandschaften. Das lässt sich noch weiter zuspitzen: Am allerschlimmsten ist es auf den Ackerflächen. Da haben wir dramatische Individuen- und Artenverluste. Im Wald gab es von den 1950-er bis zu den 1970-er Jahren verheerende Einbrüche bei den Insekten, weil damals massiver Insektizideinsatz erfolgt ist. Bei allen eingesetzten Insektiziden galt: Sie waren nicht spezifisch, sondern hatten eine Breitbandwirkung. Sie trafen eine ganze Reihe von Insekten, insbesondere die großen Arten mit langen Generationszyklen waren massiv betroffen. Damit brachen komplette Nahrungsnetze zusammen. In der Folgezeit haben sich Waldinsekten und die davon abhängigen Waldfledermäuse langsam erholt.

Sie haben Agrarlandschaften als diejenigen Flächen mit dem stärksten Rückgang genannt. Nun neigen wir dazu, Dinge zu vereinfachen und einen Schuldigen für das Problem zu suchen. Wie komplex sind die Ursachen wirklich?

Jedicke: Es ist ein sehr komplexes Bild. Man kann verkürzt sagen, die menschliche Existenz ist immer auch mit Belastungen für Natur und Umwelt verbunden. Der Mensch hat die Eigenschaft, sich die Natur immer stärker untertan zu machen, die Natur komplett zu verändern mit dem Ziel, immer mehr ökonomische Wertschöpfung herauszuholen. Diese ökonomische Wertschöpfung ist aber in vielen Fällen sehr kurz gedacht, weil sie nicht berücksichtigt, dass diese intensive Nutzung mit Nachteilen in anderen Bereichen verbunden ist. Denn dabei werden die Ökosystemleistungen nicht hinreichend berücksichtigt, weil sie sich nur zu einem geringeren Teil in unserem Wirtschaftssystem monetär widerspiegeln.

Fartmann: Bei der Landwirtschaft ist es klar, dass sie in den zurückliegenden Jahrzehnten in hohem Maß mitverantwortlich war für massive Verluste der Insektenvielfalt. Diese Entwicklung war stark von der EU gefördert worden. Die EU-Flächenprämie, wo ca. 6 Mrd. € jedes Jahr an die deutschen Landwirte vergeben werden, sorgt für eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft. Den Landwirten selbst ist das nicht direkt anzulasten, sie sind Opfer der bestehenden Strukturen. Wenn die Landwirte für Biodiversitätsleistungen honoriert würden, dann würde die Sache sofort anders aussehen.

In Ihrem Buch machen Sie nicht nur auf die Gründe und das Ausmaß des Insektensterbens aufmerksam, sondern nennen auch konkrete Lösungsansätze. Was ist der wichtigste Impuls, den Sie mitgeben wollen?

Fartmann: Da sind wir wieder bei der Agrarpolitik. In Deutschland sind 6,3 % der Landesfläche als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Diese Schutzgebiete sind aber nicht in der Lage, den Rückgang der Artenvielfalt auch nur annähernd aufzuhalten. Wir müssen über diese Gebietskulisse hinaus in die Fläche kommen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel, eine gesellschaftliche Transformation. Wenn das nicht erfolgt, werden wir auch das Problem nicht in den Griff bekommen.

Jedicke: Es ist schwierig, das komplexe Thema auf einen Impuls zu reduzieren. Ich möchte ergänzen: Wir brauchen mehr Struktur. Abwechslungsreiche Strukturen bedeuten immer, dass wir viele verschiedene Insektenarten und auch viel Biomasse an Insekten fördern. Und dieses Leitthema Strukturvielfalt kann man eigentlich auf alle Ökosysteme beziehen. Strukturreiche Gärten sind ein Beitrag, grün-blaue Infrastrukturen im Siedlungsraum und Strukturen im Wald sind hilfreich. Genau das Gleiche gilt für die Agrarlandschaft. Struktur ist das Wichtigste. Dann kommen andere Faktoren wie nutzungsintegrierte Maßnahmen und ein reduzierter Pestizideinsatz dazu. Das Thema ist vielfältig.

An wen wenden Sie sich mit diesen Lösungsansätzen?

Jedicke: An jede und jeden, die Einfluss haben auf Veränderung. Das bin ich als Gartenbesitzer genauso wie eine Kommune, die verantwortlich ist für Grünflächen beispielsweise, das ist der einzelne Landwirt, der über die Art und Weise entscheidet, wie er seine Felder bestellt, welchen Pestizideinsatz er fährt, wie stark er die Landschaft düngt, das ist der Waldbesitzer. Und es ist natürlich auch die Politik, angefangen von der Gemeinde bis zur Bundesregierung mit den verschiedenen Fachressorts und zur EU mit der Agrarförderung.

Welchen Effekt erhoffen Sie sich durch dieses Buch?

Fartmann: Ich hoffe, dass die Komplexität des Themas besser erkannt wird und dass man nicht nur denkt: Ach, wir haben zwei, drei einfache Lösungsansätze, damit ist die Biodiversitätskrise erledigt. Die Sicht auf das Ganze muss viel fundierter werden. Indem wir ein paar Neonikotinoide verbieten, ist das Problem nicht gelöst; weit gefehlt.

Jedicke: Wir möchten außerdem die Diskussion versachlichen, also weg von dem Zeigefinger „ihr bösen Landwirte seid schuld“ und zu einem differenzierteren Bild beitragen, was besagt, dass die Ursachen des Insektensterbens sehr viel vielfältiger sind. Wir möchten zum zweiten dafür sensibilisieren, dass die Diskussion um das Insektensterben ein Stellvertreter ist für die desaströse Situation der Biodiversität insgesamt. Letztlich kann man es auf den einfachen Nenner bringen: Das Ausmaß des Insektensterbens ist ein Gradmesser für den Zustand unserer Natur und Landschaft insgesamt, und insofern sehe ich als drittes Ziel des Buches – und das ist vielleicht das Allerwichtigste – die Sensibilisierung und das Auslösen von Aktivität. Also das konkrete Handeln für mehr Insektenschutz, heißt mehr Biodiversität, heißt letztlich nachhaltigere Landnutzung.

Können wir es schaffen, den Artenrückgang in der Insektenwelt zu stoppen?

Fartmann: Ja, das können wir. Wir wissen haargenau, was wir machen müssen, um den Artenrückgang zu stoppen. Das sind ganz viele Bausteine, die wir umsetzen müssen. Was aber ganz elementar ist: Es muss auch flächenwirksam sein. Es bringt nichts, wenn wir auf wenigen Prozent der Bundesfläche Insektenschutz betreiben. Das wird nicht reichen.

Jedicke: Ich nehme positiv wahr, dass es vielen Menschen nicht mehr egal ist, wie wir mit unserer Biodiversität umgehen. Sie erkennen, dass Biodiversität für den Menschen lebensnotwendig ist. Da hoffe ich, dass dieses Erkennen, diese Bewegung – denken wir nur an das Volksbegehren in Bayern und in anderen Bundesländern – wirklich zu einem Systemwechsel im Umgang mit Natur und Landschaft führt.

Es gibt also Lösungen und einen Hoffnungsschimmer, dass diese Lösungen auch umgesetzt werden. Herr Fartmann, Herr Jedicke, vielen Dank für den Einblick in Ihr Buch!

 

Buchtipp:

Insektensterben in Mitteleuropa. Ursachen und Gegenmaßnahmen. Thomas Fartmann, Eckhard Jedicke, Merle Streitberger, Gregor Stuhldreher. 2021. 303 S., 195 Farbfotos, 105 Diagramme und Zeichnungen, 9 Tabellen, gebunden. ISBN 978-3-8186-0944-3. 48,00 €

Bestellung unter Webcode NuL4028

 

 

 

Prof. Dr. Thomas Fartmann ist Ökologe und Biogeograph. Er leitet die Abteilung Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Auswirkungen des rezenten Landnutzungs- und Klimawandels auf die Biodiversität. Darüber hinaus sind die Störungsökologie und Renaturierungsökologie weitere wichtige Themenfelder. Bislang hat er mehr als 200 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

 

 

Prof. Dr. Eckhard Jedicke ist Geograph mit Schwerpunkt Landschaftsökologie. Er ist Professor für Landschaftsentwicklung an der Hochschule Geisenheim und betreut als wissenschaftlicher Herausgeber die Zeitschrift Naturschutz und Landschafts- planung.

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