EuGH bestätigt strenges Schutzregime für europäisch geschützte Arten
Der Europäische Gerichtshof hat sich in einem Vorabentscheidungsersuchen der schwedischen Kammer für Land- und Umweltangelegenheiten des Gerichts erster Instanz Vänersborg mit der Auslegung der Regelungen zum europäischen Artenschutzrecht in Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie (V-RL) und Art. 12 Abs. 1 der FFH-Richtlinie (FFH-RL) befasst.
- Veröffentlicht am

Im Ausgangsverfahren ging es um die vorgesehene Abholzung einer Waldfläche, die sowohl einigen europäischen Vogelarten als auch dem über Anhang IV FFH-RL streng geschützten Moorfrosch (Rana arvalis ) als natürlicher Lebensraum dient. Die in diesem Gebiet geplante Waldbewirtschaftung hätte zur Folge, dass Exemplare dieser geschützten Arten gestört oder getötet und ihre Eier zerstört würden.
Gemäß Art. 5 V-RL sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Regelungen zu erlassen, die für alle europäischen Vogelarten unter anderem verbieten:
a) das absichtliche Töten oder Fangen,
b) die absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und die Entfernung von Nestern,
c) das Sammeln der Eier in der Natur und den Besitz dieser Eier, auch in leerem Zustand,
d) das absichtliche Stören, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt.
Vorlagefragen
Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das schwedische Gericht wissen, ob diese Verbote für alle europäischen Vogelarten gelten oder ob sie lediglich Arten erfassen, die in Anhang I der Richtlinie aufgeführt, auf irgendeiner Ebene bedroht oder deren Populationen auf lange Sicht rückläufig sind. Der EuGH macht hierzu deutlich, dass die Vogelschutzrichtlinie erlassen wurde, weil bei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ein Rückgang der Bestände festzustellen war. Deshalb erstreckt sich der Geltungsbereich der Richtlinie auf „sämtliche wild-lebende Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf das der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind“, Art. 1 Abs. 1 V-RL. Geschützt werden nicht nur die Vögel selbst, sondern auch ihre Eier, Nester und Lebensräume, Art. 1 Abs. 2 V-RL. Auch der Wortlaut von Art. 5 V-RL lässt keinen Zweifel daran, dass die Verbote für alle in der europäischen Union heimischen Vogelarten – unabhängig von ihrem Gefährdungsgrad – gelten. Regelungen, die sich auf den Schutz von Arten des Anhangs I V-RL (d.h. Arten, für deren Erhaltung die zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete als Schutzgebiete auszuweisen sind) oder von Arten beschränken, die auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist, sind mit den Vorgaben aus Art. 5 V-RL nicht vereinbar. Daher muss z.B. auch vor der Zulassung und Ausführung von Vorhaben sichergestellt sein, dass die Zugriffsverbote für alle Vogelarten eingehalten werden. Auch häufige Arten dürfen hierbei nicht außer Acht gelassen werden.
Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um die Auslegung der Begriffe „absichtliches Töten/Stören/Zerstören“ in Art. 5 Buchst. a-d V-RL und in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a-c FFH-RL. Insbesondere möchte das Gericht wissen, ob diese Verbote „in dem Fall, dass mit einer Maßnahme offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird, als Arten zu töten oder zu stören (z.B. forstwirtschaftliche Maßnahmen oder Erschließung)“, anwendbar und einer populationsbezogenen Betrachtung zugänglich sind. Da die schwedische Artenschutzverordnung – wie auch die deutsche Regelung in § 44 Abs. 1 BNatSchG – die Regelungsvorgaben aus Art. 5 V-RL und Art. 12 Abs. 1 FFH-RL mit einer einheitlichen Regelung umsetzt, sodass sich die Verbote nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a-c FFH-RL auch auf Vögel erstrecken, erachtet es der EuGH als ausreichend, sich bei der Auslegung auf die FFH-Richtlinie zu beziehen. Nach dieser Regelung haben die Mitgliedstaaten ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten einzuführen; dieses verbietet:
a) alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;
b) jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;
c) jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur.
Der Gerichtshof führt hierzu aus, dass „Absicht“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a-c FFH-RL bereits dann vorliegt, wenn ein „Töten/ Stören/Zerstören“ zwar nicht Ziel der Handlung ist, dies jedoch zumindest in Kauf genommen wird. Die genannten artenschutzrechtlichen Verbote können daher auch „auf eine Maßnahme wie eine forstwirtschaftliche Maßnahme oder eine Erschließung Anwendung finden, mit der offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird als das Fangen oder Töten, die Störung von Tierarten oder die absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern“, so der EuGH.
Ebenso macht der Gerichtshof deutlich, dass diese Verbote immer individuenbezogen zu betrachten sind. Hierauf weise bereits der Wortlaut dieser Bestimmung hin, indem bestimmte Handlungen, die „Exemplare“ (Buchst. a) oder „Eier“ (Buchst. c) von Tierarten beeinträchtigen, zu verbieten sind. Dieser Individuenbezug besteht, wie der EuGH nachdrücklich betont, auch beim Störungsverbot nach Buchst. b, der insbesondere während sensibler Zeiten „jede absichtliche Störung dieser Arten“ verbietet. Diesem Verbot komme zwar eine gesteigerte Bedeutung während der Zeiten zu, „in denen die Exemplare insbesondere im Hinblick auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit oder ihren Fortpflanzungserfolg besonders verletzlich sind, sodass eine Missachtung des Verbots in besonderer Weise geeignet ist, sich auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art negativ auszuwirken“, allerdings schließe der Wortlaut der Regelung nicht aus, dass auch „Maßnahmen, die kein solches Risiko bergen“ vom Störungsverbot erfasst werden. Nationalen Regelungen, nach denen ein Verstoß gegen das Störungsverbot erst dann vorliegt, wenn damit eine Verschlechterung des Erhaltungszustands der betroffenen Tierart verbunden ist, erteilt der Gerichtshof damit eine klare Absage. Vielmehr spielt der Erhaltungszustand der Art erst im Rahmen der Ausnahmeregelung des Art. 16 FFH-RL (bzw. Art. 9 V-RL) eine Rolle. Hierzu führt der EuGH aus: „Würde die Anwendbarkeit der Verbote nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie vom Risiko einer negativen Auswirkung der in Rede stehenden Maßnahme auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art abhängig gemacht, so könnte dies zu einer Umgehung der nach Art. 16 dieser Richtlinie vorgesehenen Prüfung führen und würde somit bewirken, diesem Artikel, den Ausnahmevorschriften und den sich daraus ergebenden restriktiven Voraussetzungen ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen“.
Die Verpflichtung zur Einhaltung der artenschutzrechtlichen Verbote endet nicht mit der Erreichung eines günstigen Erhaltungszustands. Daher müssen auch Arten, die sich in einem günstigen Erhaltungszustand befinden, gegen jede Verschlechterung dieses Zustands geschützt werden.
Die letzte vom EuGH beantwortete Frage befasst sich mit dem Schutz von Fortpflanzungs- und Ruhestätten. Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. d FFH-RL haben die Mitgliedstaaten Regelungen zu erlassen, um „jede Beschädigung oder Vernichtung“ dieser Stätten zu verbieten. Das schwedische Gericht möchte wissen, ob eine nationale Regelung europarechtkonform ist, die einen Verlust der kontinuierlichen ökologischen Funktionalität der Fortpflanzungs- und Ruhestätten in einem Gebiet erst dann als verbotsrelevant betrachtet, wenn sich der Erhaltungszustand der betroffenen Art zu verschlechtern droht. Auch hierzu stellt der Gerichtshof klar, dass das in Art. 12 Abs. 1 Buchst. d FFH-RL festgelegte Verbot nicht von der Anzahl der Exemplare der betroffenen Art abhängig ist und daher auch nicht vom Risiko einer negativen Auswirkung auf den Erhaltungszustand abhängen kann. Auch dieses Verbot ist somit keiner populationsbezogenen Betrachtung zugänglich. Zum Begriff der „ökologischen Funktionalität“ von Fortpflanzungs- und Ruhestätten selbst enthält das Urteil keine Ausführungen. Die Europäische Kommission geht jedenfalls in ihrem „Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG, endgültige Fassung“ aus dem Jahr 2007 davon aus, dass das Verbot nicht verletzt ist, wenn die kontinuierliche ökologische Funktionalität dieser Stätten (in quantitativer wie qualitativer Hinsicht) vollständig erhalten bleibt. Ob der EuGH diese Sichtweise teilt – und ob dann gegebenenfalls auch sogenannte „vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen“ in die Saldierung einbezogen werden dürfen, bleibt abzuwarten.
Bedeutung des Urteils für das deutsche Artenschutzrecht
Aufgrund des vorliegenden EuGH-Urteils erweisen sich auch die Regelungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG und des § 44 Abs. 4 BNatSchG als nicht mit EU-Recht vereinbar. § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG verbietet es, wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören, wobei eine Störung nur dann als „erheblich“ eingestuft wird, wenn sich dadurch der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert. Da das in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b FFH-RL enthaltene Störungsverbot jedoch nicht populationsbezogen relativiert werden darf, widerspricht diese Regelung zumindest in Bezug auf die in Anhang IV aufgeführten Tierarten den europäischen Vorgaben. Ob eine Störung Auswirkungen auf den Erhaltungszustand einer Art hat, darf erst im Rahmen der Ausnahmeregelung (Art. 16 FFH-RL, § 45 Abs. 7 BNatSchG) eine Rolle spielen.
Die Regelung des § 44 Abs. 4 BNatSchG bestimmt in Bezug auf Arten des Anhangs IV FFH-RL und europäische Vogelarten, dass die nach den Regeln der guten fachlichen Praxis durchgeführte land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung nicht gegen die artenschutzrechtlichen Verbote verstößt, sofern sich der Erhaltungszustand der lokalen Population durch die Bewirtschaftung nicht verschlechtert. Nachdem nun das EuGH-Urteil klargestellt hat, dass nationale Regelungen, welche die Verwirklichung der individuenbezogenen Verbotstatbestände einer populationsbezogenen Relativierung unterstellen, gegen europarechtliche Vorgaben verstoßen, ist auch hier eine Anpassung des Bundesnaturschutzgesetzes erforderlich.
Autoren
Ass. jur. Jochen Schumacher und Dipl.-Biol. Anke Schumacher arbeiten am Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen. Das Institut ist interdisziplinär orientiert und befasst sich insbesondere mit Fragestellungen, die sowohl naturschutzfachlich-ökologische Aspekte als auch (umwelt- und naturschutz-)rechtliche Problemstellungen aufweisen.
Barrierefreiheit Menü
Hier können Sie Ihre Einstellungen anpassen:
Schriftgröße
Kontrast
100 Euro Rabatt auf Ihr Stellenangebot
Als Abonnent:in von Naturschutz und Landschaftsplanung erhalten Sie pro Kalenderjahr 100 Euro Rabatt auf Ihr Stellenangebot im Grünen Stellenmarkt.
mehr erfahrenNoch kein Abo? Jetzt abonnieren und Rabatt für 2025 sichern.
zum Naturschutz und Landschaftsplanung-Abo
Zu diesem Artikel liegen noch keine Kommentare vor.
Artikel kommentierenSchreiben Sie den ersten Kommentar.