Defizite bei der Benennung charakteristischer Arten in FFH-Lebensraumtypen am Beispiel Hautflügler (Hymenoptera) und Zweiflügler (Diptera)
Zu dem Beitrag „Berücksichtigung charakteristischer Arten in der FFH-Verträglichkeitsprüfung – Operationalisierung im Bundesland NRW“ von Katrin Wulfert, Ernst-Friedrich Kiel, Jochen Lüttmann, Moritz Klußmann und Lydia Vaut in Naturschutz und Landschaftsplanung 49 (12), 2017, S. 373–381
- Veröffentlicht am
Über 20 Jahre nach Bekanntgabe der FFH-Richtlinie von 1992 und der darin in Art. 1 lit. e enthaltenen Definition, dass sich der „günstige Erhaltungszustand eines natürlichen Lebensraumes“ u.a. am „günstigen Erhaltungszustand der für ihn charakteristischen Arten“ manifestiert, und angesichts der Notwendigkeit, diese im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung für Pläne und Projekte nach § 34 BNatschG zu betrachten, hat das Land Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden „Berücksichtigung charakteristischer Arten der FFH-Lebensraumtypen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung in Nordrhein-Westfalen“ erarbeitet und ihn per Runderlass bei den nordrhein-westfälischen Naturschutzbehörden eingeführt.Wulfertet al. (2017) beschreiben, welche Arten als charakteristisch anzusehen sind. In der Arbeit enthalten ist Abb. 5 mit der Untertitelung „Ergebnis des Auswahlprozesses charakteristischer Arten für die Lebenraumtypen in NRW“. Es fällt auf, dass aus den beiden artenreichsten Tiergruppen in Deutschland und wohl auch in Nordrhein-Westfalen keine als charakteristisch geführt wird: Von den etwa 48 000 zur rezenten Fauna Deutschlands gehörenden Arten benennenVölklet al. (2004) 9 318 als zu den Hautflüglern (Hymenoptera) und 9 213 als zu den Zweiflüglern (Diptera) gehörend, mithin 38,6 %.
WieWulfertet al. (2017) korrekt feststellen, führt das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung aus, dass charakteristische Arten solche sind, „anhand derer die konkrete Ausprägung eines Lebensraums und dessen günstiger Erhaltungszustand in einem konkreten Gebiet und nicht nur ein Lebensraumtyp im Allgemeinen gekennzeichnet wird“ (bspw. BVerwG, Urt. v. 06.11.2013 – Az. 9 A 17. 11, Rn. 52). Eine Art gilt als charakteristische Art eines Lebensraumtyps, sofern eines der Kriterien Vorkommensschwerpunkt, Bindungsgrad oder Habitat-/Strukturbildner erfüllt ist.
Zweifelsohne gibt es auch unter den Hautflüglern und den Zweiflüglern Arten mit einem Vorkommensschwerpunkt in einem FFH-Lebensraumtyp oder mit einer starken Bindung an die Strukturen/die Vegetation eines FFH-Lebensraumtyps. Die Feststellung ist angesichts der Artenvielfalt in beiden Gruppen banal. Wieso also sind für Nordrhein-Westfalen keine Hautflügler und keine Zweiflügler als charakteristische Arten benannt worden, obwohl die „Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands“ die Empfindlichkeit vieler Arten in beiden Tiergruppen gegenüber Wirkfaktoren belegt (vgl. BfN 2011) und – ebenfalls banal – viele bestandsbedrohte Hautflügler und Zweiflügler in FFH-Gebieten vorkommen?
In Nordrhein-Westfalen sind sie nicht weiter beachtet worden, „da nach derzeitigem Kenntnisstand keine ausreichenden Erkenntnisse über den Bindungsgrad der jeweiligen Arten vorhanden sind und/oder ein ausreichendes artspezifisches Wirkungswissen nicht vorliegt, um diese Arten als charakteristische Arten im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung sinnvoll berücksichtigen zu können“ (Bosch und Partner & FÖA Landschaftsplanung 2016: 14).
Wo jedoch Hautflügler oder Zweiflügler in den einzelnen FFH-Lebensraumtypen vorkommen, ist grundsätzlich die Annahme berechtigt, dass unter ihnen Arten vorhanden sind, die für eine FFH-Verträglichkeitsprüfung zu berücksichtigen wären. Oder anders ausgedrückt: FFH-Verträglichkeitsprüfungen, die dieser Anforderung nicht entsprechen, sind als rechtsfehlerhaft einzustufen. Es darf nicht länger hingenommen werden, dass Hautflügler, Zweiflügler und andere Gruppen von Organismen mangels erforderlichen Wissens unbeachtet bleiben, und zwar bundesweit. Für das erforderliche Wissen in Deutschland zu sorgen, ist Aufgabe des Staates und der einzelnen Bundesländer. Es besteht eine Bringschuld.
Literatur
BfN (Bundesamt für Naturschutz, 2011): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands. Band 3: Wirbellose Tiere (Teil 1). Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (3), 716 S.
Bosch und Partner, FÖA Landschaftsplanung (2016): Berücksichtigung charakteristischer Arten der FFH-Lebensraumtypen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung. Leitfaden für die Umsetzung der FFH-Verträglichkeitsprüfung nach § 34 BNatSchG in Nordrhein-Westfalen. Studie i.A. des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz NRW, Herne/Trier, 65 S. + Anhang.
Völkl, W., Blick, T., Kornacker, P.M., Martens, H.(2004): Quantitativer Überblick über die rezente Fauna von Deutschland. Natur und Landschaft 79 (7), 293-295.
Wulfert, K., Kiel, E.-F., Lüttmann, J., Klussmann, M., Vaut, L.(2017): Berücksichtigung charakteristischer Arten in der FFH-Verträglichkeitsprüfung – Operationalisierung im Bundesland NRW. Naturschutz und Landschaftsplanung 49 (12), 373-381.
Kontakt
Dr. Reiner Theunert , Umwelt & Planung Dr. Theunert, Fachbüro für Umweltplanung, Hohenhameln
Zu diesem Artikel liegen noch keine Kommentare vor.
Artikel kommentierenSchreiben Sie den ersten Kommentar.