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Editorial

Scheinriesen in der Agrarpolitik – Lobbyarbeit durch plumpe Meinungsmache

Erinnern Sie sich an Herrn Tur Tur? Ein „Scheinriese“ in Michael Endes Kinderbuch-Klassiker „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“: Aus der Ferne erscheint er groß wie ein Riese. Je näher man sich aber heranwagt, desto normaler wirkt er. Ähnlich scheint die Agrarlobby, vertreten durch den Deutschen Bauernverband, das Konzept der Ökologischen Vorrangflächen (ÖVF) gesehen zu haben: bedrohlich groß, ja existenzbedrohend für die Landwirtschaft.

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Die Ecological Focus Areas bilden für EU-Agrarkommissar Ciolos¸ ein Rückgrat einer Ökologisierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP): Als Teil des sogenannten Greenings der 1. Säule, in der sich die Direktzahlungen an Landwirtschaftsbetriebe finden, sollte der Nachweis von 7 % Vorrangflächen an der Ackerfläche eines Betriebes eine von drei Bedingungen bilden, um 30 % der Direktzahlungen auszuzahlen.

Wider besseren Wissens haben Bauernverband und ­Agrarministerin Ilse Aigner unisono über Monate behauptet, die Gesellschaft könne es sich nicht leisten, 7 % der Ackerfläche faktisch stillzulegen. Nie aber war eine Still­legung gefordert – es ging und geht um ökologische Funktionen, nicht mehr und nicht weniger. Flugs vermeldete Aigner nach der Ratseinigung in Brüssel als Erfolg ihrer Verhandlungen: „Beim Greening ist die Forderung nach einer pauschalen Flächenstilllegung vom Tisch, zugunsten der Stärkung einer umweltgerechten nachhaltigen Landwirtschaft.“ Plump, oder?

Welche Optionen für ÖVF welche Wirkungen entfalten, analysiert der erste Hauptbeitrag. Fazit: Bei einer guten Umsetzung können sich neben hohen ökologischen Effekten möglicherweise auch sehr interessante ökonomische Perspektiven für die Landwirte ergeben. Dabei sind die erwartbaren Ökosystemleistungen durch ein Netz an ÖVF noch gar nicht berücksichtigt: Lebensraum für Blütenbestäuber und natürliche Gegenspieler von Schäden anrichtenden Organismen in den Kulturen können Geld sparen und Erträge verbessern. Auf diesem Auge aber ist die Lobby der Landwirtschaft offensichtlich blind.

Kein Zweifel, die riesenhafte Übertreibung der ÖVF-Dimension à la Scheinriese Tur Tur war bewusste Meinungsmache. Und der Erfolg gibt aus Sicht der Gegner dieser Strategie recht. Denn was in den Voten von Europäischem Parlament und Europäischem Rat übrig blieb, sind vor allem verbale Beschönigungen, O-Ton Ilse Aigner: Mit dem „wirksamen Greening wird auch das Prinzip ‚Öffentliche Gelder für öffentliche Leistungen‘ in den Vordergrund gerückt.“ 70 % der Direktzahlungen aber fließen weiter ohne jede Bindung an Umweltaspekte. Warum gibt der Steuerzahler dafür so viel Geld aus? Agrarökologie und Agrarökonomie ließen sich mit iden­tischem Mitteleinsatz auch unter einen Hut bringen!

Die Realität: Aus 7 % (ökologisch nötig wären 10 %, Deutschland wollte auf 3,5 % reduzieren) wurden zunächst 5 % ab 2015, ab 2018 kann ­dieser Satz auf 7 % erhöht werden. Er gilt nur für Betriebe mit mehr als 15ha Acker- und Dauerkulturfläche. Nun kommt es wieder einmal darauf an, was die Mitgliedstaaten daraus machen. Bleibt zu hoffen, dass die Bundesrats-Mehrheit hier auf substanzielle Wirksamkeit drängt. Das gilt gleichermaßen für die Mittelausstattung für die 2. Säule, aus der Agrarumweltmaßnahmen finanziert werden: Die wird in Deutschland um 15 bis 20 % knapper als derzeit ausfallen. Aber die Regierung könnte bis zu 15 % der Mittel der 1. Säule in die 2. Säule übertragen – aus fachlicher Sicht ein Muss. Und für die Länderfinanzminister ein guter Deal, denn die übertragenen Mittel finanziert die EU zu 100 %.

Das vorliegende Heft bietet weitere aktuelle Materialien für eine engagierte Agrarumweltpolitik:

zum HNV-Grünland als Indikator für naturnahe Landwirtschaft,

mit einem neuen Weg der Bürgerbeteiligung in internationalen Verhandlungen – warum nicht auch in der Agrarpolitik?,

zum Schutz von Ackerwildkräutern – die durch Blühmischungen im Rahmen der ÖVF zusätzlich gefährdet werden können,

mit Tipps zu alternativen Finanzierungsoptionen für Biodiversität.

Scheinriese Tur Tur fand übrigens seine Rolle als lebendiger Leuchtturm für Lummerland und warnte den Postboten mit seinem Schiff, nicht mehr mit der kleinen Insel zu kollidieren. Ob die Ökologischen Vorrangflächen in übertragenem Sinne ein „Leuchtturm“ der Agrarpolitik werden? Oder ist die Lösung des drängenden Agrarumwelt-Problems auf 2021 vertagt?

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