Artenschutzrecht in der Praxis am Beispiel der Zauneidechse
Eine differenzierte Interpretation der Rechtsvorschriften im BNatSchG zum strengen Artenschutz formuliert das nachfolgende Statement – eine Reaktion auf den Beitrag „Fortpflanzungs- und Ruhestätten bei artenschutzrechtlichen Betrachtungen in Theorie und Praxis – Grundlagen, Hinweise, Lösungsansätze – Teil 2: Reptilien und Tagfalter“ von der HVNL-Arbeitsgruppe Artenschutz, Annette Möller und Andrea Hager in Band 44 (10), 2012, Seiten 307-316.
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Fortpflanzungs- und Ruhestätten
Von Hubert Laufer
Der strenge Artenschutz ist ein komple-xes Thema. Nur wenn sich jemand juristisch mit §44 BNatSchG und naturschutzfachlich mit der/den betroffenen Art(en) gut auskennt, ist er in der Lage, eine artenschutzrechtliche Beurteilung korrekt abzuarbeiten. Hierzu gehören in beiden Disziplinen Fortbildungen und eine intensive Auseinandersetzung über die jeweiligen Grenzen hinweg. Ein Weg hierzu ist die Veröffentlichung eines Fachbeitrages, der zur Diskussion gestellt wird, so wie der o.g. Artikel. Diejenigen, die damit beginnen, haben es immer am schwersten. Deshalb bin ich der Arbeitsgruppe Artenschutz für ihre Veröffentlichung dankbar, möchte aber in einzelnen Punkten darauf erwidern, da ich diese anders interpretiere. Ich beziehe mich nachfolgend ausschließlich auf die Reptilien bzw. die Zauneidechse (Lacerta agilis).
1 Indirekte Beeinträchtigungen
In der Definition unter Punkt 2.1 im letzten Absatz wird ausgeführt, dass durch mittelbare Beeinträchtigungen (z.B. Lärm) der Verbotstatbestand nach §44 Abs.1 Nr.3 (Zerstörungsverbot) nicht ausgelöst wird. Stattdessen soll ggf. eine Prüfung nach §44 Abs.1 Nr.2 (Störungsverbot) erfolgen. Diese Aussage ist zwar für Reptilien nicht wesentlich, kann aber auch anders gesehen werden.
Nach §44 Abs.1 Nr.3 ist es verboten, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören.
Es handelt sich nur dann um eine Beschädigung oder Zerstörung, wenn eine direkte Einwirkung auf die geschützten Lebensstätten vorliegt, die sich nachteilig auf deren Funktion auswirkt (KG Berlin 2000). Verlassen Tiere ihre Lebensstätte aufgrund indirekter Einwirkungen wie Lärm, Licht, Erschütterung und Geruch oder sonstiger Beunruhigungen oder Scheuchwirkungen, so werden die betreffenden Lebensstätten nicht beschädigt oder zerstört. Es handelt sich hierbei um Einwirkungen auf die Tiere selbst, sodass zwar das Störungsverbot verwirklicht werden kann, aber keine Beschädigung oder Zerstörung der geschützten Lebensstätten vorliegt (KG Berlin 2000, Louis 2009).
Solche indirekten Beeinträchtigungen können jedoch (zusätzlich zur Störung) als Entnahme aus der Natur gewertet werden (BVerwG 2009a, Hinsch 2011, Kokott 2011). Eine Entnahme aus der Natur ist gegeben, wenn dem Tier die jeweiligen geschützten Lebensstätten durch eine anthropogene Handlung auf nennenswerte Dauer entzogen werden (KG Berlin 2000), z.B. durch Einwirkungen wie Lärm, Licht, Erschütterung und Geruch oder sonstige Beunruhigungen oder Scheuchwirkungen (Lau 2012).
2 Bauzeitenbeschränkung
Unter Punkt 3.1.3 wird zur Bauzeitenbeschränkung angegeben, dass sie alleine keine geeignete Vermeidungsmaßnahme darstellt. Das ist zwar richtig, da Vermeidungsmaßnahmen immer aus einem Komplex von mehreren Maßnahmen bestehen. Für den Leser oder die Leserin stellt sich dieser Satz aber so dar, als wären Bauzeitenbeschränkungen für Eidechsen überhaupt keine Möglichkeit, um die Folgen eines Eingriffs zu vermeiden oder minimieren.
Obwohl die Zauneidechse ganzjährig in ihrem Lebensraum vorkommt, kann es beim Tötungsverbot nach §44 Abs.1 Nr.1 wichtig sein, kleinräumig zu differenzieren. So kann es z.B. bei einer Böschungssanierung entlang einer Bahnstrecke, bei der die Böschung nachweislich als Winterquartier ungeeignet ist, eine sinnvolle Maßnahme sein, eine Bauzeitenbeschränkung (nur im Winter arbeiten) in Kombination mit der Ausweisung einer Tabu-Fläche (nicht in den Schotter = Winterquartier eingreifen) vorzuschlagen.
Nach §44 BNatSchG Abs.1 Nr.2 ist es verboten, wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören; eine erhebliche Störung liegt vor, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert.
Die Fortpflanzungs- und Aufzuchtzeit beginnt bei den Eidechsen mit der Paarung und endet, wenn die Jungtiere geschlüpft und somit selbstständig sind (vgl. Louis 2009, OVG Berlin 2009). Als Mauser bezeichnet man das regelmäßige Abwerfen und Neuwachstum der Vogelfedern. Die Mauser stellt für Vögel eine energetische Belastung dar und eine Reihe von Arten ist während der Mauser flugunfähig. Eine vergleichbare Situation ist zumindest bei Schlangen die Häutung. Schlangen haben transparente zusammengewachsene Augenlider oder uhrglasartige Augenabdeckungen, die sich mit häuten und vor der Häutung durch Wassereinlagerung darunter trüb werden. In dieser Zeit sind die Schlangen deutlich weniger aktiv, fressen wenig bis nichts und sind wesentlich stärker durch Prädation gefährdet. Daher ist die Häutung bei Schlangen im Sinne des §44 BNatSchG mit der Mauser gleichzusetzen. Bei unseren einheimischen Eidechsen ist ein ähnliches Verhalten nicht bekannt.
Die Überwinterungszeit beginnt mit dem Aufsuchen der Überwinterungsstätte und endet mit dem Verlassen dieser (vgl. Louis 2009). Unter Wanderung versteht man die periodische, in der Regel durch jahreszeitliche Veränderungen oder Änderungen des Futterangebots bedingte Migration von Tieren von einem Gebiet zum anderen als natürlicher Teil ihres Lebenszyklus (EU-Leitfaden 2007). Unsere einheimischen Eidechsen sind Biotopkomplexbewohner, die unterschiedliche Teilhabitate in einem räumlichen Zusammenhang bewohnen. Eine Wanderung zwischen den verschiedenen Teilhabitaten, wie es sie z.B. bei Amphibien gibt, ist bei den heimischen Eidechsen nicht bekannt, daher gibt es in diesem Sinne auch keine Wanderungszeit.
Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass die Eidechsen nicht das ganze Jahr über geschützt sind. Bei den Zauneidechsen-Vorkommen in Süddeutschland gibt es im Frühjahr zwischen dem Ende der Überwinterung und dem Beginn der Fortpflanzungszeit ein Zeitfenster von etwa drei Wochen und im Herbst nach der Fortpflanzungszeit und vor Beginn der Überwinterung nochmals ein circa acht Wochen langes Zeitfenster. Das zeigt auf, dass beim Störungsverbot eine Bauzeitenbeschränkung eine sehr gute Vermeidungsmaßnahme darstellt.
3 Ökologische Funktion
Im Artikel wird an mehreren Stellen davon ausgegangen, dass die ökologische Funktion im räumlichen Zusammenhang erfüllt ist, wenn für die Zauneidechse nach einem Eingriff noch 1 bis 4 ha Lebensraum übrig bleiben. Ob einer Zauneidechsen-Population eine Fläche von 1 bis 4 ha für ein langfristiges Überleben ausreicht, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
§44 Abs.5 Satz 2 lautet: Sind in Anhang IV Buchstabe a der Richtlinie 92/43/EWG aufgeführte Tierarten, europäische Vogelarten oder solche Arten betroffen, die in einer Rechtsverordnung nach §54 Absatz 1 Nummer 2 aufgeführt sind, liegt ein Verstoß gegen das Verbot des Absatzes1 Nummer 3 und im Hinblick auf damit verbundene unvermeidbare Beeinträchtigungen wild lebender Tiere auch gegen das Verbot des Absatzes 1 Nummer 1 nicht vor, soweit die ökologische Funktion der von dem Eingriff oder Vorhaben betroffenen Fortpflanzungs- oder Ruhestätten im räumlichen Zusammenhang weiterhin erfüllt wird.
Schon allein die Möglichkeit, dass von einem 10 ha großen Lebensraum der Zauneidechse 6 ha zerstört und die darin lebenden Eidechsen getötet werden können, und dennoch keine Vermeidungs- oder Minimierungsmaßnahmen erforderlich sein sollen, würde die FFH-Richtlinie und das BNatSchG ad absurdum führen. Durch eine derartige Vorgehensweise könnte die Zauneidechse massiv Habitate verlieren und die Populationen würden extrem zurückgehen. Als Folge eines derartigen Vorgehens blieben verinselte Vorkommen mit 4 ha großen Lebensräumen übrig. Und wie geht es weiter, wenn die 4 ha für ein langfristiges Überleben nicht ausreichen?
Mit dem Abstellen auf die Wahrung der ökologischen Funktion der betroffenen Lebensstätte und Standorte verfolgt §44 Abs. 5 Satz 2 und 4 BNatSchG ein rein ökologisch-funktionales Verständnis des Lebensstättenschutzes (Lau 2012). Der Funktionserhalt ist dann gegeben, wenn für die in ihren Lebensstätten konkret betroffenen Exemplare einer Art die von der Lebensstätte wahrgenommene Funktion vollständig erhalten bleibt, indem entweder im jeweiligen Revier weitere geeignete Fortpflanzungs- oder Ruhestätten zur Verfügung stehen oder durch entsprechende funktionserhaltende Maßnahmen ohne zeitlichen Bruch bereitgestellt werden (BVerwG 2009b, 2010b, VG Arnsberg 2010). Entscheidend ist allein, dass der verbleibende und/oder neu geschaffene Lebensraum nach aller Erfahrung die beeinträchtigten Funktionen für alle betroffenen Exemplare auffängt (BVerwG 2009c, VHG Mannheim 2010).
Nicht ausreichend ist im Regelfall, dass potenziell geeignete Ersatzlebensräume außerhalb des Vorhabensgebiets vorhanden sind (LANA 2010), denn es ist davon auszugehen, dass diese schon von der betroffenen Art genutzt werden und ohne gezielte Aufwertungsmaßnahmen keine höhere Siedlungsdichte zu erreichen ist (Kratsch 2011). Hat die geschützte Lebensstätte mindestens die gleiche (oder eine größere) Ausdehnung und eine gleiche (oder bessere) Qualität für die zu schützende Art, so liegt keine Beeinträchtigung der Funktion, Qualität oder Integrität der betreffenden Stätte vor (EU-Leitfaden 2007).
4 Umsiedlung
Im Artikel wird in mehreren Punkten die Bedeutung der Umsiedlung von Zauneidechsen erwähnt. An dieser Stelle soll nicht die rechtliche und naturschutzfachliche Sinnhaftigkeit von Umsiedlungen diskutiert werden.
Nach §44 (1)1 ist es verboten, „wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören“.
Unter Nachstellen werden sämtliche Handlungen verstanden, die ein Fangen, Verletzen oder Töten unmittelbar vorbereiten, wie z.B. das Ausbringen von Bodenfallen (Fangeimer) mit dem Ziel, Eidechsen zu fangen (vgl. Kratsch 2011). Fangen* meint den Zugriff auf ein lebendes Tier, bei dem der Fänger dem Tier die Freiheit nicht sofort und am Ort des Zugriffs wiedergibt bzw. wiederzugeben beabsichtigt (Lau 2011). Daher fällt auch die Umsiedlung von Tieren unter das Fangverbot, selbst wenn diese letztlich zum Schutz der betroffenen Exemplare geschieht (Lau 2012, Gellermann 2009 in Lau 2012).
Mit dem Umsiedeln von Zauneidechsen ist immer ein absichtliches Nachstellen und Fangen verbunden, das nach §44 BNatSchG verboten ist. Somit ist für eine Umsiedlung immer eine Ausnahmegenehmigung nach §44 BNatSchG erforderlich. Für die Notwendigkeit einer Ausnahmegenehmigung für Umsiedlungen spricht auch, dass beim Fangen häufig Tiere verletzt werden (z.B. Abwerfen des Schwanzes), Tiere häufig außerhalb des räumlichen Zusammenhangs verbracht werden (entsprechend dem Aktionsradius bei der Zauneidechse in Gebiete, die vom ursprünglichen Lebensraum der umgesiedelten Tiere weiter als 500 m entfernt sind) und Umsiedlungen somit keine CEF-Maßnahme sein können. Werden mehr als 5 % der lokalen Population umgesiedelt (was meist der Fall ist), stellt die Umsiedlung eine erhebliche Beeinträchtigung der lokalen Population dar und somit einen Verstoß gegen §44 Abs. Nr.2.
Quellen
EU-Leitfaden (2007): Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG. Endgültige Fassung, Februar 2007.
Hinsch, A. (2011): Windenergienutzung und Artenschutz – Verbotsvorschriften des §44 BNatSchG im immisionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren. Zeitschrift für Umweltrecht ZUR 04, 191-198.
Kratsch, D. (2012): Artenschutz: in Schumacher, J., Fischer-Hüftle, P., Hrsg., Bundesnaturschutzgesetz. Kohlhammer.
LANA (Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz, 2010): Hinweise zu zentralen unbestimmten Rechtsbegriffen des Bundesnaturschutzgesetzes. Thüringer Ministerium für Landwirtschaft, Forsten, Umwelt und Naturschutz (TMLFUN), Oberste Naturschutzbehörde, Erfurt.
Lau, M. (2011): Artenschutz. In: Frenz, W., Müggenborg, H.-J., Hrsg., Bundesnaturschutzgesetz. Erich Schmidt, Berlin.
– (2012): Der Naturschutz in der Bauleitplanung. Erich Schmidt, Berlin.
Louis, H.W. (2009): Die Haftung für Umweltschäden an Arten und natürlichen Lebensräumen. Natur und Recht 31, 2-7.
BVerwG (2009a): BVerwG, Urt. v. 13.05.2009 – 9A 73.07
– (2009b): BVerwG, Urt. v. 18.03. 2009 – 9A 39.07
– (2009c): BVerwG, Urt. v. 12.08. 2009 – 9A 64.07
– (2010): BVerwG, Urt. v. 09.06. 2010 – 9A 20.08
KG Berlin (2000): KG Berlin, Beschl. v. 04.05.2000 – 2 Ss 344/99
Kokott (2011): GAin Kokott, Schlussanträge v. 20.01.2011 – C-383/09
OVG Berlin (2009): OVG Berlin, Beschl. v. 11. 08.2009 – 11S 58.08
VG Arnsberg (2010): VG Arnsberg, Beschl. v. 20.04.2010- 8 L 522/09
VGH Mannheim (2009): VGH Mannheim Urt. v. 7.8.2009, 5 S 2348/08
Anschrift des Verfassers: Hubert Laufer, Landschaftsökologe (BVDL), Büro für Landschaftsökologie Laufer, Kuhläger 20, D-77654 Offenburg, E-Mail laufer@bfl-laufer.de.
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