Nationalpark Nordschwarzwald?
Die baden-württembergische Landesregierung bereitet die Ausweisung eines Nationalparks im Nordschwarzwald vor. Welchen naturschutzfachlichen Gewinn bringt die Einrichtung einer großen Fläche mit natürlicher Entwicklung in diesem Raum? Eine kritische Analyse.
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Die zweitbeste Lösung für den Naturschutz!
Von Albert Reif
Natürliche Waldentwicklung gewährleistet ein Überleben von Arten, die in genutzten Wäldern ausgestorben sind, eine ungestörte Entwicklung der Lebensgemeinschaften und evolutive Weiterentwicklung der Arten. Dies sind wichtige Ziele des Naturschutzes, die Nutzungsinteressen diametral entgegen gesetzt sind.
Natürliche Waldentwicklung ermöglicht tendenziell einen ungestörten Ablauf natürlicher Prozesse. Vollzieht sich diese auf großen Flächen, so sind ein relativ vollständiger Ablauf natürlicher Prozesse sowie eine relativ vollständige Entwicklung der Lebensgemeinschaften möglich. Aus diesem Grund erfordert die Deklaration zu einem Nationalpark nach IUCN-Kriterien, eine Mindestfläche von 7500 ha mit natürlicher Entwicklung als Kernzone auszuweisen.
Seit dem ersten Vorschlag zur Einrichtung eines Nationalparks im Nordschwarzwald durch Späth (1992) wird dieses Konzept daher in dieser Region kontrovers diskutiert (z.B. Rösler 2011, Scherfling 1993, Weidenbach 2011). In dieser waldgeprägten Landschaft prallen die Interessen der Forst- und Holzwirtschaft, der Tourismusindustrie, des Naturschutzes und der Jagd aufeinander.
Auch innerhalb des Naturschutzes bestehen unterschiedliche Möglichkeiten der Lebensraumentwicklung: Sollen möglichst große zusammenhängende Flächen mit natürlicher Waldentwicklung ausgewiesen werden oder viele kleinere, dafür besser verteilte Flächen geschützt werden? Welchen naturschutzfachlichen Gewinn bringt die Einrichtung einer großen Fläche mit natürlicher Entwicklung?
Weiterhin können Pflegeflächen mit dem Ziel des Arten- und Biotopschutzes nicht einer ungestörten Waldentwicklung unterliegen. Dies betrifft insbesondere auch den Nordschwarzwald, in dem die historische Waldnutzung die nadelholzgeprägten Lebensräume und ihre Arten förderte, welche heute jedoch einen Bestandsrückgang zu verzeichnen haben. Dieser Bestandsrückgang ist zurückzuführen auf das Aufhören historischer und zugleich das Eintreten einer Vielzahl neuartiger menschlicher Einflussfaktoren auf die Waldökosysteme. Die Analyse und naturschutzfachliche Bewertung des Prozesses der natürlichen Waldentwicklung bedarf des Verständnisses der Waldgeschichte kombiniert mit einer Prognose der wahrscheinlichen künftigen Entwicklungen.
Standort und potenzielle natürliche Vegetation des Nordschwarzwaldes
Die potenziell natürliche Waldvegetation (pnV) ist in der montanen und hochmontanen Höhenstufe des Nordschwarzwaldes durch das raue Klima und die Geologie des Buntsandsteins mit seinen nährstoffarmen Böden geprägt (Metz 1977). Auf der kontinentaleren, daher spätfrostgefährdeten Ostseite bzw. den Plateaulagen stellen nadelholzreiche Tannen-Buchen-Wälder mit geringen Anteilen von Fichte als Nebenbaumart (Luzulo-Abietetum, Vaccinio-Abietetum) die heutige pnV dar (Hauff 1967, Schloss 1978, Schülli 1959). Am ozeanischeren Westabfall dominiert die Buche (tannenreicher Buchenwald, Luzulo-Fagetum). Auf bewegten Hanglagen kommt der Bergahorn hinzu. Auf vernässten oder vermoorten Standorten verlieren Buche und Tanne an Konkurrenzkraft, dort bildet die Fichte die pnV (Bazzanio-Piceetum). Bei noch extremeren Standortsbedingungen fällt auch die Fichte zusehends aus. Am Rande von Hochmooren bildet die Spirke den Moorrandwald im Kontakt zum offenen Hochmoor. Weitere waldfreie Moorflächen finden sich in Karmulden, beispielsweise am Hohlohsee. Auf feinerdearmen Blockhalden wie im Naturwaldreservat „Rollwasser“ bilden die Wald-Kiefer, Karpatenbirke und Vogelbeere lichte Bestände im Übergang zu Beerstrauchheiden.
Diese beerstrauch- und nadelholzreichen Wälder sind von Natur aus und bis heute Lebensraum für eine Reihe seltener und gefährdeter Vogel-Arten, die in nadelholzgeprägten Wäldern ihren Schwerpunkt haben. Genannt seien Auer- und Haselhuhn, Raufuß- und Sperlingskauz (Dorka 1996, Hölzinger 1999, Hölzinger & Boschert 2001).
Waldnutzung seit dem Mittelalter
Seit der dauerhaften Besiedlung, also seit dem Mittelalter, lebte die bäuerliche Bevölkerung weitgehend von subsistenzorientierter gemischter Landwirtschaft, mit Ackerbau, Grünlandnutzung und Tierhaltung als Basis. Hinzu kamen Waldarbeit und Gewerbe. Die Extraktion von Bau- und Brennholz, Gewinnung von Harz, Pottasche, Holzkohle (Glashütten!), Waldweide und Streunutzung führten zu einer großflächigen Auflichtung, Zurückdrängung des Waldes und zu einem Nährstoffentzug der Böden.
Extensive Beweidung fand insbesondere an der Peripherie der Siedlungen sowie auf den früher viel großflächigeren Sommerhochweiden, den „Grinden“, statt. Dort bildeten sich Magerrasen in Form von Borstgrasrasen sowie Rotschwingel-Rotstraußgras-Weiden heraus. Das Weidevieh drang auch tief in die angrenzenden Wälder ein und lichtete diese auf.
Vor allem lichtliebende, anspruchslose und schnellwüchsige Baumarten, insbesondere Kiefer, Vogelbeere und Birken, profitierten von der Auflichtung, der Nährstoffverarmung und Vernässung durch die geringer gewordene Verdunstung der „devastierten“ Wälder, während die langsamwüchsigen Schattbaumarten Buche und Tanne zurück gedrängt wurden (Schülli 1959). In der Bodenvegetation gelangten die ohnehin bereits häufigen Beersträucher Heidelbeere, Preiselbeere, Heidekraut, an versumpften Stellen auch Rauschbeere, zur Dominanz. Streunutzung begünstigte die Wald-Kiefer und förderte die Bildung von Rohhumus (Hafner 1991). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreichte die Walddegradation ihren Höhepunkt.
Diese unsystematisch genutzten und übernutzten Wälder boten für die Arten borealer Lebensräume zusagende Sekundär-Habitate. Beerstrauchreiche, oftmals kieferndominierte Wälder mit Auflichtungen aller Größen, verbliebene schlecht geformte Altbäume, ein Mosaik verschiedener Waldstrukturen, Waldfreiheit im Umfeld von Mooren, Missen und extensiven Hochweiden förderten Arten wie das Auerhuhn (Schroth 1993), das inzwischen in Baden-Württemberg ausgestorbene Birkhuhn (Hölzinger & Boschert 2001) und die Ringdrossel (Hölzinger 1999).
Waldnutzung seit dem 19. Jahrhundert
Nach der räumlichen Trennung von Land- und Forstwirtschaft durch das badische Forstgesetz von 1833 wurden die Wälder als Altersklassenwald im Kahlhiebverfahren bewirtschaftet und mit Fichte bepflanzt, auf armen Böden erfolgte meist ein Anflug oder eine Ansaat von Wald-Kiefer und Fichte (Schiz 1985, Schülli 1959). Viele ehemalige Hutungen und Blößen wurden ebenfalls aufgeforstet, insbesondere mit Fichte. Vor allem seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die „Missen“ der vernässten Karmulden und Plateaulagen durch die Anlage weit verzweigter Grabensysteme entwässert (Schülli 1959). Durch die „Franzosenhiebe“ (Reparationshiebe) der Zeit nach 1945 entstanden weitere große Kahlflächen, in denen die schnellwüchsige Fichte gepflanzt wurde (Bruckner 1980). Hinzu kamen Wildstände in einer Höhe, welche die natürliche Verjüngung von Tanne und vielen Laubbaumarten fast völlig verhinderten. Die Fichte wurde somit in den letzten 200 Jahren zur landschaftsprägenden Baumart des Nordschwarzwalds (Schmidt 1994).
„Neuartige Waldschäden“ und Waldkalkung
Zunehmende Säurebelastung seit den 1980er Jahren führte auch im Nordschwarzwald zu einer Basenverarmung der Böden und Labilisierung der Wälder („neuartige Waldschäden“; Buberl et al. 1994). Magnesiummangel führte zur Reduktion der Vitalität und schließlich zum Absterben von Beständen, insbesondere der Fichte.
Nach starker Reduktion der Schwefeleinträge gegen Ende der 1980er Jahre belasten die immer noch hohen Stickstoffeinträge die Waldökosysteme weiter (Landesanstalt für Umweltschutz Baden-Württemberg 2004). Stickstoffeinträge führen zum einen ebenfalls zu Versauerung und Basenauswaschung, zum anderen stimulieren sie jedoch das Wachstum der Bäume, deren Bedarf an Magnesium dadurch steigt.
Auf den meisten Flächen versucht die Forstverwaltung, durch Waldkalkung dieser Versauerung entgegen zu wirken. Da oftmals nicht nur Kalk, sondern so genannte „Forstsondermischungen“ mit Phosphatanteilen ausgebracht werden, führen atmosphärische Einträge reaktiven Stickstoffs in Kombination mit derartiger Waldkalkung zu einer systematischen Düngung der Wälder (Höcke 2007). Bereits in den letzten beiden Jahrzehnten wurden großflächig die früher oftmals mächtigen Rohhumusdecken abgebaut, heute herrschen Moder oder Mull als Humusform vor. Dies verbessert das Wachstum der Bäume insgesamt, benachteiligt jedoch die lichtliebende Wald-Kiefer und führt zu einer Veränderung der Bodenvegetation (Kraft et al. 2003). Insbesondere lichtliebende Magerkeitszeiger werden zunehmend von Farnen, Brombeeren, Himbeeren und nährstoffliebenden krautigen Arten verdrängt. Auch in der Moosflora treten Veränderungen ein, säureliebende Arten wie Bazzania trilobata und Sphagnum-Arten werden tendenziell durch weiter verbreitete Moosarten ersetzt.
Stürme und Hinwendung zum Dauerwald
In den 1990er Jahren wurden große Waldflächen durch Stürme (Vivian und Wiebke 1990, Lothar 1999) geworfen, große Kahlflächen entstanden. Mehrere heiße Sommer führten zu Borkenkäfer-Kalamitäten, welche weitere Fichtenbestände zum Absterben brachten. Die Forstverwaltung reagierte mit einer Abkehr vom Altersklassenwald und einer Hinwendung zur Begründung gemischter Wälder, die seither in wiederstandsfähigeren „Dauerwald“ überführt werden. Die entsprechenden Waldentwicklungstypen zur bestandesbezogenen Waldbauplanung sind nach wie vor nadelholzbetont (Ministerium Ländlicher Raum Baden-Württemberg 199^), doch auch auf armen Böden sind Anteile von Buche und anderen Laubhölzern aus Voranbau und Naturverjüngung vorgesehen, um die Naturnähe und Resilienz der Wälder zu erhöhen (BUND 2012).
Prognose einer möglichen natürlichen Entwicklung
Mit einer Beendigung direkter forstlicher Einflussnahme werden auch im Nordschwarzwald auf armen Böden nach einem Zusammenbruch der Fichtenbestände zunächst wieder Fichten sowie Vorwaldbaumarten in durch Trockenheit und Befall mit Borkenkäfer labilen Beständen mittelfristig zur Vorherrschaft gelangen. An flachgründig-sauren, südexponierten Standorten kann die Kiefer beigemischt sein. Ähnlich wie im Nationalpark Bayerischer Wald werden strukturreiche, für den Naturschutz sehr interessante, doch für den Menschen ungewohnte Waldentwicklungsstadien entstehen. Unter der Annahme, dass auch in einem Nationalpark angesichts des Fehlens von größeren Prädatoren eine jagdliche Absenkung der Dichte der Wildstände erfolgen wird, würden jedoch Tanne und Buche langfristig selbst in heute großflächige Fichtenwaldungen wieder einwandern. Lediglich Blockhalden, Karseen und Moore würden dauerhaft waldfrei bleiben.
Überlagert werden diese Prozesse von den zunehmend spürbaren Auswirkungen des Klimawandels (Spekat 2007). Die heute bereits nachgewiesene Erhöhung der Lufttemperatur um etwa 0,2°C pro Jahrzehnt in Südwestdeutschland (Kirchgaessner 2001) führt zu einer längeren Vegetationsperiode mit wärmeren Sommern. In früheren Jahrzehnten ungewöhnliche Hitzejahre belasten insbesondere die Fichte. Die Tanne und vor allem die Buche dagegen werden langfristig wohl von der Temperaturerhöhung profitieren (Ammer et al. 2005, Kölling 2007). Hinzu kommt, dass bei Andauer der Stickstoffeinträge auch die schleichende Eutrophierung der Wälder weiter voran schreiten wird, was die Laubbäume begünstigt.
Es spricht daher Vieles dafür, dass sich langfristig auf den weit verbreiteten „Normalstandorten“ auf großen Flächen die nadelholzreichen Wälder durch natürliche Sukzession in buchengeprägte, tannenreiche Bergmischwälder (Luzulo-Fagetum, Galio-Fagetum) entwickeln werden. Fichte und Kiefer werden wahrscheinlich als Mischbaumart in geringen Anteilen und auf Sonderstandorten erhalten bleiben.
Zielkonflikte zwischen Vogelschutz und natürlicher Waldentwicklung
Wesentliche Charakteristika der Wälder des Nordschwarzwaldes waren und sind nährstoffarme Standorte mit offeneren Lebensräumen und einer Vielzahl verschiedener, nadelholzgeprägter Waldstrukturtypen. In diesen Lebensräumen fanden und finden viele heute seltene, gefährdete Arten zusagende Habitate.
Vor allem in den letzten 150 Jahren haben sich die Lebensräume gegenüber früher stark verändert: Die Wälder wurden insgesamt gleichförmiger, strukturärmer und dunkler, unterbrochen von Kahlschlagphasen. Nassstandorte verloren an Fläche und veränderten sich bezüglich ihrer Struktur und Artenzusammensetzung. Der Abbau der Rohhumusdecken und die Zunahme von Nährstoffzeigern weisen auf eine standörtliche „Drift“ hin, verbunden mit langfristigen und bis heute andauernden sukzessionalen Veränderungen. Dadurch geht die Jahrhunderte alte Habitattradition verloren. Künftig noch weiter zunehmende Erwärmung wird den nadelholzgeprägten Charakter der Wälder und damit den Lebensraum wichtiger Zielarten des Naturschutzes stark reduzieren.
Ein Schutz großer Teile des Nordschwarzwaldes in Form eines Nationalparks wird den Lebensraum der nadelholzgeprägten „borealen“ Arten langfristig weiter verschlechtern, insbesondere auch durch den Ausfall der Wald-Kiefer. Dies liegt daran, dass die meisten der neu auszuweisenden Flächen mit natürlicher Waldentwicklung wahrscheinlich auf mittleren, also nicht extremen Standorten erfolgen werden. Im Gegenzug ist nicht erkennbar, dass eine nennenswerte Zahl gefährdeter Arten durch das Einwandern der Buche neu hinzukommen würde: Nur wenige Arten sind spezifisch an die Buche gebunden (Walentowski et al. 2010).
Fachliche Kriterien und Prozessschutzgebiete
Die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ der Bundesregierung sieht vor, bis zum Jahr 2020 insgesamt 5 % der Waldfläche einer natürlichen Entwicklung zu überlassen (BMU 2007). In Baden-Württemberg wird angestrebt, bis 2020 etwa 32600 ha (ca. 10 % der Staatswaldfläche) als dauerhaft nutzungsfrei auszuweisen ( http://www.waldnaturschutz-forstbw.de/; Zugriff 26.03. 2012).
Werden große Totalreservate wie die Bereiche von Kernzonen eines Nationalparks ausgewiesen, kann sich dort langfristig die typische natürliche Lebensgemeinschaft aller Arten in großer Vollständigkeit einstellen, im Nordschwarzwald also die des Buchen-Tannen-Waldes. Dessen hohe Wertigkeit soll nicht bestritten werden (vgl. Walentowski et al. 2010), sie muss aber gesehen werden in Relation zur Vernetzung der Gesamtlandschaft sowie den Wertigkeiten der entsprechend geschützten Waldformationen der anderen Standorte. Denn die Ausweisung großer Kernzonen eines Nationalparks geht „zwangsläufig“ zu Lasten der Ausweisung einer größeren Anzahl kleinerer Gebiete mit natürlicher Waldentwicklung, da Vorrangflächen für den Prozessschutz flächenmäßig begrenzt sind. Aus diesem Grund auch muss die naturschutzfachliche Wertigkeit eines Nationalparks verglichen werden in Relation zu den Wertigkeiten einer flächenproportionalen Anzahl kleinerer Naturwaldreservate („SLOSS“-Debatte).
Ein Nationalpark benötigt mindestens 7500 ha an Kernzonenfläche. Für den Nationalpark Nordschwarzwald stünden 5000 ha bereits als Schutzgebiete mit natürlicher Entwicklung zur Anrechnung zur Verfügung (Abb. 1). Weitere 2500 ha würden in den kommenden 20 bis 30 Jahren in einer Nationalpark-Entwicklungszone zu Buchen-Tannen-Wäldern umgebaut werden, also der pnV und langfristig den gesamten Lebensgemeinschaften, wie sie sich bereits heute wie auch bei wärmerem Klima in dieser Höhenlage einstellen wird.
Angesichts der insgesamt beschränkten Fläche für nutzungsfreie Wälder müssen jedoch auch andere Varianten eines landesweiten Schutzgebietssystems durchdacht werden: Der Verzicht auf die Vergrößerung der Kernzone würde Handlungsspielräume ergeben für die Optimierung der gesamten Flächenkulisse der Schutzgebiete des Bundeslandes Baden-Württemberg. Damit entstünde Gestaltungsspielraum, um die existierende Kulisse an Bannwäldern zu einem echten Schutzgebietssystem zu entwickeln.
Betrachtet man die Größenordnung der aktuell existierenden Naturwaldreservate (in Baden-Württemberg als „Bannwald“ bezeichnet) dieses Bundeslandes, so liegt deren durchschnittliche Größe bei 70 ha. Der größte Bannwald, das im Februar 2012 ausgewiesene Pfrunger-Burgweiler Ried, ist etwa 450 ha groß, enthält jedoch Anteile von etwa 65ha an offenen Moorflächen. Das bedeutet, dass rein rechnerisch anstelle einer Nationalpark-Entwicklungszone im Nordschwarzwald auf weitgehend „mittleren“ Standorten mindestens fünf weitere weit überdurchschnittlich große oder 35 durchschnittlich große Bannwälder landesweit ausgewiesen werden könnten (Abb. 1).
Empfehlungen für den Naturschutz
Wir müssen ganz sicher abrücken von zu statischen Vorstellungen, wie der Wald auszusehen hat und welche Arten darin vorkommen dürfen und sollen. Sowohl Bannwälder als auch Kernzonen dienen dem Prozessschutz und damit der freien Evolution, der ungelenkten Entwicklung der Natur. Auf der anderen Seite verändert sich gerade heute unsere Waldnatur durch Standorts-, Bewirtschaftungsveränderungen sowie Neobiota in einer Geschwindigkeit, die es früher nie gab, und in eine Richtung, die auch naturschutzfachlich zweifelhaft sein kann (vgl. Reif & Walentowksi 2009). Heute brauchen wir nicht schnelle Veränderungen (… die unsere „heutige Zeit“ den Lebensräumen auf-oktroyiert), sondern vor allem Habitatkontinuität.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Ausweisung eines Nationalparks im Nordschwarzwald mit großflächiger natürlicher Waldentwicklung nur die zweitbeste Option für den Naturschutz zu sein. Wesentlich sinnvoller ist es, die entsprechende Waldfläche mit natürlicher Entwicklung für die Planung eines landesweiten Schutzgebietssystems mit Naturwaldreservaten (in Baden-Württemberg: Bannwälder) zu verwenden. Dies gilt insbesondere für die Ausweisung großer Bannwälder, die unter Anwendung der Bewertungskriterien Seltenheit und Gefährdung, der Konnektivität, Repräsentanz bzw. der Komplementarität der unterschiedlichen Standorte und Waldgesellschaften ausgewählt werden könnten.
Folgende Maßnahmen sind im Schwarzwald zur Vernetzung der Lebensräume und zur Weiterführung der Habitattradition sinnvoll:
(1) Ausweisung von Flächen mit natürlicher Entwicklung im Umfeld von Sonderstandorten, insbesondere von Nassstandorten (Mooren und Missen), mit adäquaten Pufferbeständen im Kontakt hierzu.
(2) Erhöhung der Konnektivität ähnlicher Lebensräume unter verstärktem Einsatz des Flächentausches von staatlichen Flächen mit kommunalen und privaten Waldeigentümern.
(3) Wiederherstellung des ursprünglichen Wasserhaushalts durch Auflassen von Grabensystemen auch entlang von Forststraßen in einer Pufferzone zu Totalreservaten nasser Standorte.
(4) Jagd oder andere Formen der Regulierung zur Absenkung der Schalenwilddichte sind erlaubt, ja erwünscht, ebenso die Möglichkeit der Bekämpfung von Neobiota.
(5) Ausweisung von Schonwäldern (d.h. bewirtschaftete Wälder mit prioritärer Naturschutzzielsetzung in Baden-Württemberg) mit dem Ziel der Förderung von Wald-Kiefer in langen Erntezeiten im Umfeld nährstoffarmer „Missen“ und der Tanne auf terrestrischen Böden.
(6) Bewirtschaftung dieser Schonwälder mit pfleglichen Verfahren, insbesondere bzgl.Holzernte und Bau von Forstwegen und Rückegassen.
(7) Nadelholzorientierte Waldwirtschaft in Form von Plenter- und Femelwald, eventuell in Form von Schonwald, auf großen Flächen der „Normalstandorte“ – ein Versuch, die Nadelholztradition als Naturschutz- und Wirtschaftsziel weiterzuführen., wobei die Tannenanteile dort erhöht werden, die Buchenanteile gering bleiben sollten.
(8) Möglichst hohes Erntealter der Nadelbäume, Ausweisung eines Netzes von nutzungsfreien „Waldrefugien“, Habitatbäumen und -baumgruppen (ForstBW 2010).
(9) Strikte Ruhezonen für gefährdete Vogelarten.
(10) Striktes Verbot von Waldkalkung in Auerhuhn-Lebensräumen für alle Waldbesitzer.
(11) Erhalt der traditionellen Hochweiden der „Grinden“ als Offenflächen durch Beweidung; Ausweisung von Schonwald mit Waldweide im Kontaktbereich zu Grinden.
Ein Schwachpunkt dieses fachlich begründeten Vorschlages sei jedoch zugegeben: (Kern-)Zonen eines Nationalparks sind besser und dauerhafter gesetzlich geschützt als die durch Rechtsverordnung geschützte Bann- und Schonwälder. Hinzu kommt, dass das Personal für Waldschutzgebiete weniger unabhängig vom zuständigen Ministerium ist sowie leichter und kurzfristig abgebaut werden kann.
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Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Dr. h.c. Albert Reif, Univ. Freiburg, Fakultät für Forst- und Umweltwissenschaften, Waldbau-Institut, Standorts- und Vegetationskunde, Tennenbacher Straße 4, D-79085 Freiburg, E-Mail albert.reif@waldbau.uni-freiburg.de.
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