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Kommentierung der Rechtsprechung des BVerwG zu Beeinträchtigungen von FFH-Gebieten durch vorhabensbedingte Stickstoffdeposition

Critical Loads als geeigneter Maßstab für die FFH-Verträglichkeitsprüfung

Abstracts

Stickstoffeinträge gelten aktuell als eine der größten Bedrohungen für die Biodiversität und konkret auch den günstigen Erhaltungszustand von FFH-Lebensräumen. Vor dem Hintergrund des jüngsten Gerichtsurteils des BVerwG zur Frage der Stickstoffeinträge in FFH-Gebiete vom 14. April 2010 und des kritischen Kommentars von Klaus-Ulrich Battefeld vom Mai diskutiert der Beitrag Stärken und Schwächen des Critical-Load-Konzepts bei der Ermittlung und Bewertung von Beeinträchtigungen empfindlicher Lebensräume durch Stickstoffeinträge. Das primäre Ziel des Konzepts ist, langfristig geltende Belastungsgrenzen aufzuzeigen und ökologische Risiken durch Stoffeinträge zu vermeiden. Es deckt sich somit sehr gut mit den vom Gericht gestellten Anforderungen an eine FFH-Verträglichkeitsprüfung, bei der langfristige Risiken für den günstigen Erhaltungszustand der geschützten Lebensräume ausgeschlossen werden müssen. Gleichzeitig werden im Rahmen der internationalen Arbeiten zum Critical-Load-Konzept die Erkenntnisse gesammelt und operationalisiert und Forschungsbedarf ermittelt. Damit inkorporiert es zwar bei weitem keine perfekten, aber doch die besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich für die Ermittlung und Bewertung denkbarer Schäden auswerten lassen. Der Beitrag geht auch auf verschiedene Gerichtsurteile und deren Begründungen ein und weist auf ein Forschungsprojekt hin, das die Autoren derzeit im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen bearbeiten.

“Critical Loads“ as Suitable Measure for Appropriate Assessments under the Habitats Directive

Nitrogen deposition is considered to be one of the greatest threats to global biodiversity. Since deposition values are very high in Germany the conservation status of many sensible habitats within areas protected by the Habitats Directive is at risk. In April the Bundesverwaltungsgericht (Federal Administrative Court) decided once more that critical loads of nitrogen have to be considered when ruling out significant effects of project contributions to nitrogen deposition. This decision had been criticised by K.-U. Battefeld in this journal, proclaiming that there are no justified reasons for prescribing the concept of critical loads to be used within Appropriate Assessments. The authors discuss the pros and cons of the critical loads concept in the context of Appropriate Assessments under the Habitats Directive. They explain, why they think that in fact the concept of critical loads and the scientific work establishing them are what is needed to assess significant effects of nitrogen deposition. Critical loads represent the best scientific knowledge and at the same time the best estimate available as a measure for long term risks and conceivable significant effects. The study considers various legal decisions and their grounds, and points to a research project currently conducted on behalf of the BASt (Federal Highway Research Institute).

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1 Einführung

In Naturschutz und Landschaftsoplanung 42 (5), Mai 2010, Seite 157, wurde über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 14.04.2010 zur Autobahnplanung A44 im Abschnitt VKE32 (Az. 9 A 5.08) berichtet. Gleichzeitig wurde das Urteil von Battefeld (2010) in Bezug auf das Themenfeld Stickstoffeintrag kritisch dahingehend kommentiert, dass das BVerwG die so genannten Critical Loads „ohne triftigen fachlichen Grund“ als Belastungsgrenzen eingestuft habe. Aus diesem Anlass möchten die Autoren ein fachliches Statement dazu abgeben, warum Critical Loads für Stickstoffeintrag einen geeigneten Erheblichkeitsmaßstab für FFH-Verträglichkeitsprüfungen darstellen.

Fachlich unbestritten ist zunächst die Tatsache, dass sich Stickstoffverbindungen – Stickoxide (NO und NO2) und Ammoniak (NH3) mit ihren Folgeprodukten – negativ auf die Biodiversität auswirken. Die negativen Wirkungen für die Biodiversität und Stabilität von Ökosystemen resultieren aus eutrophierenden und versauernden Effekten. Mittlerweile gehören mehr als 70 % der Rote-Liste-Arten zu den Stickstoffmangel-Zeigern (LAI 2009, 18). Diese Wirkungen machen auch vor dem Schutzgebietssystem Natura 2000 nicht halt und besitzen das Potenzial, den Erhaltungszustand von FFH-Lebensraumtypen nachhaltig und großflächig zu beeinträchtigen. Da stickstoffhaltige Emissionen und daraus resultierende Immissionsbeiträge auch von einzelnen Vorhaben wie etwa Straßen, stationären Verbrennungsanlagen oder landwirtschaftlichen Anlagen ausgehen, ist der Wirkpfad Stickstoffeintrag somit ohne Zweifel auch im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung zu berücksichtigen.

Eine fachlich fundierte Beurteilung, ob die von einzelnen Vorhaben ausgehenden Stickstoffbelastungen bestimmte FFH-Lebensräume schädigen können, lässt sich am besten auf der Basis konkreter Wirkungsschwellenwerte durchführen. Auf der Suche nach derartigen, möglichst quantifizierten und fachlich begründeten Schwellenwerten zur Beschreibung der Belastbarkeitsgrenzen von Ökosystemen gegenüber Stickstoffeintrag stößt man automatisch auf die so genannten Critical Levels und Critical Loads. Diese basieren auf langjährigen Arbeiten des europäischen Forschungsverbundes „ICP Modelling and Mapping“ (ICP MM 2010). Dieser Forschungsverbund dient der Schaffung einer wissenschaftlichen Informationsbasis für die Umsetzung des 1979 verabschiedeten Genfer Übereinkommens über weitreichende grenzüberschreitende Luftverschmutzungen bzw. in seiner Folge des 1999 unterzeichneten Göteborg-Protokolls zur Bekämpfung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon. Im Rahmen dieses Forschungsverbundes werden Critical Loads und Critical Levels definiert, regelmäßig überprüft und durch Aktualisierung eines im Internet verfügbaren Handbuches (ICP-Manual) veröffentlicht. Critical Levels, d.h. kritische Immissionskonzentrationen, und Critical Loads, d.h. kritische Eintragsraten, definieren in quantitativer Form naturwissenschaftlich begründete Belastungsgrenzen in Bezug auf stoffliche Wirkungen auf verschiedene empfindliche Rezeptoren der Umwelt, d.h. Ökosysteme, Organismen oder Materialien wie z.B. empfindliche Natursteine:

Critical Levels, üblicherweise angegeben als Mikrogramm pro Kubikmeter [µg/m3], beschreiben Luftschadstoffkonzentrationen, bei deren Unterschreitung nach derzeitigem Wissen keine direkten Schäden an Rezeptoren zu erwarten sind.

Critical Loads, üblicherweise angegeben als Kilogramm pro Hektar und Jahr [kg/ha*a], beschreiben dem gegenüber Wirkungen über den Bodenpfad. Sie werden definiert als derjenige Eintrag von Luftschadstoffen, bis zu dessen Erreichung nach derzeitigem Kenntnisstand langfristig keine signifikanten schädlichen Effekte an Ökosystemen und Teilen davon zu erwarten sind (ICP MM 2010, Nagel & Gregor 1999).

Da vor allem die eutrophierende und versauernde Wirkung stickstoffhaltiger Luftschadstoffe ein besonderes Risiko für die Biodiversität und die Stabilität von Ökosystemen darstellt und diese Wirkungen vor allem über langfristige Anreicherungsprozesse im Boden entstehen, ist für eine Beurteilung der Empfindlichkeit von Ökosystemen vor allem der Maßstab der Critical Loads von Relevanz, der auch langfristige Prozesse im Boden erfasst.

2 Critical Loads als Maßstab der Empfindlichkeit in FFH-Verträglichkeitsprüfungen

Spannend ist nun die Frage, ob der im wissenschaftlichen Raum auf der Basis umfassender Forschungen entwickelte Maßstab der Critical Loads auch im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung berücksichtigt werden kann bzw. berücksichtigt werden muss. Die Autoren sind der Auffassung, dass diese Frage sowohl aus fachlicher als auch aus rechtlicher Sicht zu bejahen ist.

Der rechtliche Rahmen zur Frage der Geeignetheit von Critical Lods für die FFH-Verträglichkeitsprüfung wird durch die im Herzmuschel-Urteil des EuGH (Urteil vom 07.09.2004, C127/02, NuR 2004, 788) formulierten Anforderungen an die Prognose und Bewertung möglicher Beeinträchtigungen im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung gesetzt. Nach diesem Urteil dürfen Behörden erhebliche Beeinträchtigungen im Sinne des Art.6 Abs.3 FFH-Richtlinie nur dann verneinen, wenn sie „unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse … Gewissheit darüber erlangt haben“, dass sich ein Plan oder Projekt „nicht nachteilig“ auf ein Natura-2000-Gebiet „auswirkt“. Dies sei nur dann der Fall, wenn „aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass es keine solchen Auswirkungen“ gibt. Diese strengen Prüfanforderungen, die sich aus dem gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzip und dem hohen Schutzanspruch der Natura-2000-Gebietskulisse heraus rechtfertigen lassen, hat sich auch das BVerwG zu eigen gemacht (Urteil des BVerwG vom 17.01.2007, Az. 9 A 20.05; Urteil des BVerwG vom 12.03.2008, Az. 9 A 3.06) Dabei weist das BVerwG aber richtigerweise darauf hin, dass rein „theoretische Besorgnisse“ nicht zu berücksichtigen und ein „Nullrisiko“ nicht nachzuweisen seien, um erhebliche Beeinträchtigungen auszuschließen (Urteil vom 17.01.2007, Rn. 60). Dies ist in der Sache angemessen, denn angesichts der im Zuge ökologischer Beurteilungen regelmäßig auftretenden Kenntnislücken und Prognoseunsicherheiten kann ein der FFH-Verträglichkeitsprüfung angemessener wissenschaftlicher Nachweis der Unerheblichkeit von Beeinträchtigungen häufig nur anhand akzeptabler Prognosewahrscheinlichkeiten und begründeter Abschätzungen geführt werden (a.a.O., Rn.64).

Auch vor dem Hintergrund des Maßstabs des besten verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnisstandes zur Beschreibung der Empfindlichkeit von Lebensräumen gegenüber eutrophierenden und versauernden Stickstoffeinträgen drängen sich die Arbeiten zu den Critical Loads auf. Diese basieren auf langjährigen Forschungen auf europäischer Ebene im Rahmen des ICP Modelling and Mapping, deren Ergebnisse regelmäßig veröffentlicht, überprüft und fortgeschrieben werden. Die definierten Critical Loads basieren insofern auf einem aktuellen und breiten wissenschaftlichen Konsens. Alternative quantifizierte Bewertungssysteme zur Abschätzung von Eutrophierungswirkungen existieren nicht. Gleichzeitig ist festzustellen, dass das Critical-Load-Konzept ein hohes Maß an Kongruenz zu den Maßstäben der FFH-Richtlinie aufweist. In beiden Fällen wird ein langfristiger und am Vorsorgegrundsatz orientierter ökosystemarer Stabilitätsansatz verfolgt. Durch die FFH-Richtlinie geschützt wird nicht nur der Status quo, sondern ein dauerhaft stabiler günstiger Erhaltungszustand von bestimmten Lebensraumtypen, der auch ein durch die Critical Loads beschriebenes stoffhaushaltliches Gleichgewicht umfasst. Sowohl die für die FFH-Verträglichkeitsprüfung entscheidende Frage, ob erhebliche Beeinträchtigungen von FFH-Gebieten anzunehmen sind, als auch die Critical Loads orientieren sich unmittelbar an der naturwissenschaftlich zu definierenden Wirkungsschwelle. Andere als ökologische Belange werden nicht berücksichtigt. Die Einhaltung von Critical Loads gewährleistet, dass keinerlei Schäden durch die entsprechende stofflichen Einwirkungen auftreten. Ihre Überschreitung bedeutet, dass ein fachlich im Einzelfall zu präzisierendes Risiko für mögliche Schäden besteht.

3 Kritikpunkte

Stimmen, die gegen eine Gleichsetzung von Erheblichkeitsschwelle und Critical Load und für eine nur eingeschränkte Anwendbarkeit des Critical Loads-Konzeptes in FFH-Verträglichkeitsstudien plädieren, führen insbesondere folgende Argumente an (vgl. auch KIfL 2008):

Die vom Umweltbundesamt für Deutschland veröffentlichten Critical Loads seien lediglich für eine kleinmaßstäbliche Beschreibung des grundsätzlichen Gefährdungsrisikos für Ökosystemtypen ent­wickelt worden. Nur für diese Ebene besäßen sie eine generell hinreichende Genauigkeit.

Critical Loads seien für eine Anwendung in Zulassungsverfahren zu langfristig ausgerichtet. Exakte Schadensprognosen, insbesondere im Hinblick auf den Verlauf und die konkreten Merkmale der Schäden im Einzelnen seien auf der Grundlage von Critical-Load-Überschreitungen nicht möglich.

Empirische Critical Loads beruhten auf sehr heterogenen Daten aus unterschiedlichen Quellen mit unterschiedlichem regionalen Bezug und unterschiedlicher Methode. Sie basierten gleichzeitig häufig auf einer vergleichsweise kurzfristigen Datenbasis (in der Regel Labor- oder Feldversuche mit einer Laufzeit von drei bis fünf Jahren) (Nordin 2007). Die angegebenen Werte seien entsprechend ungenau (Wertespannen von 5-10 kg N/ha/a).

Critical Loads bezögen sich tendenziell auf unbelastete Optimalzustände von Ökosystemen, die in Mitteleuropa schon seit Jahrzehnten kaum mehr anzutreffen seien. Sie fokussierten möglicherweise auf Lebensraum-Zustände und insoweit möglicherweise Erhaltungszustände, die erstens im Rahmen der FFH-Grunddatenerfassung (Ersterfassung im Rahmen der Meldung) nicht berücksichtigt werden konnten und die möglicherweise auch künftig keine (realistischer Weise erreichbaren) Erhaltungsziele darstellen können.

Critical Loads seien für Waldlebensräume derzeit nahezu flächendeckend überschritten (95 % der in Deutschland mit Stand 2004 kartierten Flächen) und stellten daher für den üblichen Prognosehorizont einer Vorhabensplanung (zehn bis 15 Jahre) keinen realistischen Zielzustand dar.

Diesen Fragen muss selbstverständlich wissenschaftlich weiter nachgegangen werden. Auf der Basis des derzeitigen Kenntnisstandes sind die Autoren aber der Auffassung, dass die genannten Kritikpunkte im Ergebnis nicht in Frage stellen, dass Critical Loads bei der Beurteilung von Beeinträchtigungen durch Stickstoffeinträge in der FFH-Verträglichkeitsprüfung einen grundsätzlich zu berücksichtigenden Maßstab darstellen. Zum einen hat das damit zu tun, dass Critical Loads unabhängig vom räumlichen Betrachtungsmaßstab Gültigkeit besitzen, zum anderen gehen die im Critical-Load-Ansatz ohne Zweifel enthaltenen Unsicherheiten nach der Logik des Vorsorgeprinzips der FFH-Richtlinie zu Lasten des Vorhabensträgers. Die planerische Praxis geht regelmäßig mit Entscheidungen unter Unsicherheit um und bedient sich für derartige Fälle üblicherweise des Prinzips der Worst-Case-Abschätzung. Die entscheidende Frage für die Praxis der FFH-Verträglichkeitsprüfung lautet daher nicht, ob Critical Loads berücksichtigt werden, sondern mit welcher Methode und mit welchem Aufwand im konkreten Einzelfall Critical Loads ermittelt und in die Beurteilung eingestellt werden.

4 Critical Loads in Praxis und Rechtsprechung

Eine vergleichsweise einfache Form der Beurteilung von Stickstoffeinträgen anhand von Critical Loads bedient sich der bisher veröffentlichten empirischen Critical Loads für eutrophierenden Stickstoffeintrag (so genannte Berner Liste, ICP MM 2007). Die Anwendung dieser Liste entspricht einer überschlägigen quantitativen Worst Case-Abschätzung. Darüber hinaus bleibt dem Vorhabensträger aber selbstverständlich die Möglichkeit, im Rahmen einer vertieften Einzelfallbetrachtung anhand von Untersuchungsbefunden zum konkret betroffenen Standort präzisere Aussagen zur Empfindlichkeit gegenüber zusätzlichem Stickstoffeintrag zu treffen, als sie bei alleiniger Anwendung so genannter empirischer Critical Loads möglich wären. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nicht für alle FFH-Lebensraumtypen empirische Critical Loads zugeordnet werden können. Auf Fallgestaltungen, bei denen eine pauschale Anwendung empirischer Critical Loads möglicherweise zu unangemessenen Ergebnissen führt, haben auch das BVerwG (Beschluss vom 10.11.2009) und der HessVGH (VGH Kassel 2009) bereits hingewiesen. Gleichzeitig vertritt das BVerwG aber auch die Auffassung, dass die besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Beurteilung von Beeinträchtigungen durch Stickstoffeinträge jedenfalls im Grundsatz nur dann berücksichtigt sind, wenn die im wissenschaftlichen Raum veröffentlichten Critical Loads in eine FFH-Verträglichkeitsprüfung einbezogen werden (BVerwG 2008 Rn 108 ff., BVerwG 2009 Rn. 6). Ausnahmen von diesem Grundsatz sind aber natürlich auch in begründeten Einzelfällen denkbar (BVerwG 2009, Rn.7)

Im Urteil des BVerwG zur Westumfahrung Halle wurde zunächst festgestellt, dass „eine bloße Grobabschätzung” ohne quantitative Prognose grundsätzlich nicht ausreicht, um den Einfluss von vorhabensbedingten Stickstoffeinträgen für eutrophierungsempfindliche FFH-Lebensraumtypen zu beurteilen. Gleichzeitig wurde allerdings darauf hingewiesen, dass Bemühungen, unter Heranziehung der Critical Loads zu einer Einschätzung der Risiken des Schadstoffeintrags zu gelangen, „derzeit noch einen experimentellen Charakter haben dürften“ (BVerwG 2007, Rn.109). Es wurde eine Situation der Methodenvielfalt und wissenschaftlicher Unsicherheit beschrieben, in der es notwendig ist, dass die von einer Zulassungsbehörde gewählte Methode nachvollziehbar begründet wird. Im Hessisch Lichtenau-II-Urteil geht das BVerwG aber bereits davon aus, dass das Konzept der (empirischen) Critical Loads als Maßstab für die Beurteilung von Stickstoffeinträgen in FFH-Gebiete eine angemessene Aussagekraft besitze, um in der FFH-Verträglichkeitsprüfung zugrunde gelegt zu werden (BVerwG 2008). Eine Bestätigung dieser Einschätzung gibt das BVerwG in seinem Himmelsthür-Beschluss (BVerwG 2009), wenn es Critical-Load-Schwellenwerte als „naturwissenschaftlich begründete Belastungsgrenze“ einstuft, welche „die Grenze der nach naturschutzfachlicher Einschätzung für das Erhaltungsziel unbedenklichen Auswirkungen bestimmter Art markiert“, d.h. eine Erheblichkeitsschwelle für Stickstoffeintrag definiert. Eine Anerkennung des Maßstabs der Critical Loads findet sich im Übrigen auch im Urteil des OVG Lüneburg vom 28.08.2008 sowie im Urteil des OVG Münster vom 03.09.2009.

Der VGH Kassel setzt sich in seinem Urteil zum Flughafenausbau Frankfurt Main (VGH Kassel 2009, Rn. 192ff.) kritischer mit dem Maßstab der Critical Loads auseinander. Dort wird dargelegt, dass konkrete Wirkungsprognosen alleine aus einer Überschreitung von Critical Loads nicht ableitbar seien, weil die empirischen Critical Loads auf einer vergleichsweise dünnen Datenbasis basierten, dem Bereich wissenschaftlicher Auseinandersetzung zuzuordnen seien und die vom Vorhaben konkret betroffenen Standorte aus klimatischen Gründen nicht ohne weiteres anhand der empirischen Critical Loads der Berner Liste beurteilt werden könnten. Der VGH Kassel kommt zu dem Ergebnis, dass eine Anwendung des Ansatzes der empirischen Critical Loads im Sinne einer Worst-Case-Betrachtung zwar nicht ausgeschlossen, im vorliegenden Fall des Flughafenausbaus Frankfurt/Main aber nicht notwendig gewesen sei, da die bestehenden Kenntnislücken mit Analogieschlüssen und Schätzungen auf der Basis eines vertieften Wissens über den Stickstoffhaushalt der konkret betroffenen Standorte überbrückt werden konnten. Allerdings wurde die Stickstoffempfindlichkeit der im Wirkraum des Flughafens liegenden FFH-Gebiete von der Planfeststellungsbehörde im konkreten Fall auch anhand einer fachlichen Begutachtung mit Hilfe des so genannten BERN-Modells (Bioindikative Ermittlung von Regenerationspotenzialen Natürlicher Ökosysteme) der Firma Ökodata überprüft. Da das BERN-Modell mit seinen Arten- und Vegetationstypenlisten und darauf bezogenen Critical Limits für ausgewählte bodenchemische Parameter speziell für die modellhafte Bestimmung von Stickstoffempfindlichkeiten im Sinne der Critical Loads entwickelt wurde, wurde durch die Planfeststellungsbehörde beim Flughafenausbau Frankfurt/Main somit indirekt auch der Ansatz der Critical Loads berücksichtigt. Der Grundsatz, bei der Beurteilung von Stickstoffeinträgen in FFH-Verträglichkeitsprüfungen das Konzept der Critical Loads zu berücksichtigen, wird somit auch durch den VGH Kassel nicht in Frage gestellt.

In Übereinstimmung damit geht auch das BVerwG explizit davon aus, dass es Fallgestaltungen geben kann, in denen von einer schematischen Gleichsetzung des Maßstabs der Critical Loads mit der Erheblichkeitsschwelle begründet abgesehen werden kann. Eine solche Fallgestaltung wird vom BVerwG gesehen, wenn „Hintergrundbelastungen oberhalb der Critical Loads zum Verschwinden hochempfindlicher lebensraumtypischer Arten geführt haben, der Lebensraum sich aufgrund des verbliebenen, die Vorbelastung dauerhaft verkraftenden Artenspektrums aber immer noch in einem günstigen Erhaltungszustand befindet. Kann sich daran auch durch eine projektbedingte Zusatzbelastung nichts ändern, weil das verbliebene Artenspektrum auch die Gesamtbelastung schadlos zu tolerieren vermag, so ist die Zusatzbelastung mit dem Erhaltungsziel ausnahmsweise verträglich.“ (BVerwG 2009, Rn.7). Die konkrete Definition derartiger Fallgestaltungen überlässt das BVerwG der naturschutzfachlichen Beurteilung.

Das jüngst ergangene Urteil zur A44, VKE32, ergänzt die bisherige Rechtsprechung zur Bewertung von Stickstoffeinträgen in FFH-Gebiete dahingehend, dass trotz Überschreitung von Critical Loads in der Gesamtbelastung vergleichsweise geringe Zusatzbelastungen nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen führen müssen, da in solchen Fällen das Vorhaben keinen signifikanten Ursachenbeitrag zur Gesamtstickstoffdeposition in einem FFH-Gebiet leistet (siehe dazu Balla et al. 2010, Battefeld 2010, Uhl et al. 2009). Damit wurde erstmalig eine in der Sache gerechtfertigte und für die praktische Handhabung enorm wichtige Irrelevanzschwelle auch für Stickstoffbelastungen anerkannt.

5 Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl aus fachlicher als auch aus rechtlicher Sicht eine regelmäßige Anwendung des Konzepts der Critical Loads in FFH-Verträglichkeitsprüfungen geboten ist, um Beeinträchtigungen durch eutrophierende und versauernde Stickstoffeinträge nach bestem wissenschaftlichen Kenntnisstand zu beurteilen. Der Natura-2000-Gebietsschutz fordert nach Auffassung der Autoren entsprechend strenge Prüfmaßstäbe.

Die Autoren erarbeiten derzeit im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen für den Bereich des Straßenbaus einen Leitfaden zur Behandlung von Stickstoffeinträgen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung („Untersuchung und Bewertung von straßenverkehrsbedingten Nährstoffeinträgen in empfindliche Biotope“, Kennziffer 84.0102/2009, Bearbeiter: Bosch & Partner GmbH in Zusammenarbeit mit FÖA Landschaftsplanung GmbH, ÖKO-DATA GmbH und Ingenieurbüro Lohmeyer). Im Rahmen dieses Projekts, das bis 2011 läuft, sind Fachkonventionsvorschläge zu erwarten, die insgesamt zu einer Vereinheitlichung und Vereinfachung der Bearbeitung des Themas in der Praxis beitragen werden.

Literatur

Balla, S., Müller-Pfannenstiel, K., Lüttmann, J., Uhl, R. (2010): Eutrophierende Stickstoffeinträge als aktuelles Problem der FFH-Verträglichkeitsprüfung. Natur und Recht 32 (9), 616-625.

Battefeld, K.-U. (2010): Zur Klage gegen die A44: 3- %-Bagatellschwelle für NOx-Deposion. Naturschutz und Landschaftsplanung 42 (5), 157-159.

Bundesverwaltungsgericht (2007): Urteil des BVerwG vom 17.01.2007 (A143 Umfahrung Halle-West) Az. 9 A 20.05. Download unter http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/4944.pdf . Natur und Recht 2007, 336-358.

– (2008): Urteil des BVerwG vom 12.03.2008 (A44 Hessisch-Lichtenau), Az. 9 A 3.06. Download unter http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/6541.pdf. Natur und Recht 2008, 633-659 .

– (2009): Beschluss vom 10.11.2009, Az. 9 B 28.09 (B1 Hildesheim-Himmelsthür). Download unter http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/8138.pdf. DVBl 2010, 176-178 .

– (2010): Urteil vom 14.04.2010, Az. 9 A 5.08 (A44 VKE 32). Download unter http://www.bverwg.de/pdf/655.pdf .

Europäischer Gerichtshof (2004): Urteil vom 07.09.2004, C127/02. Natur und Recht 2004, 788-79. Online unter http://eur-lex.europa.eu/Notice.do?mode=dbl〈=en&lng1=en,de&val=388664:cs .

ICP MM (2007): International Cooperative Programme on Modelling and Mapping of Critical Loads & Levels and Air Pollution Effects, Risks and Trends. Mapping Manual. Chapter 5.2: Empirical Critical Loads. Stand 12.11.2007. Download unter http://icpmapping.org/cms/zeigeBereich/11/gibDatei/132/mapman-5-2.pdf . (Anmerkung: Eine neuerliche Überarbeitung der Berner Liste war für 2010 angekündigt.)

– (2010): International Cooperative Programme on Modelling and Mapping of Critical Loads & Levels and Air Pollution Effects, Risks and Trends. Mapping Manual. Download unter http://icpmapping.org/ .

KIfL (Kieler Institut für Landschaftsökologie, 2008): Bewertung von Stickstoffeinträgen im Kontext der FFH-Verträglichkeitsstudie. Kiel.

LAI (2009): Arbeitskreis „Ermittlung und Bewertung von Stickstoffeinträgen“ – Abschlussbericht (Langfassung), Stand 18.08.2009.

Nagel, H.-D., Gregor, H.-D. (1999): Ökologische Belastungsgrenzen – Critical Loads & Levels. Ein internationales Konzept für die Luftreinhaltepolitik. Springer, Berlin u.a.

Nordin, A.(2007): Nitrogen critical loads for terrestrial ecosystems in low deposition areas. An expert workshop of the Convention on Long-range Transboundary Air Pollution (LRTAP). 29 – 30 March 2007 in Stockholm, Sweden. Background document, Download unter http://www.scarp.se/download/18.360a0d56117c51a2d30800016889/Background+document+Stockholm+N+workshop.pdf .

OVG Lüneburg (2008): Urteil vom 28.08.2008, Az. 7 K 1269/00 (B1 Ortsumgehung Himmelsthür). Download unter http://www.dbovg.niedersachsen.de/Entscheidung.asp?Ind=0500020000012697 %20K[02] .

OVG Münster (2009): Urteil vom 03.09.2009, Az. 10 D 121/07.NE (Bebauungsplan E.ON-Kraftwerk Stadt Datteln). Natur und Recht 2009, 801, 814, online unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/ovg_nrw/j2009/10_D_121_07_NEurteil20090903.html .

Uhl, R., Lüttmann, J., Balla, S., Müller-Pfannenstiel, K. (2009): Assessing impacts of nitrogen emissions on Natura 2000 in Germany. Vortrag im Rahmen des „COST 729 Mid-term Workshop 2009 Nitrogen Deposition and Natura 2000 – Science & practice in determining environmental impacts“ am 18.-20.05.2009 in Brüssel. Tagungsband in prep., Download der deutschen Vorabfassung unter http://www.foea.de/pdf/Beurteilung%20von %20Stickstoffwirkungen-COST729-Uhl-et-al.pdf .

VGH Kassel (2009): Urteil vom 21.08.2009, Az. 11 C 318/08.T (Ausbau Flughafen Frankfurt), Kap. 1.4.2.3.2: Critical Loads; LKRZ 2009, 434. Abrufbar unter Angabe des Az. in der Landesrechtsprechungsdatenbank auf http://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/ .

Anschriften der Verfasser(innen): Dr. Stefan Balla & Klaus Müller-Pfannenstiel, Bosch & Partner GmbH, Kirchhofstraße 2c, D-44623 Herne, E-Mail s.balla@boschpartner.de bzw. k.mueller-pfannenstiel@boschpartner.de ; Dr. Jochen Lüttmann & Rudolf Uhl, FÖA Landschaftsplanung GmbH, Auf der Redoute 12, D-54296 Trier, E-Mail jochen.luettmann@foea.de bzw. rudi.uhl@foea.de ; PD Dr.- Ing. habil. Angela Schlutow, ÖKO-DATA Strausberg, Hegermühlenstraße 58, D-15344 Strausberg, E-Mail Angela.Schlutow@Oekodata.com .

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