Vilmer Thesen zu Tourismus und Naturschutz
Abstracts
Das Verhältnis zwischen Tourismus, Naturschutz und aktuellen Fragen der Nachhaltigkeit ist komplex. In historischer Perspektive wird deutlich, dass die Erfahrung von Ursprünglichkeit der Natur und das Landschaftserleben seit Beginn des touristischen Reisens zentrale Elemente sind. Zugleich aber trug der Tourismus erheblich zu politischen, sozialen und Umweltproblemen bei. Für den Naturschutz ergibt sich eine ambivalente Situation: Einerseits haben natürliche Lebensräume touristisch einen hohen Stellenwert, was Möglichkeiten für ihren Schutz eröffnet. Andererseits bedeutet Tourismus mehr Verkehr, mehr Zersiedlung, mehr Flächen- und Ressourcenverbrauch und mehr Klimabelastung.
Es ist eine verteidigenswerte demokratische Errungenschaft, allen Menschen zu ermöglichen, durch Reisen sich und andere kennen zu lernen. Doch zugleich müssen selbstverständlich gewordene nicht nachhaltige Praktiken generell zur Debatte gestellt werden. Das Gesamtsystem des Tourismus‘ ist so grundlegend zu verändern, dass gerechte gesellschaftliche Strukturen, Kulturlandschaften und die Reste von Wildnis gewährleistet werden und dass dem Klimawandel nicht Vorschub geleistet wird. Solche Veränderungen müssen in ein neues „Ethos des Reisens“ eingebettet werden.
Vilm Theses on Tourism and Nature Conservation – Proposals for a Sustainable Ethos of Travelling
The paper addresses the complex relations between tourism, nature protection and sustainability. Experiencing wild nature as well as cultivated landscapes are central elements of tourism ever since its beginnings. On the other hand, tourism became significantly contributed to political and social problems and environmental degradation. For nature conservation tourism has generated an ambivalent situation: On the one hand natural habitats are high-ranking touristic destinations and hence provide options for successful protection measures. On the other hand tourism generates more traffic, more suburban sprawl, more consumption of land and resources and contributes to climate-change. It is a major achievement of democracy to allow travelling for all people in ordert to get to know oneself and others as well as nature. However allegedly normal but unsustainable travelling practices have to be questioned fundamentally. The whole system of tourism has to be changed in order to allow for just societal structures, for the maintenance of cultural landscapes and wild nature and for more climate-friendly practices. All this requires to be embedded in a new ethos of travelling.
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1 Einführung
Die Umweltbilanz des Tourismus‘ ist ambivalent: Einerseits haben natürliche Lebensräume touristisch einen hohen Stellenwert, was Möglichkeiten für ihren Schutz eröffnet. Geeignete Maßnahmen können bei der lokalen Bevölkerung und dem touristischen Publikum das Verständnis für schützenswerte Naturräume wecken und vertiefen (vgl. Engels & Job-Hoben 2009). Andererseits bedeutet Tourismus mehr Verkehr, mehr Zersiedlung, mehr Ressourcenverbrauch und mehr Umweltbelastung. Hoher Besucherdruck gefährdet wertvolle Landschaften und Naturareale.
Seit 1950 ist die internationale Tourismusbranche in Bezug auf die Touristenzahlen Jahr für Jahr um durchschnittlich 6,4 % auf einen Höchststand von mittlerweile 922 Millionen angewachsen. Dies ist umso bedeutsamer, als der Tourismus in vielen Ländern zu einem der stärksten Wirtschaftssektoren geworden ist, durch den gegenwärtig weltweit fast 650 Milliarden Euro umgesetzt werden, wobei die Tendenz stetig steigend ist. Die jährliche Zuwachsrate bei den Einnahmen ist von 1995 – 2007 mit durchschnittlich 4 % angegeben (UNWTO 2008: 1).
Mit der Wahrnehmung des Klimawandels sind die Treibhausgasemissionen durch die Flugreisen stärker als bisher in den Fokus gerückt, denn der durch den Tourismus bedingte Flugverkehr trägt erheblich zu den anthropogenen Ursachen des Klimawandels bei. Dem Reiseverhalten der Deutschen kommt dabei durchaus eine Schlüsselrolle zu, denn in der Rangfolge der reisefreudigsten Nationen belegt Deutschland seit vielen Jahren den ersten Rang vor den USA und Großbritannien (UNWTO 2009: 10). Als „Reiseweltmeister“ unternahmen die Deutschen 2008 insgesamt 64 Millionen Urlaubsreisen (FUR 2009: 2). Stetige 30 % davon blieben und bleiben innerhalb Deutschlands, wohingegen 70 % der Urlaubsreisen ins Ausland führen (FUR 2009: 3). Geänderte Zielpräferenzen zusammen mit verbesserter Erreichbarkeit, z.B. durch Billigflieger, führen im letzten Jahrzehnt zu vermehrter Nutzung des Flugzeugs zu Lasten des Pkw und vor allem der Bahn (FUR 2009: 5). Dementsprechend groß sind auch die Auswirkungen auf Fauna und Flora sowie Boden, Wasser und Luft geworden. Wie erheblich das Ausmaß der Belastungen ist, veranschaulichen die folgenden Zahlen: Die Urlaubsreisen der Deutschen führten im Jahr 2001 zu Treibhausgasemissionen in Höhe von fast 76 Millionen Tonnen. Auf die Inlandsreisen entfielen hiervon 8,6Mio.t (11,3 %), während durch die Auslandsreisen 67,2 Mio.t (88,7 %) Treibhausgase emittiert wurden (BMU 2005).
Es kann also vor diesem Hintergrund nicht die Frage sein, ob ein Reiseverhalten, wie es sich in Deutschland und in der gesamten „westlichen Welt“ entwickelt hat, allen Menschen in den Industriestaaten und den Schwellenländern zustehen könnte oder sollte. Stattdessen muss das grundsätzliche Ziel sein, den „ökologischen“ ebenso wie den „sozialen Fußabdruck“ des Reisens so klein wie möglich zu halten, denn eine Globalisierung des westlichen Reisestils ist nicht nachhaltig. Gleichwohl ist allen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, durch Reisen sich und andere kennen zu lernen. Es ist aber höchst zweifelhaft, ob eine bloße Imitation des westlichen Reisestils dem Ziel (inter-)kultureller Begegnung wirklich dienlich sein kann. Vielmehr müssen selbstverständlich gewordene Praktiken des touristischen Reisens generell zur Debatte gestellt werden. Der Sinn des Reisens kann nicht sein, sich an möglichst vielen Orten bloß aufgehalten zu haben.
Deutschland könnte eine Vorreiterrolle bei Alternativen eines verträglichen Tourismus‘ spielen, was nicht zuletzt eine stärkere Kooperation von Naturschutz und Tourismus erfordert. Hervorzuheben ist, dass die Reisebranche in Form von ausführlichen Umweltinformationen, dem Öko-Audit, der Etablierung eines „Umweltsiegels“, der Veranstaltung von Umweltwettbewerben, der Einrichtung von Umweltnetzwerken Wesentliches zur Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus betragen kann und soll.
Gerade weil die vorherrschenden Formen des Tourismus – vor allem des Ferntourismus – erhebliche globale soziale und Umweltprobleme mit sich bringen, steht die Menschheit heute vor folgender Aufgabe: Die Tourismus-Praktiken sind so zu verändern, dass ihre schädlichen Auswirkungen minimiert und zugleich die positiven Möglichkeiten für Naturschutz und nachhaltige Entwicklung genutzt werden. Es ist dabei nicht ausreichend, nur kleine Bereiche des Tourismus naturverträglicher zu gestalten. Vielmehr gilt es, das Gesamtsystem des Tourismus‘ so grundlegend zu verändern, dass gerechte gesellschaftliche Strukturen, gewachsene Kulturlandschaften und die Reste von Wildnis erhalten werden und dass durch die Art des praktizierten Tourismus dem Klimawandel nicht Vorschub geleistet wird. Diese Veränderungen sollen insgesamt ein neues „Ethos des Reisens“ befördern.
Mit den Vilmer Thesen zu Naturschutz und Tourismus soll die Diskussion darüber vorangebracht werden. Sie sind ein Ergebnis der 9. Vilmer Sommerakademie „Balkonien statt Amazonien? – Tourismus und Naturschutz“, die vom 12. bis 16. Juli 2009 an der Internationalen Naturschutzakademie auf der Insel Vilm stattfand. Die Sommerakademie ist ein jährliches Forum, das Personen aus Naturschutzbehörden und Naturschutzverbänden, Umweltpolitik, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie weitere Interessierte zusammenbringt, um grundlegende Themen des Naturschutzes inter- und transdisziplinär zu reflektieren. Dabei handelt es sich um eine Veranstaltung des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) – Internationale Naturschutzakademie (INA) in Kooperation mit der Professur für Umweltethik der Universität Greifswald und dem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen (IZEW). Die Thesen stellen kein Konsenspapier aller Teilnehmenden dar, sondern werden allein von den Autoren verantwortet. Für fruchtbare Diskussion danken wir allen Teilnehmenden, wertvolle Hinweise zu früheren Entwürfen der Thesen verdanken wir Mira Beinert (Bonn), Wolfgang Günther (Kiel), Hans-Gerd Marian (Berlin), Dr. Uta Stenzel (Rostock), Prof. Dr. Wolfgang Strasdas (Eberswalde), Dr. Peter Zimmer (München) sowie Silke Lachnit (Tübingen).
2 Formen und historischer Wandel des Tourismus
1. Das touristische Reisen wurde seit etwa 1800 zunehmend zu einem Bestandteil des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft, wobei der Landschaft als Projektionsfläche der Menschen für ihre Sehnsüchte eine Schlüsselrolle zukommt.
Im Kontext der Aufklärung hatte sich im 18. Jahrhundert das Interesse an Welterfahrungen, an fremden kulturellen Traditionen sowie am „Naturzustand“ des „wilden“ Menschen verstärkt. Die Bildungsreisen des gehobenen Bürgertums bedeuteten nicht nur die Aneignung neuen Wissens, sondern auch die Auseinandersetzung mit den eigenen persönlichen und nationalen Werten. Damals wurde der Grundstein für den heutigen Ferntourismus gelegt. Motive wie Erkenntniserweiterung, Stärkung des eigenen Körpers und geistige Erholung rückten in den Vordergrund. Nach dem Beispiel von Albrecht von Haller und Jean Jacques Rousseau wurde nach dem Leitsatz ‚retour à la nature’ gehandelt. Auch deshalb sind die Berichte von Weltreisenden wie James Cook und Johann Georg Forster zu Bestsellern geworden und hatten ein regelrechtes Reisefieber in bürgerlichen Kreisen geweckt. Die neue Faszination am Reisen spiegelte sich in einer zunehmenden Zahl von Reisebeschreibungen wider. Tourismus als Bezeichnung für Bildungs- und Vergnügungsreisen vor allem ins Ausland fand um 1810 erstmals Aufnahme in ein deutsches Wörterbuch. Den ersten deutschen Verlag für Reisehandbücher begründete K. Baedeker im Jahre 1827.
Ein aus der Romantik entwickeltes Naturbild verstärkte im 19. Jahrhundert die zivilisationskritische Tendenz, die schon in den frühen Reisemotivationen enthalten war – Reisen wurde zum Versuch einer Flucht vor und Befreiung von der zunehmend entfremdeten industriellen Welt und zu einer Suche nach auf der Suche nach Anschauung vermeintlich ursprünglicher und natürlicher Lebensformen. Symptomatisch waren unter anderem die Begeisterung für den Pazifik mit seinen exotischen Inseln (Tahiti), die Faszination für Indien und China im 18. Jahrhundert sowie der „Orientalismus“ im 19. Jahrhundert. Mit dem aus Kuraufenthalten entstandenen Küstentourismus kam als wesentliche Komponente für die weitere Entwicklung das Motiv der „Stärkung der Gesundheit“ hinzu.
So unterschiedlich auch die Motive für das touristische Reisen waren und sind (Erholung, Entspannung, Zerstreuung, Abenteuer, Selbstfindung, Geselligkeit, Bildung), so spielt die Erfahrbarkeit von Landschaft eine Schlüsselrolle. Wesentlich für das Phänomen Tourismus ist die Tatsache, dass die Erfahrung von (Natur-)Landschaft ein Mittel zur „Kompensation“ der Belastungen und Zwänge der Alltagspraxis wird (vgl. Bausinger et al. 1991, Rojek & Urry 1997, Wagner 1983).
2. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Anziehungskraft des Tourismus‘ durch veränderte soziale und ökonomische Rahmenbedingungen. Reisen wurden zu einer sozialen Errungenschaft.
Zu den wesentlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung des Tourismus‘ gehörten die Trennung von Arbeit und Freizeit in zwei separate Bereiche sowie die Revolutionierung der Mobilität als Folge des technologischen Fortschritts.
War das Reisen im 18. und 19. Jahrhundert beschränkt auf Teile des Adels und privilegierte Bildungsbürger, so erreichte der Tourismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt durch die Eisenbahn auch zunehmend andere Schichten der Bevölkerung. 1874 wurden in Deutschland erste gesetzliche Regelungen für das Urlaubsrecht geschaffen (Opaschowski 2002: 48). Zwar verhalfen diese Regelung und die Ausweitung des Eisenbahn- und Dampfschiffnetzes nicht allen Bevölkerungsschichten zu erholsamen Reisen (Arbeiter und Bauern blieben weiterhin ausgeschlossen), jedoch schob sich das Kleinbürgertum als neue touristische Gruppe in den Vordergrund des Reisegeschäfts. „Natürliche Grenzen und soziale Kontraste verloren zunehmend an Bedeutung“ (Opaschowski 2002: 47).
Sich gegenseitig beeinflussende Prozesse der Industrialisierung förderten den Massenreiseverkehr. Ursache hierfür waren vor allem die Ausweitung der Schulbildung, das Wachsen des Wohlstands sowie die politischen Bestrebungen zur Verbesserung des Lebensstandards auch für die Werktätigen. Nach 1900 breitete sich der Inlandtourismus der Arbeiterschaft (Touristenverein „Die Naturfreunde“), aber auch innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung („Wandervogel“) aus. Diese Demokratisierung des Reisens stellt eine wichtige Errungenschaft einer Gesellschaft dar, die auf gesellschaftliche Teilhabe ausgerichtet ist.
3. Der Tourismus – entstanden als „Fluchtversuch“ vor der Industrie – wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst zur Industrie. Diese Entwicklung hat auch Kritik an den damit verbundenen Folgen hervorgerufen.
Mit der Entfaltung des Kapitalismus‘ scheiterte der immer stärker werdende Tourismus in seinem Anspruch, eine befristete „Befreiung von der industriellen Welt“ zu sein, denn die Reise wurde selbst zum Bestandteil der Warenwelt. Im 20. Jahrhundert prägten den Tourismus zunehmend drei Elemente, die jede industrielle Produktion charakterisieren: Normierung, Montage und Serienfertigung. Die Normierung erfolgt durch die Reiseführer, die die Sehenswürdigkeiten festlegen, und zunehmend durch die Reiseanbieter, die erstrebenswerte Ziele und Aufenthaltsorte vorgeben. Die Montage der genormten Reiseziele wird über Pauschalarrangements vorgenommen und mit vorgefertigten Gruppenreisen sowie der organisatorischen Steuerung großer Touristenströme beginnt die Serienfertigung, so dass das Konsumgut Tourismus zur Massenproduktion wird. Die Entfaltung des modernen Tourismus enthielt aber von Anbeginn an immer gegenläufige Strömungen: Das „alternative Reisen“ seit den 1960er Jahren, der Extrem- und Abenteuer-Tourismus oder der seit den 1970er Jahren propagierte „sanfte Tourismus“, die allesamt auf die Verheißungen von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit verweisen, bilden stets neu die Abgrenzung zu den Anderen, den „Massentouristen“ (vgl. Ellenberg et al. 1997, Krippendorff et al. 1988). Zugleich aber mehren sich die Belege, dass neben positiven ökonomischen Effekten von Ferntourismus – sei er „pauschal“ oder auch „alternativ“ – erhebliche Nachteile für das lokale soziale, kulturelle und nicht zuletzt auch das Umweltgefüge der Zielgebiete entstehen können. Die so genannten „Bereisten“ selbst beginnen ihre Kritik am Ferntourismus zu artikulieren und sich zu organisieren.
4. Tourismus ist stets Gegenstand politischer Funktionalisierung gewesen. Im „Kalten Krieg“ stand der Ferntourismus des „Westens“ für Freiheit, Wohlstand und Grenzenlosigkeit, während Reiseverbote im „Osten“ das Synonym für Unfreiheit waren.
Gerade die Wanderbewegung des 19. Jahrhunderts war Teil einer Bewegung der Zivilisationskritik, die zum Zwecke nationalistischer, später völkischer Politik funktionalisiert wurde. Eine politisch bedeutsame Form des Massentourismus‘ entstand in Deutschland während des Nationalsozialismus‘ in den 1930er Jahren („Kraft durch Freude“) durch erschwingliche Angebote von Tagesausflügen und Gruppenreisen für breite Kreise. So wurden bis 1939 über 43 Mio. Reisen organisiert, wobei das Reisen dabei selbst totalitäre Züge annahm (Opaschowski 2002: 49). Prora auf Rügen steht exemplarisch für einen völkischen Massentourismus, der auf Eroberungsfeldzüge vorbereitete, die von manchen Soldaten zumindest in den ersten Kriegsjahren als Abenteuerreisen in Europa und Nordafrika interpretiert wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg entstand in den (politisch und geografisch) westlichen Teilen Deutschlands ein Massentourismus, in dem vor allem Auslands- und Fernreisen im Mittelpunkt standen. Seit den 1960er Jahren wurde hierdurch der Tourismus zu einem herausragenden Wirtschaftsfaktor, wobei das Reisen durch große Touristikunternehmen nahezu komplett durchkommerzialisiert wurde. Neben der Freiheits- und Bildungsverheißung wurde die Hebung des Sozialprestiges zum zweiten Hauptgrund des Reisens im so genannten Wirtschaftswunder – die Reisedestinationen wurden zu sozial-ökonomischen Positionsgütern.
Im östlichen Teil Deutschlands wurde das Faktum, nicht frei – vor allem nicht in westliche Länder – reisen zu können, zunehmend als Symptom für die Bevormundung empfunden. Zugleich wurden im Rahmen der sozialistischen Jugendorganisationen die Inlandsreisen und der touristische Austausch mit den sozialistischen „Bruderländern“ zur ideologischen Erziehung genutzt. Reisen wurden als Belonung für politisches Wohlverhalten eingesetzt.
Generell gibt es, jenseits der politischen Funktionalisierungen touristischer Praktiken, eine direkte Verbindung zwischen der Intensität sowie Reichweite des touristischen Reisens und dem Stand der technisch-industriellen Entwicklung bzw. dem erreichten Lebensstandard in den unterschiedlichen Ländern. Innerhalb der Industriestaaten mit ihrem hohen bis sehr hohen touristischen Reiseaufkommen markieren, trotz des allgemeinen Rechts auf Urlaub, unterschiedliche Formen des Reisens durchaus immer noch soziale und politische Distinktionen. Die Exklusivität der Reiseziele gewinnt an Bedeutung und wird durch „high end“-Angebote stets aufs Neue gewährleistet, so dass unter dieser Perspektive selbst Formen des Weltraumtourismus nur konsequent erscheinen.
3 Tourismus und Naturschutz in Deutschland
5. Weil die Träger der um 1900 entstehenden Naturschutzbewegung im beginnenden Massentourismus eine Bedrohung für schützenswerte Naturbereiche sahen, herrschten im Naturschutz zunächst tourismusfeindliche Tendenzen vor.
Ernst Rudorffs 1880 erschienener Aufsatz „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur“, der als Gründungsmanifest des Naturschutzes gilt, enthält eine fundamentale Kritik am Tourismus, weil ihm der „fatale Beigeschmack der Geschäftsmäßigkeit“ anhafte und weil er jeder Landschaft „das Gepräge des Entweihten, Verbrauchten“ aufdrücke. Hier dominierte das Bestreben, die Natur und Landschaft nicht für die Menschen, sondern vor den Menschen – dem „Reisepöbel“ (Rudorff 1880: 263f.) – zu schützen. Aus diesem Grunde war anfangs in Kreisen der Naturschützer auch wenig Bereitschaft vorhanden, mit den neu entstandenen Alpen- oder Wandervereinen zu kooperieren. Stattdessen erklärte der Naturschutz den „Kampf den Wanderunsitten!“. Man schrieb dem Tourismus zu, er sei eine der wesentlichen Ursachen für die Zerstörung gewachsener Kulturlandschaften, und bekämpfte ihn daher. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Idee des Naturschutzes selbst aus dem städtischen Bildungsbürgertum kommt, für das der Musikwissenschaftler und Komponist Rudorff hier nur stellvertretend genannt ist.
6. Mitte der 1920er Jahre gewann eine soziale Strömung im Naturschutz an Einfluss, die die von der Natur angeblich entfremdeten und entwurzelten „Massen“ an die Naturdenkmäler, Kulturlandschaften sowie Pflanzen und Tiere heranführen wollte.
Nach der Novemberrevolution von 1918 stand der Naturschutz in Deutschland vor der Aufgabe, in der pluralistischen Gesellschaft der Weimarer Republik mehr und andere Akzeptanz als bisher zu finden. Hans Klose kritisierte daher den elitären Habitus vieler Naturschützer sowie die mangelnde Sensibilität gegenüber weiten Kreisen der Bevölkerung. Er gründete 1922 den „Volksbund Naturschutz“ mit dem Ziel: „Hin zu den Naturdenkmälern, zu den geeigneten Schutzgebieten! Heran an die Pflanzen!“. Nunmehr thematisierte der Naturschutz die emotionale, heilsame und soziale Bedeutung ländlich geprägter Kulturlandschaft für die in Großstädten zusammen gedrängten Menschen. 1927 entstand der Naturschutzring Berlin-Brandenburg als Zusammenschluss von etwa 20 Organisationen, die ein Interesse an der Erhaltung der heimatlichen Natur hatten. Die sozialpolitischen Naturschutzansätze repräsentierten allerdings zunächst nur eine Minderheitenposition. Dies änderte sich mit der Propagierung eines „Volksnaturschutzes“ sowie der Hinwendung zu den arbeitenden Massen und der revidierten Einstellung des Naturschutzes zum Tourismus, die im Vergleich zum Kaiserreich zu einem grundlegenden Positionswechsel führten: Das Recht auf Erholung der Bevölkerung in der Natur wurde nun vom Naturschutz ausdrücklich anerkannt.
7. Das gemeinsame Interesse von Naturschutz und Tourismus an „gewachsener“ Kulturlandschaft und an Wildnisrelikten führte nach 1950 zu neuen Allianzen: national in der Naturparkbewegung und international bei der Ausweisung von Nationalparks.
Ganz auf der Linie der 1920er Jahre wurde vor allem seit Ende der 1950er Jahre zur Zeit des „Wirtschaftswunders“ in Deutschland die Notwendigkeit einer „Naherholung“ und entsprechender Gebiete geltend gemacht. Dies betraf auch das Motto: weg vom „Glasglockennaturschutz“, also der Bewahrung von Naturdenkmälern und Naturschutzgebieten, hin zu einer Pflege der gesamten Landschaft.
Erfolgreicher Ausdruck dieser Entwicklung war die Naturparkbewegung mit dem Verein „Naturschutzparke“: Zwischen 1957 und 1980 entstanden 62 Naturparke auf einer Gesamtfläche von etwa 20 % des Bundesgebietes, wobei mehr als 180 Millionen DM aus dem öffentlichen Haushalt in das Naturparkprogramm flossen. Hinter dieser Entwicklung stand die Vision einer neuen Naturpolitik als Gesundheits- und Sozialpolitik. Der Inlandtourismus wurde so tendenziell zum Partner eines sich neu formierenden Naturschutzes.
Im internationalen Kontext entstan-den in dieser Zeit weltweit immer mehr attraktive Nationalparke, die einen Boom des Natur-Ferntourismus‘ auslösten, weil nun zunehmend auch touristisch erschlossene Naturgebiete zur Verfügung der Reisenden standen. Außerhalb reiner Schutzgebiete hat auch der globale Jagdtourismus erheblichen Umfang angenommen.
Dass diese Partnerschaften zwischen Naturschutz und Tourismus nicht spannungsfrei verlaufen konnten und können, liegt auf der Hand: Event-Management und Inszenierungen von Natur einerseits stehen Forderungen des Arten- und Biotopschutzes zur Besucherlenkung und Störungsreduktion gegenüber. Insofern ist die Allianz konfliktträchtig und durchaus von Zerrüttung bedroht.
8. Die Ökologiebewegung verstärkte seit den 1970er Jahren die im Tourismus wirksame Sehnsucht nach „unberührter Natur“ und nach „authentischer Geschichte“: Sie wurde zur neuen Triebfeder eines Ferntourismus‘, der die Dialektik des Reisens weiter entfaltet.
Bereits seit der Entstehungszeit des Tourismus‘ ist die Sehnsucht, Natur als „unberührte Wildnis“ oder als „unzerstörte Landschaft“ zu erleben, ein Schlüsselleitbild: Die „edlen Wilden“ bzw. die in anscheinend direkter Verbundenheit mit der Natur lebenden Landbewohner wurden als Menschen idealisiert, die fernab von allen Zwängen der modernen Gesellschaft eine vorbildliche menschliche Existenzform repräsentierten. Seither steht das Leitbild einer Harmonie von Mensch und Natur in Form von intakter Landschaft und authentischer Geschichte im Zentrum des touristischen Blicks, mit dem das „Frühere“, „Verlorene“ und „Andere“ gesucht wird. In etwas anderer Weise wurde „Wildnis“ bzw. „ursprüngliche“, erhabene Natur zum Traum von Freiheit und das Reisen dorthin zum Versuch, der eingespielten sozialen Ordnung und ihren Zwängen zumindest vorübergehend zu entkommen. Aber die Erfahrung, dass die Reise zu den Sehnsuchtszielen mit der Ankunft vieler Touristen das erhoffte Ursprüngliche und Authentische unweigerlich zerstört, zählt zur Dialektik des Tourismus: Die vermeintlichen Geheimtipps „alternativer“ Reiseführer wurden rasch zu den Destinationen der Tourismusindustrie. Diese Dialektik erneuert sich mit der „Ökologiebewegung“: Zwar wurde die Sensibilität für eine Gefährdung von Natur und Landschaft erhöht, aber gleichzeitig drohte mit dem Ansturm auf die letzten Wildnisgebiete über kurz oder lang deren Zerstörung in Form der Verwandlung in „zivilisierte“ Reiseziele. Ausdruck solcher Ambivalenz ist die Diskrepanz beim gut situierten Teil der deutschen Bevölkerung, die einerseits ökologisch bewusst lebt und gleichzeitig einen erheblich höheren Anteil an Fernreisen im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt verbucht. Die grundlegende Dialektik des Tourismus‘ entfaltete sich immer deutlicher und wirkmächtiger als „negative Dialektik“ (Adorno) einer globalisierten Tourismusindustrie. Dabei stechen obszöne Phänomene ins Auge: aufwändig bewässerte Golfplätze in der Wüste, Luxussafaris in Gebiete, in denen sich die einheimische Bevölkerung in ihrer „Einfachheit“ und „Ursprünglichkeit“ zur Schau stellt, sowie Weltraumtourismus und auch Katastrophentourismus.
4 Perspektiven eines nachhaltigen Tourismus
9. Die ökologischen, sozialen und kulturellen Belastungen durch den Tourismus sind drastisch zu reduzieren. Da die Tourismusindustrie sich nicht von allein wandeln wird, erfordern diese Maßnahmen auch rechtliche Vorgaben und Rahmensetzungen.
Die Strategien und Konzepte für einen nachhaltigen Tourismus müssen zukünftig verschiedene Ansätze umfassen: eine umweltbewusste Verkehrsmittelwahl (Bahn, Bus, Fahrrad), verändertes Reiseverhalten (Energieverbrauch pro Tag reduzieren, Nahziele statt Fernziele), freiwillige individuelle Kompensation von Reiseemissionen, Betriebsoptimierung (Flugverkehrsmanagement, Auslastungsraten, Hotelmanagement usw.), Ausrichtung von Infrastruktur und Bebauung bzw. Beherbergung auf verträgliche, langfristige Nutzungen, aber auch Anpassung an die soziale und kulturelle Lebenswelt der Tourismusziele, eine Betonung von Entschleunigung und Erfahrungshaltigkeit statt reinen Event-Charakters und anderes mehr.
Die Zerstörung von Lebensräumen, der Rückgang der Biodiversität und der Klimawandel mit seinen weiteren Auswirkungen sind globale Probleme, für deren Lösung nationale Regelungen nicht ausreichen. Auf internationaler Ebene – zwischen den Mitgliedstaaten der EU und durch völkerrechtliche Vereinbarungen der Staaten – sind für die Tourismusindustrie und insbesondere für alle touristischen Beförderungsträger Handlungsoptionen und Regeln seitens der Politik verbindlich festzulegen und deren Umsetzung zu garantieren.
Damit verbunden ist eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen:
Eine Einführung der Kerosinsteuer auf europäischer bzw. internationaler Ebene muss die Wettbewerbsgleichheit von Flugzeug zu Bus und Bahn befördern und den Inlandstourismus stärken. Zudem befördert die derzeitige deutsche und europäische Bahnpolitik den falschen Umstieg auf „Billigflieger“ auch national. Die vor allem durch Flugreisen bedingten hohen Emissionen lassen sich durch eine gezielte Stärkung der Attraktivität des Inlandstourismus‘ maßgeblich zurückfahren. Nach EU-Richtlinien ist zwar ab 2012 auch der Luftverkehr in den europäischen Emissionshandel einzubeziehen, aus Gesichtspunkten des Klimaschutzes sind die Vorgaben jedoch unzureichend. So werden zunächst nur 15 % der Zertifikate versteigert. Im Übrigen können Luftfahrtbetreiber Zertifikate beantragen, die kostenfrei zugeteilt werden. Im Gegensatz dazu muss der elektrische Schienenverkehr, als vergleichsweise umweltfreundlicher Verkehrsträger, 100 % seiner Emissionszertifikate ersteigern. Die Beförderungsträger – der Schienen-, Seeschifffahrt-, Straßen- und Luftverkehr – müssen entsprechend ihres Anteils am CO2-Ausstoß und ihrer Klimawirkung gleich behandelt werden. Auf diese Weise werden Wettbewerbsverzerrungen, die sich klimaschädlich auswirken können, vermieden und Verlagerungen zu klimafreundlichen Reisearten gefördert.
Im Inland bzw. für Reisen in benachbarte Länder kann und muss eine deutlich verbesserte Anbindung und Erschließung der Regionen durch Bahnfernverkehrsverbindungen sowie attraktive Angebote im öffentlichen Nahverkehr erfolgen, hier geht es um das Stichwort „Mobilität am Reiseziel“.
Die Reduzierung der Abfallerzeugung durch touristische Unternehmen, die Minimierung des Einsatzes von knappen Ressourcen sowie der zunehmende Einsatz erneuerbarer Ressourcen sind wichtige Ansätze für eine weitere Verringerung der ökologischen Belastungen. Ein erster beispielhafter Schritt ist die Energiekampagne des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands.
Neue touristische Ballungszentren und Großprojekte sind zu vermeiden bzw. vorhandene „Bettenburgen“ strengsten Prüfungen ihrer tatsächlichen und zu erwartenden ökologischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen zu unterziehen. Die Förderung „sanfter“ touristischer Mobilität, ressourcenschonender Aufenthalte und naturverträglicher Erlebnisräume (Dichte und Attraktivität öffentlicher Verkehrsmittel, Wander- und Radtourismus, dezentrale Beherbergung, erleichterte Mehrfach- und Umnutzungen in strukturschwachen Gebieten, regionale und lokale Netze der Information und Betreuung usw.) muss verstärkt werden.
Für die Entwicklungs- und Schwellenländer sind Fördermittel und Unterstützungen an entsprechende Auflagen zu binden. Der Verbleib eines hohen Teils der touristischen Wertschöpfung in den Zielländern ist zu sichern und zu kontrollieren. Dazu gehört das Verbot entsprechender all-inclusive-Angebote ohne lokale Beteiligte.
Durch Festsetzung von Grenzen der Kohlendioxidfreisetzung (pro Kopf und Jahr), effektivere Energiesteuern, Emissionsabgaben, Emissionsobergrenzen mit Emissionshandel sowie Verbesserung des Gesetzes über erneuerbare Energien müssen die Nationalstatten bzw. die EU und internationale Organisationen den Rahmen für einen nachhaltigen Tourismus schaffen, in dem sich dann alle Akteure zu bewegen haben.
10. Die durch Tourismus entstehenden Kosten müssen internalisiert werden, d.h. die Tourismusindustrie muss die notwendigen finanziellen Aufwendungen für die nachhaltige Entwicklung von Natur und Landschaft sowie den Klimaschutz mit übernehmen.
Wer am Tourismus verdient, muss sich finanziell an der Beseitigung von dessen sozialen und Umweltkosten beteiligen. Natur und Landschaft gehören zu den kollektiven Naturgütern, von denen die Tourismusbranche maßgeblich profitiert. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Stellenwert „intakter“ Natur und Landschaft sowie von sauberem Wasser und Luft bei Touristen weiter gestiegen. „Um sich im Urlaub erholen zu können, möchten heute über 90 % der Befragten auch Natur erleben. Deshalb achten mehr als 60 % der Befragten auf die Umweltqualität am Urlaubsort. Für 45,5 % der Befragten ist das Motiv Natur erleben als wichtig, und 41,3 % stufen diese Funktion sogar als sehr wichtig ein“ (Kirstges 2003: 112).
Die Erhaltung von Natur und Landschaft und die Renaturierung degradierter Areale in Verbindung mit neuen regionalen Ansätzen werden somit zu einer zentralen Aufgabe von Naturschutz und Tourismus. Es wäre unfair, wenn die Gesellschaft die Kosten für den Naturschutz aufbringen müsste, während die Tourismusindustrie davon einseitig profitiert, was einer Dauersubventionierung entspräche. Eine regelmäßige Evaluierung der Einflüsse des Tourismus‘ auf Natur und Umwelt in Deutschland und die Veröffentlichung der Ergebnisse ist zu gewährleisten. Zu fordern ist Kostenwahrheit im Tourismus und eine Art touristischer Gesamtrechung, konkret:
Die Wertschöpfung durch den Tourismus in einer Region ist zu ermitteln.
Anteilig ist die Verteilung auf Einheiten der Tourismusbranche absolut und prozentual zu bestimmen.
Die Inanspruchnahme öffentlicher Güter ist zu quantifizieren.
Weiterhin ist die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen (Stadtreinigung, Müllentsorgung, Sicherheit …) zu analysieren.
Die Umweltkosten hinsichtlich Energie, Flächen, biologischer Vielfalt usw. sind zu recherchieren.
Kulturelle und soziale Kosten sind, obwohl zu einem entscheidenden Teil nicht monetär bezifferbar, einzubeziehen.
Kosten wären prozentual zum Anteil an der Wertschöpfung mit zu übernehmen, weil diese zum Teil auf der Nutzung des kollektiven Gutes Natur und Landschaft beruht.
Zur Feststellung und zugleich zur anzustrebenden Reduktion der Umweltkosten sind folgende Maßnahmen angezeigt:
Für touristische Anbieter muss der Ausweis von Emissions- und Ressourcenbilanzen, sozialen Standards und Einbindungen in ökologische und soziokulturelle Rahmen und Ausgleichsmaßnahmen obligatorisch werden.
Tourismusunternehmen sollten durch eine umwelt- und klimabewusste Informationspolitik die Reiseentscheidungen der Touristen nachhaltig beeinflussen und emissionsintensive und anderweitig umweltschädliche Reiseangebote vermeiden.
Ein klimafreundliches „Carbon-Management“ erfordert die kontinuierliche Messung von Emissionen, die Reduktion durch umweltfreundliche Verkehrsmittel sowie Energieeffizienz, die Substitution durch erneuerbare Energien sowie den Ausgleich nicht vermeidbarer Emissionen nach höchsten Standards.
11. Durch neue Formen der Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung ist die beträchtliche Diskrepanz zwischen Umweltbewusstsein und Reiseverhalten abzubauen und eine neues „Ethos des Reisens“ zu entwickeln.
Die bisherigen Formen der Umweltbildung haben es nicht vermocht, die auffallende Diskrepanz zwischen Bewusstsein, Haltung und Verhalten nachhaltig zu verringern. Neue Wege einer effektiveren Umweltbildung zu entwickeln, ist daher eine der großen Herausforderungen für die Pädagogik, die Psychologie und Umweltethik im 21. Jahrhundert.
Ein angemessenes Verständnis der Besonderheiten der touristischen Zielgebiete, Kenntnisse über die Tier und Pflanzenwelt sowie Wissen über die regionalspezifischen Kulturen und Traditionen sind eine wesentliche Grundlage für eine respektvollere Haltung gegenüber Mensch und Natur. Hier hat Bildung für nachhaltige Entwicklung die konkrete Aufgabe, ein neues „Ethos des touristischen Reisens“ anzuregen.
Eine deutliche und nachhaltige Veränderung im Reiseverhalten, hin zu einem ökonomisch, ökologisch und soziokulturell verantwortbaren Tourismus, wird allerdings nur im Zuge der Transformierung von Lebensstilen möglich sein. Entscheidend dürfte dabei sein, über eine bloße Begrenzungs- und Verzichtsethik hinaus zu gelangen, um zu neuen Konzeptionen eines Guten Lebens zu gelangen. Gerade der Tourismus ist ein Feld, in dem sich „Gewinne“ z.B. aus Entschleunigung, erfahrungsgebundener Mobilität, Erweiterung von Sinneswahrnehmungen, Entdeckung verschütteter Potenzen im Nahbereich (Ernährung, Traditionswissen, Naturausstattung), Rückgang auf elementare Körperlichkeit und Ähnliches durch gezielte Angebote erlebbar machen lassen. Dies könnte zum Wandel von leitenden Lebensstilen beitragen.
12. Ein stärkeres Gewicht auf dem Inlands- bzw. regionalen Tourismus ist aus Klimaschutzgründen angezeigt. Die Entwicklung neuer „Natur-Erlebnis-Angebote“ ist die natur- und landschaftsverträgliche Ausrichtung des Tourismus weiter zu fördern.
Mobilität und insbesondere der Flugverkehr im Bezug zum Klimawandel sind ein Hauptproblem des Tourismus‘. Daher ist eine Entscheidung der Reisenden in den Industriestaaten, den Sommerurlaub im eigenen Land bzw. der Region – politische Grenzen sind hier nicht von Bedeutung, sondern Entfernungen – zu verbringen, ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz. Allerdings erfordert dies nicht nur einen erheblichen Umbau der touristischen Infrastruktur, sondern es würde auch zu einer weiteren Belastung der regionalen Gewässer- und Gebirgsökosysteme führen. Entsprechend streng sind die Angebote für einen attraktiven Inlandstourismus – ebenso wie die des Ferntourismus‘ – auf ihre ökologische und landschaftliche, aber auch auf ihre infrastrukturelle und soziale Verträglichkeit hin zu entwickeln.
An Natururlaub Interessierte sind überdurchschnittlich für einen naturintensiven Urlaub in der Region oder anderenorts im Land ansprechbar. Mit der Schaffung neuer attraktiver Erlebnismöglichkeiten, z.B. im Wander-, Rad- und Kanutourismus, in der Verbindung von Natur- und Kulturerleben, in der Erkundung von Folgelandschaften und historischen Infrastrukturen wie etwa alten Kanälen und Gleisstrecken oder Straßensäumen lässt sich proportional die Zahl der Inlandstouristen weiter vergrößern und ein „sanftes Reisen“ fördern.
Die Realisierung dieser Maßnahmen setzt unter anderem die gezielte und gegebenenfalls subventionierte Erhaltung bzw. angepasste Umnutzung traditionaler Kulturlandschaften (z.B. Weinbergterrassen, Magerwiesen, Almen, halboffene Weidelandschaften) voraus, ebenso die Stärkung verträglicher Naturnutzungen (z.B. klassische Küstenfischerei, extensive Schafbeweidung) und die Transformation bzw. Rückführung intensiver Nutzungen (etwa Robben- und Vogelbeobachtungen statt „harter“ Muschelfischerei).
Für die Entwicklung neuer Naturerlebnis-Angebote ist ein dauerhafter und effektiver Informations-, Abstimmungs- und Kooperationsprozess von Tourismus und Naturschutz mit den Partnern aus Land-, Forst- und Gewässerwirtschaft notwendig. Zu bedenken ist, dass es vielerorts bereits hervorragende Natur-Erlebnis-Angebote gibt, die allerdings zu wenig bekannt sind.
Das Regionalmarketing sowie die regionalen Wirtschaftskreisläufe hinsichtlich qualitativer und unverwechselbarer Produkte und Leistungen sind dauerhaft und effektiv zu fördern.
13. Der Tourismus als einer der Hauptfinanzquellen für Entwicklungsländer muss durch nachhaltige und klimafreundliche Anpassungsstrategien gefestigt und verträglich gestaltet werden.
Der Tourismus gehört in mehr als 80 % der Entwicklungsländer zu den wichtigsten Devisenquellen und trägt daher ein entscheidendes Potenzial zur Armutsminderung (Bundesregierung 2009). Dabei ist allerdings zu klären, wer vom Tourismus tatsächlich profitiert, d.h. ob die Devisen tatsächlich sozial gerecht und umweltbezogen nachhaltig wirken. Zugleich ist die Entwicklung von Anpassungsstrategien erforderlich, die die Entwicklungsländer vor drastischen Einbußen schützen, wenn sich der Ferntourismus reduzieren sollte. Hierzu gehören die Entwicklung weniger klimasensibler Segmente (z.B. Kulturtourismus, „sanfter“ Natururlaub, beides eher im hochpreisigen Segment), die Bevorzugung einheimischer und regionaler Märkte, die Verringerung des Devisenabflusses sowie die Umsetzung von Emissionsausgleichprojekten im eigenen Land. Es sei hier jedoch betont, das Ferntourismus in Entwicklungsländern eine Vielzahl von sozialen und Umweltfragen mit sich bringt, die einerseits einer sehr differenzierten Beurteilung im Detail bedürfen, andererseits auf sehr generelle Themen internationaler Entwicklungszusammenarbeit und Gerechtigkeitsthemen verweisen. Nicht nur, aber insbesondere in den Entwicklungsländern ist eine zielorientierte Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an Planungs- und Entscheidungsprozessen zu sichern.
14. Touristisches Reisen muss – im Zuge einer unabweisbaren Veränderung unserer Lebensstile – andere, auf die natürliche und menschliche Umwelt eingestellte Qualitäten bekommen.
Touristisches Reisen ist Bestandteil einer in den letzten sechs bis sieben Jahrzehnten unerhört angewachsenen und beschleunigten, allgemeinen und globalen Mobilität. Nicht nur unter Aspekten des Klimaschutzes wird sich diese exzessive Mobilität, noch viel mehr ihr prognostiziertes, enormes Wachstum, nicht mehr verantworten lassen. Eine bloße Abmilderung ihrer Effekte (z.B. Emissionen, gigantische Infrastrukturmaßnahmen, globale Ortlosigkeit, Verschärfung sozialer Diskrepanzen) wird nicht ausreichen, auch nur aktuelle Klimaschutzziele, geschweige denn Nachhaltigkeit der Wirtschafts- und Lebensformen zu erreichen.
Die humanen Errungenschaften eines in den Industriestaaten nahezu allgemein in den Lebensstandard eingebetteten Tourismus‘ sind nicht zwangsläufig an exzessive, globale Mobilität gebunden, auch nicht an die industrialisierten Formen der Tourismusangebote. Entlastende Orts- und Milieuwechsel, Erfahrung anderer Lebenswelten, Wahrnehmung beeindruckender Naturszenerien, Erholung durch zweckfreie körperliche Betätigung und weitere positive Potentiale touristischer Aktivitäten können auch durch andere, verträgliche Formen der Mobilität und der Urlaubsaufenthalte erreicht werden, bis hin zu einem erneuerten Verständnis und zeitgemäßen Praktiken der Muße, und sei es beim Urlaub in „heimatlichen Gefilden“. Ein mit seinen leitenden Konzeptionen auf die Erschließung solcher Potenziale eingestellter Naturschutz kann einen wichtigen Beitrag zur unabdingbaren Wende auch im modernen Tourismus leisten. Hierbei muss sich der Naturschutz stärker als bisher in touristische Prozesse und Entwicklungen einbringen. Die Politik muss den Naturschutz als den wichtigsten Akteur bzgl. der Bewahrung der Kulturlandschaften sowie der Wildnisrelikte so stark machen, dass er zukünftig zum gleichberechtigten Partner des Tourismus wird.
Für den Übergang zu einem neuen Verständnis und einer neuen Praxis des „guten Reisens“ seien abschließend fünf notwendige Bausteine formuliert:
Wertbezogene (axiologische) Intuitionen eines guten Reisens sollten offensiver als bisher zum Thema gemacht werden, um die „Nachfrageseite“ durch Diskussionen über ein neues „Ethos des Reisens“ mit zu gestalten.
Selbstverpflichtungen der Tourismusbranche sollten auf der „Angebotsseite“ eine Feinsteuerung übernehmen.
Staatliche Regulierung a
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