Biodiversität ohne nennenswerten Naturschutz?
Abstracts
Trotz programmatisch bedeutsamer Ziele, den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen, existieren nach wie vor erhebliche, ja sogar anwachsende Defizite, die das Erreichen dieser Ziele verhindern. Anhand von Fallbeispielen aus der kreisfreien Stadt Bonn (Nordrhein-Westfalen) wird aufgezeigt, welche Ausmaße die Vollzugsdefizite im Natur- und Artenschutz auf kommunaler Ebene haben. Bei Vorgängen, über die die Kommunalverwaltung in eigener Verantwortung entscheidet, reicht die Spanne von Desinteresse bis hin zur Verbreitung von Falschinformationen und Missachtung verbindlicher Regelungen. Neben zahlreichen anderen Ämtern ist auch die Umweltverwaltung selbst an diesen Missständen beteiligt. Die Gründe für diese eklatanten Fehlentwicklungen werden diskutiert.
Commitment to Biodiversity Remaining Empty Phrase? How a German municipality fails to perform the 2010 aim
Regardless of important policy targets such as the 2010 goal to stop the loss of biological diversity, considerable and even increasing deficiencies are existing in reaching these goals. Using the city of Bonn as a case study the paper presents the dimensions of these implementation deficiencies in nature and species conservation on local level. The examples illustrate that decisions and actions in the sole responsibility of the municipal authorities are characterised by lack of seriousness, misinformation and disregard of binding regulations. Apart from numerous other authority departments even the environmental division has a share in this deplorable state of affairs. The paper discusses the reasons for this glaring aberration.
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1 Einleitung
Es ist inzwischen deutlich, dass das Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen, nicht mehr einzuhalten sein wird (vgl. EU-Kommission 2008). Ob dieses Ziel zu ambitioniert gewählt war, mag hier dahinstehen. Mit diesem Beitrag soll der Blick auf die kommunale Verwaltung gelenkt werden, der bei der Umsetzung dieser Ziele „vor Ort“ eine besondere Bedeutung zukommt. Vollzugsdefizite im Naturschutz sind seit langem bekannt (z.B. Erz 1978, 1980) und insbesondere in der Kommunalverwaltung in den letzten Jahren verstärkt zu beklagen (vgl. SRU 2007). Gleichwohl gibt es in diesem Bereich oft klar geregelte Zuständigkeiten, Pflichten zur Unterstützung der Naturschutzbehörden durch andere Stellen (z.B. §9 Abs. 2 S.1 Landschaftsgesetz Nordrhein-Westfalen) oder – wie in NRW – ein dichtes Netz Biologischer Stationen, das zur Umsetzung der Ziele von Naturschutz und Landschaftspflege beiträgt. Einzelne Kommunen haben den Schutz der biologischen Vielfalt sogar zu ihren wichtigsten Aufgaben erklärt. Hierzu gehört Bonn, das nicht nur Sitz mehrerer UN-Sekretariate von Abkommen zum Natur- und Artenschutz und Gastgeber für diesbezügliche internationale Konferenzen ist, sondern als Kommune selbst Vorreiter für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen sein will (Dieckmann 2008a, b). Dennoch kommt es zu erheblichen Defiziten im Handeln der Kommunalverwaltung, was nachfolgend exemplarisch aufgezeigt werden soll. Dieser Beitrag beschränkt sich dabei auf Sachverhalte, für die allein die Stadtverwaltung verantwortlich zeichnet und die in dieser Form nicht auf politische Beschlüsse als Vorgaben zurückgeführt werden können.
2 Fallbeispiele
2.1 Fallbeispiel 1: keine Maßnahmen wegen ICLEI-Mitgliedschaft
Im Mai 2008 stellte eine Ratsfraktion einen umfassenden Antrag zum Schutz der Biodiversität in Bonn, der im Umweltausschuss am 27.05.2008 (während der 9. CBD-Vertragsstaatenkonferenz) behandelt wurde (DS 0811154*). Die insgesamt 16 konkreten Vorschläge reichten von der Entschärfung gläserner Wartehäuschen als Vogelfallen über die Stärkung der Landschaftswacht bis zum Schutz bestimmter prioritärer Arten und Lebensräume sowie der Sicherung der genetischen Vielfalt durch Verwendung regionalen Saatgutes. In ihrer Stellungnahme auf diesen Antrag ging die Verwaltung auf einzelne Punkte nicht ein (0811154ST2), sondern wies auf ihre internationalen Verpflichtungen zur Aufstellung eines lokalen Aktionsplanes im Rahmen von ICLEI, dem Städtenetzwerk für Nachhaltigkeit, hin, bei dessen Aufstellung die beantragten Maßnahmen „geprüft werden“ sollen und der „in den kommenden Jahren umgesetzt werden kann“. Dieser Aktionsplan solle im ersten Quartal 2009 vorgelegt werden. Seitdem wurde damit selbst die Umsetzung auch nur kleinerer Maßnahmen abgelehnt. Die Prioritäten innerhalb der Verwaltung waren aber so gesetzt, dass aufgrund von Arbeitsüberlastung (0911369ST2) den Ratsgremien ein Aktionsplanentwurf erst im August als Mitteilung vorgelegt wurde. Dieser enttäuschte: Nur zwei von 27 genannten Maßnahmen beinhalteten verbesserte Schutzmaßnahmen für die biologische Vielfalt. Die übrigen Punkte umfassten das laufende Geschäft der Verwaltung, Pflichtaufgaben im Rahmen gesetzlicher oder kommunaler Vorgaben sowie Öffentlichkeitsarbeit. Der Aktionsplan glich einer unverbindlichen und unbestimmten Absichtserklärung: Er benannte keine Adressaten, enthielt keine Finanz- oder Zeitplanung und keine Angaben zu den personellen Ressourcen für die Umsetzung. Auf den Antrag vom Mai des Vorjahres ging der Aktionsplan nicht ein. Entgegen der Ankündigung der Verwaltung wurde nur einer der 16 damaligen Punkte aufgegriffen, zwei weitere Punkte wurden teilweise behandelt; die übrigen 13 wurden nicht einmal erwähnt.
2.2 Fallbeispiel 2: falsche Vögel in Wort und Bild
Der Biodiversitätsbericht der Stadt Bonn (Bundesstadt Bonn 2008a) enthält in der von der Stadtverwaltung eingefügten Liste deutscher Vogelnamen mehrere Dutzend z.T. sinnentstellende Schreibfehler (Mandarinenente, Schnellente, Rohrdrommel etc.) sowie Namen, die in Fachkreisen völlig ungebräuchlich sind und antiquierter Jägersprache entstammen: Krammetsvogel (für Wacholderdrossel), Raubkrähe (für Rabenkrähe) etc.
Aber auch mit Vogelabbildungen tut sich die Stadt schwer. Auf einem städtischen Plakat zu hygienischen Problemen durch verwilderte Haustauben wird eine Taube grafisch dargestellt, die wie eine Türkentaube aussieht. Auf die Verwechslung mit einer unproblematischen und gemäß EU-Vogelschutzrichtlinie geschützten Vogelart hingewiesen, erkennt die Verwaltung zwar ihren Fehler an, will diesen aber erst bei einer Neuauflage des Plakates korrigieren. Ob und wann eine solche Neuauflage erfolgt, lässt sie offen (Bundesstadt Bonn in litt. 02.02.2009).
2.3 Fallbeispiel 3: städtischer Frühjahrsputz während der Brutzeit
Bereits seit mehreren Jahren findet unter Federführung der Bonner Stadtverwaltung die Aktion „Bonn picobello“ statt. Mit Unterstützung der Stadtwerke Bonn und einer Lokalzeitung werden im Frühjahr die Bonner Bürger aufgerufen, Siedlungen und öffentliche Grünanlagen von Abfällen zu befreien. Diese Aktionen finden in den Monaten März oder April statt – während der Vegetationsperiode und in der Brutzeit vieler heimischer Vogelarten. Aus diesem Grund ist das Zurückschneiden von Hecken und Gebüschen ab 01. März in Nordrhein-Westfalen landesrechtlich untersagt, worauf die Stadtverwaltung alljährlich mit Pressemitteilungen hinweist. Auf diese Widersprüche und die Artenschutzbestimmungen des §42 Bundesnaturschutzgesetz aufmerksam gemacht, erklärte die Stadtverwaltung, sie sehe keine Probleme, denn in den die Aktion begleitenden Faltblättern werde „auf die Brutzeit und auf die damit erforderliche Verhaltensweise gesondert hingewiesen. Den Regelungen des Bundesnaturschutzgesetzes dürfte damit entsprochen sein“ (Bundesstadt Bonn in litt. 14.03.2008). Somit durchkämmen, ermuntert durch die Stadtverwaltung, weiterhin jedes Jahr gutwillige Mitbürger sensible Gebüsche, Böschungen und Bachufer (Abb.1) – selbst in Naturschutzgebieten.
2.4 Fallbeispiel 4: Naturschutzgebiete ohne Schutz?
Seit 2004 ist das Katzenlochbachtal, das zu den naturbelassensten Bachtälern in Bonn zählt, mit großen Waldbereichen des angrenzenden Kottenforstes als Naturschutzgebiet ausgewiesen und gleichzeitig als FFH- und Vogelschutzgebiet gemeldet (Bezirksregierung Köln 2004). Zum Schutz der „überwiegend extensiv genutzten Grünlandflächen sowie der Obstwiesen in ihrer Funktion als Lebensraum und Puffer für die Fließgewässer“ ist es u.a. verboten, „die Bodenerosion, insbesondere auch durch übermäßige Beweidung, zu fördern“ und „Streuobstbestände durch Beweidung zu schädigen“. Obwohl ehrenamtliche Naturschützer bereits vor Jahren mit zahlreichen Anzeigen bei der Unteren Landschaftsbehörde in Bonn auf massive Probleme durch übermäßige Pferdehaltung im Katzenlochbachtal aufmerksam gemacht hatten, besteht die prekäre Situation überweideter Flächen und geschälter Obstbäume nach wie vor (Abb. 2).
Dass es sich hierbei um keinen Einzelfall handelt, belegen die massiven Missstände im Naturschutzgebiet „Weiers Wiesen“. Anwohner erweiterten schon vor 2005 ihre unmittelbar angrenzenden Grundstücke „teilweise erheblich“ in die Schutzgebietsflächen hinein, auch auf Kosten gesetzlich geschützter Biotope nach §62 Landschaftsgesetz Nordrhein-Westfalen (0613382ED2). Dies hat die Biologische Station Bonn bereits im Sommer 2005 bei der Unteren Landschaftsbehörde angezeigt. Die einzige bisher erkennbare Aktivität der Stadtverwaltung ist der missglückte Versuch, entsprechende Passagen aus dem Tätigkeitsbericht der Biologischen Station zu streichen (s. 0613382ED2, S.2). Der drei Jahre später erschienene Biodiversitätsbericht konnte daher nur feststellen: „Ein gravierendes Problem sind illegale Erweiterungen von Privatgärten in das Naturschutzgebiet“ (Bundesstadt Bonn 2008a). Bis dato gelang es der als Sonderordnungsbehörde organisierten Unteren Landschaftsbehörde nicht, das Problem zu beheben.
2.5 Fallbeispiel 5: „automatische Außerkraftsetzung von Landschaftsschutzgebieten durch Bebauungsplan“
Noch im Jahre 2004 war die Stadtverwaltung der Meinung, ein Bebauungsplan für eine Straße könnte den an dieser Stelle bestehenden, per Verordnung festgesetzten Landschaftsschutz, hier im Landschaftsschutzgebiet „Meßdorfer Feld“, überlagern, also unwirksam machen (0411725ST3). In einer Einwohneranfrage wurde die Verwaltung auf diese Fehleinschätzung hingewiesen, hielt aber dennoch daran fest. Erst die Bezirksregierung Köln musste der Stadtverwaltung darlegen, dass ihre Rechtsauffassung falsch und die vorgebrachten Bedenken richtig waren (0411725NV4): Alle Bereiche des Bebauungsplanes, deren Festsetzungen der Landschaftsschutzverordnung widersprechen, müssen durch Teilaufhebung der Verordnung aus dem Landschaftsschutz entlassen werden, damit der Bebauungsplan Rechtskraft erlangen kann. Die von der Stadt vertretene Auffassung wurde bereits Jahrzehnte zuvor im Baugesetzbuch (damals Bundesbaugesetz) revidiert.
2.6 Fallbeispiel 6: vorauseilende Streichung aus dem Landschaftsschutz
Wenn eine neue Schutzgebietsverordnung erlassen werden muss, ergibt sich die Gelegenheit, die Verordnung an aktuelle Erfordernisse anzupassen. Von dieser Möglichkeit macht die Stadt aber auch in gegenläufigem Interesse Gebrauch: indem vormals geschützte Flächen nicht in den Geltungsbereich der neuen Verordnung übernommen werden, wenn sie – auch bisher unverbindlichen – Planungsabsichten im Wege stehen. So geschehen beispielsweise bei der Zufahrt zum Gelände der ehemaligen Zementfabrik in Bonn-Oberkassel, das zu einem Büro- und Hotelstandort entwickelt werden sollte. Das Gelände hatte schon eine Zufahrt, die aber nicht repräsentativ genug erschien. Für die neue Zufahrt, die ca. 200m parallel zur bestehenden verläuft, musste der das Gelände umgebende, als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesene Waldgürtel durchstoßen werden (Abb. 3).
Dieser Herausnahme stimmte die Bezirksregierung als Verordnungsgeberin in inoffiziellen Vorgesprächen zu, und so begrüßte die Stadt Bonn die Landschaftsschutzverordnung „Rheinufer“ hinsichtlich städtischer Planungen als „Erleichterung. Einige Projekte werden nicht mehr durch den Landschaftsschutz behindert, da diese Flächen aus dem Geltungsbereich herausfallen“ (0110276). Der Bonner Landschaftsbeirat hatte zwar bereits frühzeitig vor dieser Entwicklung gewarnt (0011477), erfuhr von den Absprachen der Stadtverwaltung aber erst im Nachhinein und konnte nur noch seine Missbilligung zu Protokoll geben (0110276EB3).
2.7 Fallbeispiel 7: keine Konsultation von Fachleuten trotz Ankündigung
Vom Hauptausschuss der Stadt Bonn wurde 2005 ein einstimmiger Grundsatzbeschluss zum „Schutz der Tiere durch Lichtimmissionen“ getroffen (0512894). Ein halbes Jahr später erging die Frage an die Stadtverwaltung, welche Maßnah-men inzwischen getroffen worden seien (0610927). Insbesondere sollte dargelegt werden, ob die Verwaltung Kontakt zu Betreibern schädlicher Beleuchtungseinrichtungen, u.a. Skybeamer, aufgenommen habe, denn Fremdlicht stört das Orientierungsvermögen von Zugvögeln und bringt die Tiere vom Kurs ab (Bruderer et al. 1999), die nachfolgend durch Anprall an Hindernisse verletzt oder getötet werden können (vgl. Buwal 2005, Haupt 2009a). In ihrer Stellungnahme (0610927ST2) gab die Stadt an, hierzu noch Informationen „zum Vogelflug über Bonn, der für diese Vögel relevanten Gebäudehöhe sowie Art und Umfang der kritischen Beleuchtung“ einholen zu wollen: „Dazu wurde Kontakt mit externen Fachleuten aufgenommen. Eine Stellungnahme liegt von dort noch nicht vor.“ Aber auch ein Jahr später war weder bei der Staatlichen Vogelschutzwarte für Nordrhein-Westfalen noch bei der Kreisgruppe Bonn des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) noch der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Bonn/Rhein-Sieg eine Anfrage der Verwaltung eingegangen, wie eine eigene Nachfrage ergab. Auf erneute Nachfrage seitens der Politik im Jahr 2008 (0810344) gab die Verwaltung an, mit „mehreren Experten Kontakt aufgenommen“ zu haben. Um wen es sich dabei handelte, teilte die Verwaltung weder in ihrer Stellungnahme mit, noch konnte dies bei der Umweltverwaltung in Erfahrung gebracht werden (Zolondek mdl. Mitt. 2008). Eine Konsultation von Fachleuten erscheint auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Stadtverwaltung angab, „dass es nach wie vor erheblichen Forschungsbedarf gibt und somit kein differenzierter, in allen Kernfragen eindeutiger Sachstand existiert, auf dessen Grundlage sich klare Handlungsmaximen ableiten lassen“ (0810344ST2). Die Verwaltung sah Widersprüche in zwei einschlägigen Dokumenten (ebd.), konnte diese aber auch bei mündlicher Nachfrage nicht konkretisieren. In Fachkreisen sind die Kernprobleme und Lösungsmöglichkeiten hingegen bekannt, während es offene Fragen und Widersprüche allenfalls in artspezifischen und biologischen Details gibt.
2.8 Fallbeispiel 8: „keine störenden Lichtemissionen“
Im Jahr der Astronomie 2009 wurde die Bonner Stadtverwaltung verstärkt mit Initiativen zur Verminderung von Lichtemissionen konfrontiert, die nicht nur Astronomen, sondern auch dem Natur- und Artenschutz zugute kommen würden (vgl. Böttcher 2001). Trotz Hunderter städtischer Kugel- und Pilzleuchten mit ungerichteter Abstrahlung (Abb. 4), wenig zielgenauer Effektbestrahlung städtischer Gebäude und in Einzelfällen geradezu dramatischer Lichtverschmutzung (Abb. 5) vertritt die Stadtverwaltung die Auffassung: „Die städtischen Beleuchtungseinrichtungen sind so konzipiert, dass hiervon keine ‚Lichtverschmutzung‘ ausgeht. Bei allen Leuchten der Straßenbeleuchtung wird durch die Bauform eine Abstrahlung des Lichtes nach oben oder horizontal zur Seite verhindert“ (0910250ST3).
2.9 Fallbeispiel 9: streng geschützte Arten? Nie gesehen …
Selbst vor Gericht nimmt die Stadt es mit der Wahrheit nicht immer genau: Im Zuge der Aufstellung des Bebauungsplanes 7421-14 „Am Bruch“ war die Stadtverwaltung mit dem Vorkommen besonders und streng geschützter Arten im und am Plangebiet konfrontiert, insbesondere der streng geschützten Zauneidechse. Im Verfahren zur Aufstellung des Bebauungsplanes begnügte sich die Stadtverwaltung mit einer ornithologischen „Bestandserhebung“ im Plangebiet an einem Oktobertag, was hinsichtlich Jahreszeit und Intensität bereits jeder fachlichen Grundlage entbehrt; hinsichtlich der Eidechsenvorkommen verwies man auf eine fünf Jahre alte Untersuchung einer Nachbarfläche, auf der bei zweimaliger Begehung keine Reptilien gesichtet wurden. Dies wertete die Stadt als „Negativnachweis“ für das Bebauungsplangebiet. Sowohl im Rahmen eines Normenkontrollantrages beim Oberverwaltungsgericht Münster gegen diesen Bebauungsplan (Details s. Haupt 2009b) als auch anlässlich eines Dringlichkeitsantrages zur winterlichen Baufeldräumung, bei der zahlreiche Zauneidechsen in ihren Ruhestätten getötet worden sein dürften (0910230), gab die Stadt an, es gebe in den fraglichen Bereichen keine Zauneidechsen (0910230ST2). Eine Diplomarbeit, die das Gegenteil beweist (Micheel 2008), lag der Stadt aber zu dieser Zeit vor und war den Zuständigen bekannt (Langhans mdl. Mitt. 2009). Trotz des gerichtlichen Hinweises, im Baugenehmigungsverfahren die artenschutzrechtlichen Belange zu berücksichtigen (OVG NRW 2009), unterblieb auch das: Die Stadt ließ das Baugebiet im „Vorlageverfahren“ bebauen – ohne solche Genehmigungen. Der Lebensraum der Zauneidechse ist nach umfangreichen Erdarbeiten inzwischen vernichtet.
2.10 Fallbeispiel 10: Baumfällung ohne Genehmigung
Doch die Stadt muss sich nicht nur Verstöße gegen Bundesrecht im Artenschutz, sondern auch gegen ihre eigenen Satzungen und Beschlüsse vorwerfen lassen: Zum Schutz des städtischen Baumbestandes existiert in Bonn die „Satzung zum Schutz des Baumbestandes in der Bundesstadt Bonn vom 21. Juni 2000“, die das Fällen von Bäumen unter bestimmten Voraussetzungen von einer Genehmigung abhängig macht und von Oberbürgermeisterin Dieckmann als wegweisend herausgestellt wurde (Dieckmann 2008b). Ferner fasste der Bonner Hauptausschuss zur Vermeidung schädlicher Lichtimmissionen im Jahr 2005 einen entsprechenden Beschluss (0512894NV4). Beidem handelte die Stadtverwaltung entgegen, als es um die Neugestaltung der Umgebung des „UN-Campus“ ging, dem Sitz mehrerer Abkommenssekretariate der Vereinten Nationen: Für den Umbau von Straßenzügen wurden Dutzende, teils über 70-jährige Bäume ohne die erforderliche Genehmigung, d.h. ohne Beteiligung des Umweltamtes, gefällt und darüber hinaus eine von unten nach oben gerichtete Illumination von Baumkronen vorgeschlagen (0811955; 0812963; Abb. 6), was vermeidbare Lichtimmissionen bedeutet. Das zuständige Planungsamt vermochte keine Verstöße gegen die kommunalen Bestimmungen zu erkennen, konnte diese Haltung aber auf Nachfrage nicht nachvollziehbar darlegen (Bundesstadt Bonn in litt. 06.08.2009).
3 Diskussion
An den in diesem Beitrag aufgeführten Fallbeispielen waren neben der Umweltverwaltung weitere Ämter beteiligt bzw. federführend, die den Themen des Natur- und Artenschutzes gemäß ihrem eigenen Aufgabenspektrum meist positiv bis indifferent eingestellt sein dürften wie das Ordnungsamt (Fallbeispiel 2), das Rechtsamt (9) und das Stadtreinigungsamt. Andere Ämter vertreten in der Regel dem Naturschutz konkurrierende Interessen: Tiefbauamt (8, 10), Planungsamt (10), Bauaufsichtsamt (8) und Katasteramt (9). Alle Stellen sind aber zur Zusammenarbeit mit und zur Unterstützung der Landschaftsbehörde gesetzlich verpflichtet (§9 Landschaftsgesetz Nordrhein-Westfalen). Es stellt sich mithin die Frage nach der Praktikabilität dieser gesetzlichen Regelung.
Politische Beschlüsse, die das dargelegte Verwaltungshandeln begründen könnten, liegen für die aufgeführten Fallbeispiele nicht vor. Die Kommunalverwaltung hat jeweils autonom und in eigener Verantwortung entschieden. Dennoch können indirekte politische Einflüsse auf diese Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden, denn über die Beförderung leitender Positionen in Kommunalverwaltungen wird in den Ratsgremien abgestimmt.
Für die aufgeführten Defizite kann eine Kaskade verschiedener Ursachen konstatiert werden: Von einfachen Missgeschicken bzw. Desinteresse und fachlicher Unkenntnis (2) über Bequemlichkeit (3), fragwürdigen Strategien (1), Überlastung (4, 7), Abwägung zu Lasten des Naturschutzes (6) bis hin zu bewusstem und in mehreren Fällen nicht rechtskonformem Handeln gegen den Naturschutz (5, 8-10). Letzteres mag überraschen, ist hier doch sogar das Umweltamt beteiligt. Stets präsent ist eine Konfliktvermeidungs-Strategie, die ein aus naturschutzfachlichen oder rechtlich gebotenen Gründen erforderliches Handeln durch Ignorieren, Vertagen oder Negieren umgeht. Auch angesichts weiterer, hier nicht dargelegter Fälle muss man davon ausgehen, dass diese Strategie bewusst angewandt wird.
Vor etwa 30 Jahren hat Erz (1980) verschiedene Formen von Vollzugsdefiziten im Natur- und Artenschutz identifiziert und als großen Hemmschuh für wirksamen Artenschutz dargestellt, der sich mit wachsenden Anforderungen, starken Gegenspielern und falschen Erfolgsmeldungen konfrontiert sieht. Unter seinen sieben Typen von Vollzugsdefiziten sind das Finanz-, das Personal-, das Ausbildungs-, das Kooperations-, das Rechtsvollzugs- und das (Sozial-)Status-Defizit auf kommunaler Ebene weiterhin virulent: Zu wenig und schlecht ausgebildetes Personal ist mit zu wenig Ressourcen ausgestattet, um den besser aufgestellten Konfliktpartnern wirksam entgegentreten zu können, so dass selbst bestehende Rechtsvorschriften nicht eingehalten werden. In kreisfreien Städten wie Bonn mag es für die Naturschutzverwaltungen besonders problematisch sein, sich gegen andere Interessen zu behaupten, wenn die Eingreifer denselben Dienstherrn haben und die Verwaltung „mit einer Stimme spricht“. Entscheidungen zuungunsten des Naturschutzes fallen entweder, weil sich letzterer in den Abwägungsprozessen nicht so durchzusetzen vermag, wie es nach den gesetzlichen Vorgaben eigentlich zu erwarten wäre (vgl. Erz 1980; Statusdefizit), oder weil gleich ohne Einbindung der Naturschutzverwaltung geplant und entschieden wird (Kooperationsdefizit).
Es ernüchtert, dass auch 30 Jahre nach der Analyse von Erz (1980) und nach gut 100 Jahren staatlichem Naturschutz diese Probleme in diesem Ausmaß weiterhin existieren. Sie scheinen sich sogar zu verschärfen, wenn sich der Naturschutz selbst Vollzugsdefizite konstruiert, um nicht zu handeln: Der siebte Defizit-Typ nach Erz – Forschungsdefizit, d.h. zu wenig Kenntnisse für konkretes Handeln – taucht in den Fallbeispielen insofern auf, als die Umweltverwaltung ein solches Defizit vorschiebt, obwohl es gar nicht existiert (Fallbeispiel 7). Die Verbreitung von offenkundig unzutreffenden Informationen (Fallbeispiele 7-10) stellt hingegen eine neue Qualität der Vollzugsdefizite dar, die hier als „Wahrhaftigkeitsdefizit“ bezeichnet werden soll. Wie die Fallbeispiele zeigen, werden die Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung, die ohnehin recht weit gesteckt sind (Gerss 2008), in mehrfacher Hinsicht überschritten: durch Vorgabe von Wissenslücken, Desinformation der Öffentlichkeit und fragwürdige Auslegung verbindlicher Vorgaben. Es mutet geradezu paradox an, dass in der Folge beispielsweise die Feststellung Weders (2003), es stünden „viele... [Schutzgebiete ]... in der Dritten Welt nur auf dem Papier, ohne dass sich jemand ernstlich um die Bewahrung ihres Inhalts kümmerte“, gleichermaßen auf das Zuständigkeitsgebiet einer bundesdeutschen Kommune übertragbar ist.
Das 2010-Ziel zum Stopp des Verlustes der biologischen Vielfalt, die Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung (BMU 2007), die Vorgaben des Bundesnaturschutz- bzw. des Landschaftsgesetzes – diese Ziele und Regelungen scheinen auf der kommunalen Ebene nicht durchweg angekommen zu sein. Dies mag grundsätzlich an einer fehlenden Strategie liegen, diese Ziele in ausreichend konkretisierter Form an die Akteure vor Ort zu transportieren, oder an mangelhaft verinnerlichter Akzeptanz. Es scheint, als seien wir nach Jahrzehnten des Naturschutzes immer noch nicht grundlegend weitergekommen. Basale und geradezu banale Dinge fordern Erdmann et al. (2006), wenn sie in ihrer pragmatisch-nüchternen Analyse eine verbesserungswürdige Kooperation und Kommunikation der verschiedenen Gruppen des Gemeinwesens im Naturschutz konstatieren und Strategien mit einem spezifischen Instrumenteneinsatz fordern – ohne aber auf das hoheitliche Handeln mittels Ordnungsrecht zu verzichten.
Aber selbst Entscheidungsträgern, denen diese bedeutsamen Ziele nach eigenem Bekunden nahe liegen, gelingt ihre Umsetzung nicht: Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann war während ihrer Amtszeit als Chefin der Bonner Stadtverwaltung beispielsweise als Vorsitzende des Weltbürgermeisterrates zum Klimawandel persönlich „entschlossen, konkret zu handeln“ und hatte sich verpflichtet, im Rahmen des „Städtenetzwerks für Nachhaltigkeit“ ICLEI einen lokalen Aktionsplan zu erarbeiten (Bundesstadt Bonn 2008b). Sie benannte die Abhängigkeiten zwischen Biodiversität, Klimawandel und Wüstenbildung, die Rolle der Städte beim Schutz biologischer Vielfalt und die Bedrohung einer nachhaltigen Entwicklung durch ihren Verlust (Anonymus 2008). Anfang 2009 wurde sie ferner zur „Ökologia – Botschafterin der Ökologie“ durch die Stiftung Ökologie und Demokratie berufen (Bundesstadt Bonn 2009). Selbst unter solch geradezu außergewöhnlich günstigen Voraussetzungen kam es zu den hier beispielhaft aufgezählten Fehlentwicklungen und Defiziten.
4 Schlussbemerkung
Zwei Monate vor Einreichung des Manuskripts wurden die wesentlichen Teile dieses Beitrags Oberbürgermeisterin Dieckmann mit dem Angebot zur Stellungnahme durch die Stadtverwaltung vorgelegt, die darauf nicht reagierte.
Literatur
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Bezirksregierung Köln (2004): Ordnungsbehördliche Verordnung über das Naturschutzgebiet „Kottenforst“, Bundesstadt Bonn und Gemeinde Alfter, Stadt Meckenheim, Gemeinde Wachtberg, Rhein-Sieg-Kreis vom 11. April 2004. Amtsblatt für den Regierungsbezirk Köln 184, (17), 157-162.
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Böttcher, M. (Bearb., 2001): Auswirkungen von Fremdlicht auf die Fauna im Rahmen von Eingriffen in Natur und Landschaft. Analyse, Inhalte, Defizite und Lösungsmöglichkeiten. Schr.-R. Landschaftspfl. Naturschutz 67, 192 S.
Bruderer, B., Peter, D., Steuri, T. (1999): Behaviour of migrating birds exposed to X-band radar and a bright light beam. J. exp. Biol. 202, 1015-1022.
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– (2009): OB Dieckmann ist Botschafterin der Ökologie. Pressemitteilung der Stadt Bonn. http://www.bonn.de/rat_verwaltung_buergerdienste/topthemen/07833/ (gesehen 28.06.2009).
BUWAL (Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft, Hrsg., 2005): Empfehlungen zur Vermeidung von Lichtemissionen. Bern, 37 S.
Dieckmann, B. (2008a): 10, 9, 8… Vielfalt! Natur in NRW 33, (1), 44-45.
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Erdmann, K.-H., Schell, C., Hopf, T. (2006): Naturschutz in der Gegenwart. Herausforderungen und strategische Antworten für die Zukunft. In: Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Hrsg., Dem Erbe verpflichtet – 100 Jahre Kulturlandschaftspflege im Rheinland, Köln, 401-411.
Erz, W. (1978): Vollzugsdefizit – das macht den Naturschutz kaputt. Reihe „Naturschutz aktuell“. Die Welt der Tiere 5, (2), 32.
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Weder, D.J. (2003): Umwelt. Bedrohung und Bewahrung. Zeitbilder, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 144S.
Anschriften der Verfasser(in): Heiko Haupt, Bornheimer Straße 100, 53119 Bonn, E-Mail heiko_haupt@t-online.de; Hans Georg Schneider, c/o Heiko Haupt, s.o.; Brigitta Poppe, Auf dem Dransdorfer Berg 40, 53121 Bonn.
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