Fließgewässerrenaturierung – alles im Fluss?
Georg Hermannsdorfer, seines Zeichens Landespfleger, kann jahrzehntelange Erfahrung in Gewässerpflege und Gewässerrenaturierung nachweisen. Erst kürzlich hat er seine Praxiserfahrung im Buch „Renaturierung von Fließgewässern“ zusammengefasst. Seine Motivation: Zwischen Theorie und Umsetzung gibt es immer noch eine große Lücke. Im Interview zeigt er die Problemfelder auf.
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Redaktion: Herr Hermannsdorfer, viele von uns, die Landschaftsplanung oder Landschaftspflege studiert haben, kennen umfangreiche Literatur zur Renaturierung von Fließgewässern. Wieso brauchte es noch ein weiteres Buch?
Hermannsdorfer: Die meisten Bücher befassen sich mit dem theoretischen Überbau. Da geht es um die ökologischen Defizite. Ich glaube, das ist inzwischen hinreichend geklärt, sodass man handeln könnte. Auch das Bewusstsein, dass man was ändern muss, ist da. Aber über das „wie“, wie man das ändert, da finden Sie wenig.
Redaktion: Mangelt es also an praktischem Wissen?
Hermannsdorfer: Das ist genau der Knackpunkt. Die große Frage ist: Wie setzt man die Theorie in die Praxis um? Dazu braucht es eben erstens Praxiswissen und zweitens Firmen, die das Know how haben, die Ideen der Planungsbüros umzusetzen.
Redaktion: Welche Probleme stellen Sie im Transfer zwischen Theorie und Praxis fest?
Hermannsdorfer: Hier müssen wir unterscheiden zwischen Gewässern I. und II. Ordnung, den großen und kleinen Flüssen, und den Gewässern III. Ordnung – den Bächen und Gräben. Für die ersteren sind die Länder zuständig: Da gibt es die Wasserbehörden mit Fachpersonal. Leider haben wir in den letzten Jahrzehnten – für Bayern kann ich das mit Sicherheit sagen, in den übrigen Bundesländern mag das unterschiedlich sein – da haben wir gerade bei diesem Fachpersonal, das in der Fläche aktiv umgesetzt hat – Flussmeister, Bauaufseher, Wasserbauarbeiter – massiv eingespart. Sämtliche Flussmeister, also diejenigen Behördenvertreter mit praktischer Ausbildung, welche die Kommunen über Jahre beraten haben bis hin zur Bauaufsicht, sind alle abgeschafft, wegrationalisiert oder mit anderen Aufgaben belegt. Die Kommunen genauso wie die Gewässer hat man dabei im Regen stehen lassen.
Die durchschnittliche Gemeinde hat kein gewässerökologisches Fachpersonal. Treten Probleme an Gewässern auf, dann soll der Bauhof das erledigen. Der Bauhof hat aber alle möglichen Aufgaben – was soll er denn noch alles können? Da wird dann in der Not der nächste Baggerbetrieb angerufen und eine Ladung Steine bestellt. Und damit ist ein weiterer Uferabschnitt ökologisch kaputt. Sie bringen die Steine nie mehr raus.
Aber an wen soll sich die Kommune denn wenden? Wenn Sie ein Wohnhaus errichten, dann gibt es einen Architekten, der macht den Plan und dann wissen Sie genau, den Rohbau erstellt die Baufirma, den Dachstuhl die Zimmerei und die Heizung die Installationsfirma. Aber welche Firma ist spezialisiert auf Gewässerrenaturierung, Ingenieurbiologie und naturnahen Uferschutz? Die gibt es nicht, mit vielleicht einigen ganz wenigen Ausnahmen, die mir nicht bekannt sind.
Redaktion: Welche Firmen kämen denn dafür in Frage/welchen Weg sehen sie?
Hermannsdorfer: Prädestiniert für diese Arbeiten wären natürlich die Landschaftsbaubetriebe und Forstbetriebe, aber die brauchen hierfür natürlich Zusatzkurse. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich einen Park anlege oder am Gewässer arbeite. Es ist ein Spezialwissen erforderlich.
Redaktion: Dieses Spezialwissen ist ja bereits vorhanden. Wieso schwindet es denn immer weiter?
Hermannsdorfer: Das war vorhanden bis in die 90er Jahre hinein– da waren die Flussmeister und Wasserbauarbeiter noch da, die dieses Praxiswissen und die entsprechende Erfahrung hatten und Ingenieurbiologie beherrschten, einfach aufgrund der Tatsache, dass man sich früher nicht anders zu helfen wusste. Man hat die Ingenieurbiologie nicht zur Renaturierung, sondern zur Regulierung, zur Begradigung und zum Uferschutz erfunden. Aber in den 60er Jahren, mit der Entwicklung des Hydraulikbaggers, waren diese Methoden nicht mehr rationell. Deswegen geriet dieses Wissen in Vergessenheit. Der Wasserbaustein ersetzte die Weidenfaschinen.
Redaktion: Sie gehören zu den Menschen, die dieses Wissen wieder ausgegraben haben Welche Lösungen sehen Sie, um es wieder in den Köpfen zu verankern?
Hermannsdorfer: Erstens Praxisschulungen, zweitens Praxisschulungen und drittens Praxisschulungen. Das alte Wissen stirbt mit den alten Flussmeistern und Wasserbauarbeitern aus. Deshalb habe ich das alles in einem Buch zusammengefasst, manche Techniken vereinfacht und damit auch wirtschaftlicher gemacht, neue Methoden ergänzt, die ich zusammen mit Kollegen oder auch selbst entwickelt habe, beispielsweise für Struktureinbauten nach der Wasserrahmenrichtlinie.
Um das in die Praxis zu bringen, sind jetzt Schulungen erforderlich, und das müssen Praxisschulungen sein. Die dürfen nicht mit Theorie überlastet werden. Ingenieurbiologie, Struktureinbauten mit Totholz, praktische Renaturierung generell, das ist ein Handwerk, das kann man nur in der Praxis erlernen. Wer die Grundtechniken einmal erlernt hat, kann diese Techniken und Methoden angepasst an die jeweilige Situation variieren und weiterzuentwickeln.
Die Schulungen betreffen aber auch die Landschaftsarchitekten und Planer in den Planungsbüros und in den Fachbehörden. Wer sich diese praktischen Erfahrungen angeeignet hat, der kann auch besser und praxisnäher planen und die Kommunen entsprechend praxisorientiert beraten.
Leider gibt es sehr wenige Hochschulen, die das Fach Ingenieurbiologie mit Praxiskursen anbieten. In Weihenstephan war ich jahrelang Lehrbeauftragter bei Prof. Frieder Luz. Meine Erfahrung war immer die gleiche: erst bei der Arbeit am Bach, mit der Wathose im Wasser kam den Studenten die Erleuchtung, was Ingenieurbiologie bedeutet. Die Vorlesung kann erst fruchten, wenn die praktische Übung dazukommt. Dazu brauchen wir natürlich einen Bachabschnitt. Deshalb kann ein solcher Praxisunterricht nur in Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Fachbehörde und Kommune funktionieren.
Für Firmen gibt es nach meinen Recherchen aktuell keine Fortbildungskurse. Die GaLaBau-Betriebe werden aber auch erst in Schulungen investieren, wenn die entsprechende Nachfrage gegeben ist. Und das ist derzeit nicht der Fall.
Redaktion: Wie lässt sich dieses Henne-Ei-Problem denn lösen?
Hermannsdorfer: Zuerst einmal muss das alte Wissen und die Erfahrung gerettet werden, bevor es pensioniert und verrentet wird. Dazu müssen die Wasserbehörden ihr eigenes Personal, insbesondere die Landschaftspfleger und Flussmeister, schulen und zwar mit ihren eigenen, leider sehr wenigen noch verbliebenen Spezialisten, die dieses Praxiswissen beherrschen. Damit wäre das Wissen schon mal breiter gestreut. Das wären dann die Multiplikatoren, die dieses Wissen weiter an Hochschulen und Universitäten tragen könnten. Parallel sollten wir erste Kurse für Galabaubetriebe anbieten und zwar direkt am Objekt, weil es dort zu einem Auftrag kommt und Firmen nur interessiert sind, wenn es zu Aufträgen kommt. Die Nachfrage der Kommunen wird steigen, sobald sie feststellen, dass es sich hier um praxisnahe Maßnahmen handelt, die auch wirtschaftlich sind und oftmals kostengünstiger als die Bagger- Stein- Methode und damit wird auch das Interesse der Firmen an Schulungen steigen.
Redaktion: Jetzt mal in die Praxis geschaut: Wie können wir uns die perfekte Renaturierung vorstellen?
Hermannsdorfer: Das gibt’s natürlich nicht, weil die Gewässer und das Umfeld unterschiedlich sind. In einem beengten Siedlungsraum planen wir anders und intensiver als in einem unbebauten Gebiet.
Für die großen Flüsse besteht die Optimalplanung in der Förderung der Eigendynamik, das heißt Uferversteinung entfernen, flussdynamische Prozesse zulassen, beobachten und nur bei Bedarf eingreifen. Dafür bieten sich in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland natürlich nur sehr wenige Abschnitte an, aber die sollte man unbedingt ausschöpfen, weil die Natur es einfach besser und auch kostengünstiger als wir kann.
Wenn wir an die Gewässer III. Ordnung denken würde ich sagen, dass Zurückhaltung angesagt ist. Ein Beispiel: Wenn eine Kommune sich durchgerungen, hat einen Gewässerabschnitt zu renaturieren und dafür ein Grundstück erwerben konnte, dann spielt für den meist sehr kurzen Abschnitt von wenigen 100 m das Geld erstmal nicht die Rolle. Die große Gefahr besteht darin, dass die Planer auf diesem kurzen Abschnitt die ganze Palette des Möglichen versuchen, wie Mäander anlegen oder gleich eine komplette Bachverlegung mit hohem Materialtransport und aufwändige Bepflanzungen mit viel zu großen und teuren Gehölzen, die wiederum eine teure Unterhaltungspflege nach sich ziehen. Am Ende findet eine Einweihungsfeier statt und alles scheint gut. Wenn dann aber der „Arbeitskreis Wasser“ einen weiteren Antrag auf Renaturierung die Kommune heranträgt, dann werden die Gemeinderäte voraussichtlich ablehnen, weil noch viele andere Probleme im Dorf anstehen, die gelöst werden müssen.
Fazit: Wir brauchen bedarfsgerechte, kostengünstige Planungen und noch mehr kostengünstige Unterhaltungsmaßnahmen ohne aufwändige Wasserrechtsgenehmigungen, wenn wir in der Fläche punkten wollen.
„Viel und teuer “ muss auch nicht unbedingt ökologisch besser sein -im Einzelfall kann das „Viel“ auch schaden. Nach wie vor halten sich folgende Fehlmeinungen: Um ein Gewässer zu renaturieren müsse man die Ufer abflachen, das Gewässerbett verbreitern und Mäander anlegen. Mit dieser pauschalen Herangehensweise kann man neben hohen Kosten auch ökologischen Schäden erzeugen. Wenn ich zum Beispiel einen 30 cm tiefen Quellbach, der mit Hochstauden eingewachsen ist, betrachte: Da befinden sich unter den Röhrichtsoden Unterstände, die beschattet und kühl sind, in denen auch Fische und Wasserinsekten leben können. Wenn ich den jetzt aufweite, dann ist der nur noch 5 cm tief und ohne Unterstände. Die Sonne prallt voll drauf und der Bach überhitzt.
Redaktion: Wenn es die perfekte Renaturierung nicht gibt, haben Sie dann vielleicht allgemeine Tipps, an denen sich Planende orientieren können?
Hermannsdorfer: Es gibt ein übergeordnetes Ziel, an dem alle Landschaftsplaner, Ökologen, Behörden, Fischerei- und Naturschutzvereine gemeinsam arbeiten sollten: Für die Gewässer der Ordnung 3 brauchen wir eine durchgehende Gewässeraue, einen Gewässerrandstreifen bestehend aus Gehölzen, Röhricht, Hochstauden. Der ist grundsätzlich sogar im Wasserhaushaltsgesetz (WHG § 38 und § 39)verankert! Optimal wären beiderseits 10 m, da hätten wir auch mit dem Biber kein Problem. Wir hätten Beschattung, wir hätten Sohl- und Uferschutz durch die Wurzeln, wir hätten Unterstände, Kehrwasser, alles was so ein Gewässer braucht und am Gehölzrand einen Saum aus Wildblumen und Kräutern. Dazu brauchen wir keine teuren Mäander anlegen, durch das intensive Wurzelwerk entstehen auf kleinstem Raum unterschiedliche Strömungen und zahlreiche Kleinstrukturen, die enorm entscheidend sind für die Biodiversität im Gewässer.
Leider gibt es im WHG §38 den Absatz 4 Nummer 3, der die frommen Vorgaben aus § 39 (Erhaltung und Neuanpflanzung einer standortgerechten Ufervegetation) und § 38 (Gewässerrandstreifen zur Erhaltung und Verbesserung der ökologischen Vegetation) wieder aushebelt: „Der Umfang mit wassergefährdenden Stoffen ist verboten. Ausgenommen ist die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln.“ Damit ist natürlich klar – hier soll kein natürlicher Ufergehölzsaum entstehen, sondern die landwirtschaftliche Nutzung bis ans Ufer beibehalten werden. Diesen Trojaner hat wohl die Agrarlobby geschickt eingeschleust. Dabei hätten die Landwirte mit Ufergehölzen keinen Nachteil. Der Uferbewuchs könnte genauso gefördert werden, wie die landwirtschaftliche Nutzung und er könnte auch als nachwachsender Rohstoff genutzt werden. Ein Hektar natürlicher Uferwald produziert in 10 Jahren 10 t Holzmasse. Mit 45. 000 km Uferstreifen (insgesamt 20 m Breite) – das sind 50% der bayerischen Gewässer III. Ordnung können wir 24.000 Einfamilienhäuser heizen – und zwar dezentral.
Aber wenn wir es schaffen würden, diese Uferstreifen zu etablieren, hätten wir das größte zusammenhängenden Biotopverbundnetz überhaupt. Wir hätten Lebens-, Nahrungsraum und Wanderachsen für Säugetiere und Insekten gleichermaßen und außerdem Fläche, um Energieholz zu gewinnen!
Redaktion: Ist es überhaupt möglich, Gewässer in Mitteleuropa vollständig zu renaturieren?
Hermannsdorfer: Deutschland steht auf Grund seiner Besiedelungs- und Industriedichte ziemlich am Ende der Skala, verglichen mit anderen Ländern wie Frankreich und vor allem den osteuropäischen Staaten, wie zum Beispiel Rumänien. In den osteuropäischen Staaten wird allerding enormer Druck auf natürliche Gewässer ausgeübt. Es scheint so, als wolle man in kürzester Zeit alle Fehler, die wir gemacht haben, nachholen.
Deshalb gilt für Deutschland und Europa als erste prioritäre Maßnahme, die Gewässer, die wir noch haben, die Reststrecken, die noch in natürlichem Zustand sind, zu erhalten. In Bayern zum Beispiel haben wir als Gewässer I. Ordnung die Salzach. Sie ist zwar beiderseits abschnittsweise versteint, wird aber nicht für die Wasserkraft genutzt und hat damit das Potenzial für einen absolut natürlichen Fluss. Aktuell sind die Behörden auf österreichischer wie auf bayerischer Seite daran, sie zu renaturieren. Da müssen wir weitermachen und dürfen jetzt nicht wegen der aktuellen Energiekrise kopfscheu werden und uns an jeden Strohhalm klammern. Wenn wir jetzt die Planungen ändern und auch den letzten natürlichen Fluss mit Wasserkraft belegen, weil wir den Umstieg von den fossilen Energieträgern auf Sonnen- und Windkraft wissentlich um 20 Jahre verzögert haben, dann verlieren wir jede Berechtigung von anderen Ländern den Erhalt von Naturlandschaften einzufordern.
Gewässerabschnitte von regulierten, verbauten Gewässern zu renaturieren ist ein weiterer Schritt, der in Deutschland auf Grund der Zwangspunkte durch dichte Bebauung- und Besiedelungsdichte vor allem an den Gewässern I. Ordnung nur abschnittsweise möglich ist. Deshalb sind ja naturnahe Struktureinbauten aus Totholz so wichtig, um in begradigten, regulierten Gewässern die Strukturen für Fische und Gewässerorganismen wenigstens zu verbessern.
Vollständige Renaturierungen an Flüssen auf gesamter Länge sehe ich in Deutschland erst, wenn wir den Umstieg auf erneuerbare Energien bewältigt haben. Vielleicht sind wir da eines Tages so weit, dass wir an einzelnen Gewässern auf die Wasserkraft verzichten können. Aktuell nicht.
Redaktion: Es liegt also noch viel Arbeit vor uns. Herr Hermannsdorfer, vielen Dank für das Gespräch!
Georg Hermannsdorfer ist Dipl.-Ing. (FH) Landespflege. Er leitete über 30 Jahre lang das Sachgebiet Gewässerpflege am Wasserwirtschaftsamt Traunstein und war bis 2019 Lehrbeauftragter an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Seine Schwerpunkte sind Gewässerrenaturierung, Ingenieurbiologie und Umweltbildung. Dazu hat er das Buch „Renaturierung von Fließgewässern“ veröffentlicht.
Buchtipp: