Von „naturnah“ weit entfernt – Hemerobie der Wälder in Deutschland
Hier stellen wir Ihnen die Vollversion des Beitrags von Norbert Panek zur Verfügung Die gekürzte Version ist erschienen in NuL 9/21.
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Der Klimawandel trifft in Deutschland auf einen stark geschwächten, instabilen Wald, der keine guten Voraussetzungen für seine „Genesung“ schafft. Mehr als drei Viertel der deutschen Waldfläche befinden sich in einem besorgniserregenden, naturfernen Zustand. Dies ist das Ergebnis einer Kurzstudie, in der der Grad der Kultureinflüsse auf den Wald erstmalig in einer Übersichtsanalyse näher untersucht wurde.
Der Grad der kulturbedingten Nutzungseinflüsse auf Ökosysteme wird auch als Hemerobie bezeichnet (griech. hemeros = kultiviert, gezähmt). Ausgangsgröße bei der Bemessung des Hemerobiegrades von Wäldern ist der „ahemerobe“ Zustand eines völlig unbeeinflussten Urwaldes. Bestimmte Wald-Merkmale wie zum Beispiel die Baumartenzusammensetzung und strukturelle Veränderungen, die auf eine Waldnutzung zurückzuführen sind, lassen Rückschlüsse auf den Grad der Abweichung vom natürlichen Ausgangszustand zu. Daraus abgeleitet können mindestens neun Hemerobiestufen definiert werden (siehe Tab. 1).
Erstmals wurden in Österreich für ein ganzes Land die Hemerobiestufen speziell von Wäldern über ein Stichprobennetz erfasst (Koch & Grabherr 1998). Für die Einstufung wurden 11 Kriterien definiert, wobei der „Naturnähe“ der Baumartenkombination sowie der Bodenvegetation hohe Gewichtungen beigemessen wurde. Von den 3,9 Mio. ha großen Wäldern Österreichs sind im Gesamtergebnis nur 3 % „natürlich“, weitere 22 % „naturnah“, 41 % „mäßig verändert“, 27 % „stark verändert“ und 7 % „künstlich“.
Für Deutschland fehlt immer noch eine derart aussagekräftige Erhebung. Sie könnte beispielsweise mit den alle zehn Jahre stattfindenden Stichproben-Erhebungen zur Bundeswaldinventur gekoppelt werden. Von Walz & Stein (2014) wurde zwar für alle Nutzungstypen eine „Karte der Hemerobie Deutschlands“ veröffentlicht, die allerdings die Wälder in einer sehr groben Hemerobie-Abstufung darstellt. Darin sind alle Wälder mit annähernd PNV-identischer Vegetation (also alle naturnahen Laub-, Nadel- und Mischwälder) als „oligohemerob“, alle nicht PNV-identischen Wälder (Nadel-/ Mischwälder) als „mesohemerob“ klassifiziert. Nach einer Einschätzung des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung (siehe Jedicke 2003) sind die Wälder in Deutschland je nach Zustand mindestens in die ersten fünf Hemerobiestufen (H1 bis H5) einzuordnen (siehe Tab. 1). Damit gehören Wälder im Vergleich zum agrarisch geprägten Offenland noch zu den naturnächsten Land-Ökosystemen, auch wenn sie durch Bewirtschaftungsmaßnahmen zum Teil stark beeinflusst werden.
Tab. 1: Skala zur Bestimmung der Hemerobie mit Beispielen, nach: Jedicke 2003 in Leibnitz-Institut für Länderkunde (Hrsg.), verändert.
Skala |
Hemerobiestufe |
Grad des Kultureinflusses |
Beispiele/ Wälder (Definitionen) |
H0 |
ahemerob |
kein Einfluss |
Primärwälder (Urwälder) |
H1 |
oligohemerob |
schwacher Einfluss |
Kaum beeinflusste Primärwälder inkl. natürliche Regenerations-stadien |
H2 |
oligo- bis meso-hemerob |
schwacher bis mäßiger Einfluss |
Wälder mit geringem Holz-einschlag, alte Sekundärwälder |
H3 |
mesohemerob |
mäßiger Einfluss |
Wirtschaftswälder, weit entwickelte Tertiärwälder |
H4 |
meso- bis beta-euhemerob |
mäßiger bis starker Einfluss |
Wirtschaftsforsten, junge sekundäre und tertiäre Wälder |
H5 |
beta-euhemerob |
starker Einfluss |
Jüngere Aufforstungen |
H6 |
beta- bis alpha-euhemerob |
starker bis sehr starker Einfluss |
Traditionell bewirtschaftete Äcker, Trittrasen |
H7 |
alpha-euhemerob |
sehr starker Einfluss |
Konventionell bewirtschaftete Äcker, Weinbaukulturen |
H8 |
alpha-eu- bis polyhemerob |
sehr starker Einfluss bis künstlich |
Maisäcker, Kurzumtriebsplantagen |
H9 |
polyhemerob |
künstlich |
Müllplätze, Halden, Bahngelände |
--- |
metahemerob |
-------------------------------- |
Versiegelte Flächen |
Bewertungsmerkmale
Bestimmte Waldzustände mit bestimmten Merkmalskombinationen, die einer Hemerobiestufe zugeordnet werden können (siehe Tab. 1) lassen sich mit Hilfe der Daten der Bundeswaldinventur (BWI) ohne größeren Aufwand quantitativ erfassen. Die jeweils über die BWI-Datenbank (https://bwi.info/) zu erfassenden Merkmale lassen sich wie folgt neu definieren:
Oligo- bis mesohemerobe Wälder:
- Wälder mit geringem (oder ohne) Holzeinschlag = Wälder mit Nutzungseinschränkungen (nutzungsfreien Nationalpark-Kernzonen, Naturwaldreservate, sogenannte NWE-Flächen).
- alte Sekundärwälder = alle Laubwälder älter als 160 Jahre.
Mesohemerobe Wälder:
- Wirtschaftswälder = alle laubholz-dominierte Wälder, 80- bis 160-jährig (mit hohem Holzeinschlag, vorwiegend naturverjüngt, in der Regel zweischichtig).
- Weit entwickelte tertiäre Wälder = alle nadelholz-dominierten Wälder älter als 140 Jahre.
Meso- bis euhemerobe Wälder:
- Wirtschaftsforsten = alle nadelholz-dominierten Wälder, 80- bis 140-jährig (intensiv genutzt, vorwiegend künstlich verjüngt, ein- oder zweischichtig).
- Junge tertiäre und sekundäre Wälder = alle nadelholz-dominierten Wälder im Alter zwischen 40 und 80 Jahre (in der Regel aus Aufforstungen hervorgegangen); alle laubholz-dominierten Wälder im Alter zwischen 0 und 80 Jahre (in der Regel naturverjüngt).
Euhemerobe Wälder:
- Jüngere Aufforstungen = alle nadelholz-dominierten Wälder in den Altersklassen 0 bis 40 Jahre.
Einigkeit dürfte darin bestehen, dass vollkommen unbeeinflusste Urwälder in Deutschland nicht mehr existent sind. Gleichwohl kommen in angelegenen Gebirgslagen noch kleinflächig Primärwald-Relikte wie zum Beispiel im Harz, im nordhessischen Edersee-Gebiet, im Bayerischen Wald und am Alpennordrand vor. Solche Relikte können der Hemerobiestufe H1 zugeordnet werden und umfassen nach eigenen Erhebungen bundesweit nicht mehr als 650 ha (Panek 2011). Hinzuzurechnen wären noch alte Wälder in Reservaten, in denen seit mindestens rund 100 Jahren keine Holznutzung mehr stattgefunden hat. Derartige Reservate mit sehr naturnahen, primärwaldähnlichen Strukturen umfassen bundesweit noch rund 2.260 ha (Panek 2011).
Bei den „Wäldern mit geringem Holzeinschlag“ (H2) wurden neben den „alten“ Laubwäldern (laut BWI rund 270.155 ha) auch die dauerhaft nutzungsfreien Flächen mit natürlicher Waldentwicklung (sogenannte NWE-Flächen) einbezogen, die aktuell etwa 324.000 ha umfassen (siehe auch Wildmann et al. 2014).
Ergebnisse
Auf der Grundlage der definierten Wald-Merkmale und unter Hinzuziehung der Flächendaten der Bundeswaldinventur wurden die Flächenanteile der einzelnen Hemerobiestufen für den deutschen Wald rechnerisch ermittelt. Die Ergebnisse sind in Tab. 2 zusammenfassend dargestellt.
Tab. 2: Flächenanteile der Hemerobiestufen H0 bis H5 im deutschen Wald (Holzboden). Datenquelle: https://bwi.info/
Skala |
Hemerobiestufe |
Flächenanteil (ha) |
Flächenanteil (%) |
Definitionen |
H0 |
kein Einfluss (natürlich) |
0 |
0,0 |
Primärwälder (Urwälder) |
H1 |
schwach (natürlich bis naturnah) |
2.910 |
<1 |
Kaum beeinflusste Primär-wald-Relikte, alte Wald-reservate |
H2 |
schwach bis mäßig (naturnah) |
594.155 |
5,4 |
Wälder mit „geringem“ Holzeinschlag (NWE + alte Laubwälder >160-jährig) |
H3 |
mäßig (bedingt naturnah) |
1.925.086 |
17,6 |
Wirtschaftswälder (Laubholz) 80 – 160-jährig, Nadelholz-Altwälder >140-jährig |
H4 |
mäßig bis stark (bedingt natur-fern) |
7.024.414 |
64,1 |
Nadelholz-Forsten 40 – 140-jährig, Laubholz-bestände <80-jährig |
H5 |
Stark (naturfern) |
1.407.961 |
12,8 |
Jüngere Nadelholz-Aufforstungen <40-jährig |
Die Auswertung zeigt eindrücklich, wie weit sich der deutsche Wald von seinem Naturzustand bereits entfernt hat. Danach sind 77 % der Wälder in Deutschland durch menschliche Eingriffe überwiegend stark beeinflusst (H4 + H5), während nur gut 5 % der Waldbestände als relativ „schwach“ beeinflusst gelten können (H1 + H2). Das Ergebnis spiegelt eine grobe Einschätzung wider, aber überrascht sicherlich nicht angesichts der immer noch zu hohen, naturfernen Nadelholz-Anteile im deutschen Wald. Bei den „alten Laubwäldern“ blieb der Zustand der in der Regel stark aufgelichteten Schirmschlag-Buchenbestände unberücksichtigt. Junge Laubholzbestände sind häufig als (bedingt) naturferne Altersklassen-Reinbestände ausgeprägt. In der Bewertung unberücksichtigt blieben außerdem auch Waldbodenveränderungen, die sich in einer teilweise stark beeinträchtigten Bodenvegetation durch vermehrtes Auftreten von Neophyten und/ oder sogenannten Störungs- und Eutrophierungszeigern äußern. Das Ausmaß der „Ruderalisierung“ der Wälder durch walduntypische Arten veranschaulicht eine Untersuchung im Rahmen der Bodenzustandserhebung II in den Ländern Hessen und Niedersachsen (Meyer & Schmidt 2008), wo bereits rund 80 % der dort untersuchten Buchenwälder mittlerer Standorte durch das Auftreten von Störungszeigern und Offenlandarten in der Bodenvegetation gekennzeichnet sind, oft verursacht durch forstliche Eingriffe (Bodenverwundungen, Kompensationskalkungen, Lichtungs- und Räumungshiebe etc.). Eine genauere Erfassung dieser Einflussfaktoren dürfte das Gesamtergebnis in der Summe noch stärker in Richtung Hemerobiestufe H5 verschieben.
Schlussfolgerungen
Mit der durchgeführten Erhebung wurde der Versuch unternommen, eine differenzierte Aussage über den Grad der Hemerobie (Kultureinflüsse) für die deutschen Wälder zu treffen. Die Ergebnisse dieser Übersichtsanalyse zeigen klar, dass sich die Wälder in Deutschland auf einem gravierend hohen Teil ihrer Fläche in einem überwiegend stark beeinflussten, naturfernen Zustand befinden, für den allein die deutsche Forstwirtschaft Verantwortung trägt. Dieser Zustand ist durch eine mehr oder weniger fehlende „ökologische Elastizität bzw. Plastizität“ der Forst-Ökosysteme charakterisiert, d. h. die Forstbestände sind vor allem bei wechselnden Umweltbedingungen extrem instabil und nur wenig anpassungsfähig. Dies ist vor dem Hintergrund des schnell fortschreitenden Klimawandels insofern besorgniserregend, weil damit die aktuelle Ausgangslage extrem ungünstige Voraussetzungen für die Entwicklung naturnaher, klimaplastischer Wälder bietet. Das hohe Schadensrisiko naturferner Forstbestände verdeutlichen die aktuellen Zahlen zu den in den letzten drei Jahren entstandenen Kalamitätsflächen - fast 300.000 ha nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Durch großflächige, staatlich subventionierte Schadholzräumungen wird die Ausgangslage weiter extrem verschlechtert. Nach Berechnungen des Thünen-Instituts für Waldökosysteme (Bolte 2021) sind die Fichtenbestände auf einer Risikofläche von 2,28 Mio. ha, also auf etwa zwei Drittel des Gesamtbestands, zukünftig weiter durch Trockenstress und Schädlingsdruck akut bedroht. Durch forstliche Maßnahmen stark ausgedünnte und aufgelichtete Baumbestände tragen auch im Laubholz mit dazu bei, dass die Wasserspeicherfähigkeit unserer Wälder weiter abnimmt und Waldböden infolge fehlender Beschattung weiter austrocknen.
Eine der größten Herausforderungen wird letztlich sein, angesichts der dramatischen Klimaveränderungen einen Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft möglichst schnell einzuleiten – weg von der derzeit priorisierten, intensiven Holzproduktion hin zu einem ökologisch orientierten Waldmanagement, das sich vorrangig um die Bewahrung der Funktionstüchtigkeit unserer Waldökosysteme kümmert.
Literatur
Bolte, A. (2021): Zukunftsaufgabe Waldanpassung, AFZ-Der Wald 76 (4): 12 – 16.
Jedicke, E. (2003): Natur oder Kunstnatur – Naturnähe und Hemerobie, in: Leibniz-Institut für Länderkunde (Hrsg.) / Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Klima, Pflanzen- und Tierwelt: 28 – 29.
Koch, G., Grabherr, G. (1998): Wie natürlich ist der Wald in Österreich? Klassifikation nach Hemerobiestufen, Ber. d. Reinh.-Tüxen-Gesellschaft 10: 43 – 59.
Meyer, P., Schmidt, M. (2008): Aspekte der Biodiversität von Buchenwäldern – Konsequenzen für eine naturnahe Bewirtschaftung, Beiträge aus der NW-FVA – Band 3: 159 – 192.
Panek, N. (2011): Deutschlands internationaler Verantwortung: Rotbuchenwälder im Verbund schützen, Gutachten im Auftrag von Greenpeace e. V., Hamburg.
Walz, U., Stein, C. (2014): Indicators of hemeroby for the monitoring of landscapes in Germany, Journal for Natural Conservation 22: 279 – 289.
Wildmann, S., Engel, F., Mayer, P., Spellmann, H., Schultze, J., Gärtner, S., Reif, A., Bauhus, J. (2014): Wälder mit natürlicher Entwicklung in Deutschland, AFZ-Der Wald 69 (2): 28 – 30.
Kontakt
Dipl.-Ing. (Landespflege) Norbert Panek
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