Ein nationales Biodiversitäts-Assessment
von Nina Farwig, Josef Settele, Helge Bruelheide, Jori Marx, Anja Schmidt, Theresa Spatz, Maria Sporbert, Lea von Sivers, Christian Wirth
Der globale Biodiversitätsverlust schreitet trotz vielfältiger internationaler, europäischer und nationaler Bemühungen voran und ist eine zentrale globale und nationale Herausforderung (IPBES 2019b). Ein prägnantes Beispiel für den Biodiversitätsverlust ist der starke Rückgang der Brutvogelvorkommen Europas in den letzten Jahrzehnten (Inger et al. 2015). Besonders die Agrarvögel sind von dieser rückläufigen Entwicklung betroffen, welche vornehmlich der landwirtschaftlichen Intensivierung geschuldet ist (Gerlach et al. 2019; Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina et al. 2020). Insgesamt ließ sich in Deutschland über die letzten 150-200 Jahre ein Rückgang der Artenvielfalt an Schmetterlingen um 30-40 % verzeichnen (Habel et al. 2016). Seit den 1960er Jahren hat die Vorkommenswahrscheinlichkeit von Gefäßpflanzen um 30% abgenommen (Eichenberg et al. 2021). Aber erst der alarmierende Insektenrückgang in Deutschland, mit 50-75 % Verlust an Biomasse (Hallmann et al. 2017; Seibold et al. 2019) hat die Brisanz der Biodiversitätskrise und ihre Verzahnung mit dem Klimawandel in den politischen Fokus gerückt (Settele 2020; WBGU 2020).
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Biodiversitätsschutz ist inzwischen ein zentrales Thema auf der politischen Agenda (Perino et al. 2021) mit soliden Finanzierungsoptionen (z. B. EU Green Deal; private Investments etc.). Gerade in der Dekade der Renaturierung stehen Maßnahmen zur Wiederherstellung bzw. dem Wiederaufbau von Ökosystemen und der Artenvielfalt an. Dabei unterliegen die Maßnahmen und Projekte zum Schutz und zur Förderung der Biodiversität immer Abwägungen von Interessen, Gütern und gesellschaftlichen Prozessen. Um die wesentlichen Stellschrauben für einen effektiven Biodiversitätsschutz zu benennen und Projekte schnell umzusetzen und zu evaluieren, ist es unabdingbar, die existierende Wissensbasis systematisch zu synthetisieren. Wissen zu globalen bzw. europaweiten Biodiversitätsverlusten (IPBES 2019a) kann aufgrund von regionalen und kontextabhängigen Gegebenheiten, wie etwa dem Naturraum, der Nutzungsgeschichte, der rechtlichen Situation, der kulturellen Bindung oder der Verantwortung für den Erhalt von ausgewählten Arten, nicht einfach auf Deutschland übertragen werden. Es ist daher essenziell, die national verfügbaren Daten und Informationen und solche, die auf Deutschland übertragen werden können, im Rahmen einer Synthese, insbesondere auch für die Anwendung, zusammenzuführen (Eichenberg et al. 2020).
Bei der Beschreibung und Analyse der aktuellen Situation in Deutschland sowie der Erfolgskontrolle und Planung von Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität müssen die wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre berücksichtigt werden. Hier sind vor allem bedeutende Erfolge in den Bereichen Digitalisierung, Sensorik, Bürgerwissenschaften und Molekularbiologie zu nennen. Zudem ist es essenziell, die Lücken zwischen Grundlagenforschung und Anwendung zu schließen, etwa die mangelnde Nutzung von Informationen zu Biodiversitätstrends und deren ökosystemare Konsequenzen in Abwägungsprozessen. Außerdem ist es notwendig, die Umsetzungsdefizite zu beheben, welche trotz der Vielzahl existierender Naturschutzinstrumenten und Zielsetzungen (Nationale Biodiversitätsstrategie, EU Green Deal, Aktionsprogramm Insektenschutz etc.) bestehen. Zudem ist es elementar, den Biodiversitätsschutz im Kontext des sich beschleunigenden Klimawandels (Trockenschäden, Feuer, etc.) und der Globalisierung zu beleuchten (invasive Arten; Ausfall autochthoner Arten durch eingeschleppte Pathogene etc.), um Maßnahmen und Optionen zur Renaturierung dynamisch anzupassen – gerade da wissenschaftliche Erkenntnisse der Vergangenheit unter diesen neuen Randbedingungen mit Unsicherheiten behaftet sind.
Ziel des Faktenchecks Artenvielfalt ist daher die Erstellung eines auf Deutschland angepassten Biodiversitäts-Assessments. Er wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) finanziert. Der Faktencheck soll die Grundlage bilden, um bestehende politische Instrumente und naturschutzfachliche Maßnahmen zum Erhalt und zur Erhöhung der Biodiversität zu evaluieren, wirkungsmächtiger zu gestalten oder neue Maßnahmen zu entwickeln. Zudem gilt es die Bedingungen herauszuarbeiten, die eine „Gesellschaftliche Transformation“ ermöglichen. Hierbei handelt sich es um einen dynamischen und substanziellen gesellschaftlichen Wandlungsprozess, welcher positive Wirkungen im Sinne international vereinbarter Biodiversitäts-Ziele vor Augen hat und unter dem die gesellschaftliche Bereitschaft wächst, in den Biodiversitätsschutz zu investieren. Dabei sind ökonomische, rechtliche und kulturelle Instrumente und Rahmenbedingungen relevant, welche wiederum regional und kontextabhängig berücksichtigt werden müssen. Daher synthetisiert der Faktencheck präzise und unter Verwendung aktuell verfügbarer und valider Informationen (einschließlich der sonst häufig ignorierten grauen Literatur) den Wissensstand und die Wissensdefizite für Deutschlands Hauptlebensräume, inklusive des Bodens, sowie gezielt ausgewählter Themenbereiche. Zunächst werden der Zustand und die Trends der biologischen Vielfalt in ihren verschiedenen Facetten regional aufgeschlüsselt dargestellt. Für Änderungen in der biologischen Vielfalt werden die Einflüsse verschiedenster direkter Treiber wie etwa einer Veränderung in der Nutzung von Lebensräumen, der Verschmutzung oder des Klimawandels, gegenübergestellt, und es wird analysiert, welche Konsequenzen sich aus Biodiversitätsänderungen für Ökosystemfunktionen und -leistungen ergeben. In diesem Kontext wird ein spezieller Fokus auf die Wirksamkeit und Effizienz von Maßnahmen zum Erhalt und zur Förderung der Biodiversität gelegt sowie auf den Einfluss von Rahmenbedingungen (indirekte Treiber: Ökonomie, Recht und Gesellschaft) für Änderungen der Biodiversität. Schließlich sollen Optionen und Instrumente für Politikänderungen sowie eine weiter reichende gesellschaftliche Transformation hin zu einer nachhaltigen und biodiversitätsfördernden Wirtschafts- und Lebensweise abgeleitet/erarbeitet werden.
Hinter dem Faktencheck stehen 129 Autorinnen und Autoren (44% davon weiblich) in 8 Kapitelgruppen aus 72 Institutionen in ganz Deutschland, darunter bislang 29 Universitäten, 25 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, 9 Behörden und 9 Verbände (Abb. 1). Der Faktencheck wird einem mehrstufigen Review-Verfahren unterliegen, das sowohl Expertinnen und Experten, Praktikerinnen und Praktiker als auch Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger involviert, um so eine Teilhabe und Akzeptanz bis hin zu den Akteurinnen und Akteuren zu schaffen. Bestandteile sind zudem die transparente Beschreibung des Schreibprozesses sowie die Bereitstellung der zugrundeliegenden Quellen in einer annotierten Datenbank. Der Faktencheck soll eine Detailtiefe aufweisen, die konkrete Wissensdefizite sichtbar macht und gleichzeitig passendes Handlungswissen für die Entwicklung von Maßnahmen und Instrumenten zur Förderung der Biodiversität liefert und folglich in Behörden, Verbänden und Wirtschaft als Standardwerk Verwendung findet. Trotz der Vielzahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dem Umfang der bislang schon ausgewerteten Literatur, freuen wir uns jederzeit sehr über Informationen zu vielleicht bislang weniger beachteten Aspekten der Biodiversität und erfolgreichen Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland.
Autorinnen und Autoren
129 Autorinnen und Autoren aus Universitäten, Forschungseinrichtungen, Behörden und Verbänden bringen ihre Kompetenzen in den Faktencheck ein. Die Kapitelgruppen werden von koordinierenden Leitautorinnen und Autoren geleitet (mit * markiert). Beteiligte Autorinnen und Autoren in alphabetischer Reihenfolge: Albert, C.; Ammer, C.; Babin, D.; Bartkowski, B.; Bartz, R.; Bieling, C.*; Bleidorn, C.; Bo¨hning-Gaese, K.*; Braunisch, V.; Breitkreuz, L.; Bruelheide, H.*; Brunzel, S.; Burkhard, B.; Buschbaum, C.; Dutz J.; Ehlert, T.; Eisenhauer, N.*; Engel, A.; Englmeier, J.; Eskildsen, K.*; Farwig, N.*; Feld, C. K.; Fischer, L.K.; Freyhof, J.*; Fürst, C.*; Georgiev, K.; Glante, F.; Gossner, M.; Grunewald, K.; Guerra, C.A.*; Haase, D.*; Haase, P.*; Hahn, H. J.; Hasenöhrl, U.; Haubrock, P. J.; Hauck, J.*; Hering, D.*; Hillebrand, H.*; Hinkel, J.; Hodapp, D.; Hohberg, K.; Höltermann, A.; Jacob, U.*; Jähnig, S.; Jansen, F.; Januschke, K.; Jürgens, K.; Karez, R.; Keil, P.*; Klauer, B.; Kleemann, J.; Klein, A.-M.*; Kleinschmit, D.; Kleyer, M.; Knapp, S.; Knauß, S.; Kolb, S.; Kolkmann, M.; Kramer-Schadt, S.; Krause, J.; Kremp, A.; Lakner, S.*; Lehmitz, R.; Lettenmaier, L.; Lieber, K.-H.; Marx, J.M.; Mascarenhas, A.; Mayer, F.; Mehring, M.; Mergner, U.*; Meya, J.; Meyer, P.; Meyer-Jürshof, M.; Müller, J.*; Mupepele, A.-C.; Muus, K.; Neumann, B.; Nguyen, H. H.; Paetow, H.*; Pahl-Wostl, C.*; Papilloud, C.; Paul, C.*; Pe’er, G.; Peters, W.; Plieninger, T.; Poßer, C.*; Quaas, M.*; Reese, M.; Riekhof, M.-C.; Rillig, M.; Ristok, C.; Römbke, J.; Rueß, L.; Sanders, T.; Scheiffarth, G.*; Scheu, S.; Schleyer, C.; Schmedtje, U.*; Schmidt, A.; Schreiner, V.; Schuldt, A.; Sell, A.; Seppelt, R.; Settele, J.*; Siebert, U.; Sommer, M.; Sommerwerk, N.; Spatz, T.; Sporbert, M.; Steinhoff-Knopp, B.; Straile, D.; Straka, T.; Strohbach, M.; Tanneberger, F.; Tebbe, C.*; Thompson, A.; Turk, Z.; von Fumetti, S.; von Oheimb, G.; von Sivers, L.; von Weber, M.; Warner, B*.; Weißbecker, C.; Wellbrock, N.; Wiltshire, K.; Winkler, H.; Wirth, C.*; Wittmer, H.; Xylander, W.*
Literaturverzeichnis
Eichenberg D., Bernhardt-Römer M. et al. (2020): Langfristige Biodiversitätsveränderungen in Deutschland erkennen - mit Hilfe der Vergangenheit in die Zukunft schauen. Natur und Landschaft 95(11): 479–491. DOI: 10.17433/11.2020.50153851.479-491
Eichenberg D., Bowler D.E. et al. (2021): Widespread decline in Central European plant diversity across six decades. Global Change Biology 27(5): 1097–1110. DOI: 10.1111/gcb.15447
Gerlach B., Dröschmeister R. et al. (2019): Vögel in Deutschland - Übersichten zur Bestandssituation Dachverband Deutscher Avifaunisten e.V. Münster: 63 S.
Habel J.C., Augenstein B. et al. (2016): Managing towards extinction: Diverging developments of plant and ground beetle assemblages following restoration of calcareous grasslands. Basic and Applied Ecology 17(8): 668–677. DOI: 10.1016/j.baae.2016.08.004
Hallmann C.A., Sorg M. et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas E. G. Lamb (Hrsg.): PLOS ONE 12(10): e0185809. DOI: 10.1371/journal.pone.0185809
Inger R., Gregory R. et al. (2015): Common European birds are declining rapidly while less abundant species’ numbers are rising J. Hill (Hrsg.): Ecology Letters 18(1): 28–36. DOI: 10.1111/ele.12387
IPBES (2019a): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services IPBES secretariat. Bonn, Germany: S.
IPBES (2019b): Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services IPBES secretariat. Bonn, Germany: S.
Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2020): Biodiversität und Management von Agrarlandschaften: umfassendes Handeln ist jetzt wichtig Halle (Saale): S.
Perino A., Pereira H.M. et al. (2021): Biodiversity post-2020: Closing the gap between global targets and national-level implementation. Conservation Letters 15(2): e12848. DOI: 10.1111/conl.12848
Seibold S., Gossner M.M. et al. (2019): Arthropod decline in grasslands and forests is associated with landscape-level drivers. Nature 574(7780): 671–674. DOI: 10.1038/s41586-019-1684-3
Settele J. (2020): Die Triple Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien: warum wir dringend handeln müssen Edel Books. Hamburg: 319 S.
WBGU (2020): Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration: Hauptgutachten Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Berlin: S.
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