Anforderungen an die FFH-Vorprüfung
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Natura-2000-Gebiete unterliegen einem weitreichenden Verschlechterungsverbot, das auch bei der Verwirklichung von Plänen und Projekten einzuhalten ist. § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG bestimmt daher, dass Projekte vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura-2000-Gebiets zu überprüfen sind, wenn sie einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen geeignet sind, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen (FFH-Verträglichkeitsprüfung). Neben Projekten im Sinne der UVP-Richtlinie (Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen sowie sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft, einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen) sind auch landwirtschaftliche Bodennutzung (einschließlich Weidehaltung und Ausbringung von Düngemitteln), Forstwirtschaft, Fischerei, Jagd, Gewässernutzungen, Unterhaltungsmaßnahmen und ähnliche Tätigkeiten vom Projektbegriff umfasst. Ausgenommen von der Prüfpflicht sind nur Maßnahmen, die „unmittelbar der Verwaltung des Gebiets dienen“. Für die in § 36 Abs. 1 BNatSchG genannten Pläne ist § 34 BNatSchG entsprechend anzuwenden.
Wie die Erforderlichkeit einer Verträglichkeitsprüfung festgestellt werden soll, ist in § 34 BNatSchG nicht geregelt. In der Praxis erfolgt diese Feststellung im Rahmen einer FFH-Vorprüfung („Screening“), welche die von einem Projekt ausgehenden Auswirkungen auf die Erhaltungsziele oder Schutzzwecke der durch das Vorhaben eventuell beeinträchtigten Natura-2000-Gebiete überschlägig abschätzt. Wie bereits die Generalanwältin Sharpston des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall C-258/11 ausgeführt hat, ist die Schwelle auf dieser ersten Stufe besonders niedrig, da sie lediglich klären soll, ob man sich „die Mühe einer Kontrolle überhaupt machen“ soll. Es geht also darum, ob entsprechende Beeinträchtigungen möglich erscheinen. Nur wenn erhebliche Auswirkungen auf das Natura-2000-Gebiet schon nach der Vorprüfung „offensichtlich“ ausgeschlossen werden können, erübrigt sich die Durchführung einer vertieften Prüfung. Besteht allerdings auch nur die Besorgnis nachteiliger Auswirkungen, ist eine FFH-Verträglichkeitsprüfung erforderlich (VG München, Beschl. v. 29.9.2020 – M 1 SN 20.3658).
Das Ergebnis der Vorprüfung ist nachvollziehbar zu belegen. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn eine Beeinträchtigung von Natura-2000-Gebieten ausgeschlossen wird, da in diesem Fall die hier getroffene Einschätzung der Behörde als Basis für die Zulassungsentscheidung dient. Tatsächlich kann eine FFH-Vorprüfung einem Projekt nur dann die Unbedenklichkeit bescheinigen, wenn alle relevanten Aspekte einer angemessenen Prüfung unterzogen wurden. So wundert es nicht, dass manch ein Screening von Umfang und Prüfungstiefe eher einer FFH-Verträglichkeitsprüfung denn einer „Offensichtlichkeitskontrolle“ gleicht. Eine klare rechtliche Trennlinie zwischen Vorprüfung und eigentlicher Verträglichkeitsprüfung besteht nicht, da § 34 BNatSchG lediglich die Pflicht zur Durchführung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung regelt, aber keine Anforderungen an die Vorprüfung normiert (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.7.2011 – 9 A 12/10).
Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen ausgeführt, was unter einer angemessenen Prüfung zu verstehen ist. Insbesondere ist die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung „anhand der besonderen Merkmale und Umweltbedingungen des von einem solchen Plan oder Projekt betroffenen Gebiets“ und „auf der Grundlage der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ zu beurteilen. Die Generalanwältin Kokott führt hierzu in ihren Schlussanträgen zum Verfahren C-254/19 weiter aus: „Somit muss die Vorprüfung die genannten Gesichtspunkte umfassend berücksichtigen, um den Verzicht auf eine volle Prüfung zu rechtfertigen“. Ein Screening, das hinter diesen Anforderungen zurückbleibt, ist nicht geeignet, einem Projekt die Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen des betroffenen Natura-2000-Gebiets zu bescheinigen.
Zwar hängen die konkreten Anforderungen an Art, Umfang und Tiefe der Untersuchungen auch bei einer Vorprüfung von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall sowie von Art und Ausgestaltung des Vorhabens ab (VG München, Beschl. v. 29.9.2020 – M 1 SN 20.3658). Dennoch lassen sich einige Eckpunkte aus der EuGH-Rechtsprechung ableiten, die erfüllt sein müssen, damit eine Vorprüfung erhebliche Beeinträchtigungen als „offensichtlich ausgeschlossen“ einstufen kann.
1. Lückenlose Prüfung
Erhebliche Beeinträchtigungen eines Natura-2000-Gebiets können nur dann verneint werden, wenn sich keiner der auftretenden Wirkfaktoren – auch im Zusammenwirken mit anderen Plänen und Projekten – negativ auf die Schutzgebietsbestandteile auswirken kann. Daher darf die Vorprüfung auch nur dann zu dem Ergebnis kommen, dass keine erheblichen Auswirkungen durch ein Projekt zu erwarten sind, wenn dies für alle Lebensraumtypen und Arten, für die ein Gebiet geschützt ist, zweifelsfrei zutrifft (vgl. EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – C-258/11; Urt. v. 7.11.2018 – C-461/17). Die Vorprüfung ist daher fehlerhaft, wenn ihr eine unzureichende Sachverhaltsermittlung zugrunde liegt. In Bezug auf die von einem Projekt potenziell betroffenen Lebensraumtypen bedeutet dies zum Beispiel, dass auch ihre charakteristischen Arten zu betrachten sind. Ohne Kenntnis der vorhandenen charakteristischen Arten und ihrer Empfindlichkeiten gegenüber den von einem geplanten Projekt ausgehenden Wirkfaktoren, können erhebliche Beeinträchtigungen im Rahmen der Vorprüfung nicht sicher ausgeschlossen werden. Insoweit besitzen die charakteristischen Arten eine wichtige Indikatorfunktion für potenzielle Auswirkungen des Vorhabens auf den Lebensraumtyp (so auch BVerwG, Urt. v. 6.11.2013 – 9 A 14.12 und OVG Bautzen, Urt. v. 8.9.2020 – 4 C 18/17). Dies betrifft nicht nur Vorhaben mit direkter Flächeninanspruchnahme, sondern gilt auch für alle denkbaren Emissionen wie Lärm, Licht, Staub, Stoffeinträge sowie Erschütterungen, die in ein Natura-2000-Gebiet hineinwirken können. Hier ist es für die Beurteilung, ob erhebliche Beeinträchtigungen möglich sind, notwendig, die auf derartige Belastungen besonders empfindlich reagierenden charakteristischen Arten in den Blick zu nehmen.
Eine unzureichende Sachverhaltsermittlung kann auch vorliegen, wenn mögliche Beeinträchtigungen von in einem FFH-Gebiet signifikant vorkommenden Arten des Anhangs II FFH-RL im Rahmen der Vorprüfung außer Acht gelassen werden, nur weil diese von den festgelegten Erhaltungszielen nicht umfasst sind. Da jedes signifikante Vorkommen von FFH-Schutzgütern in einem Gebiet zur Beibehaltung beziehungsweise Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands beitragen kann, hätte gemäß Art. 6 Abs. 1 FFH-RL nämlich auch für diese Arten/Lebensraumtypen ein entsprechendes Erhaltungsziel festgelegt werden müssen. Die Vorprüfung darf daher nicht ohne die Berücksichtigung dieser Arten zu dem Schluss kommen, dass eine FFH-Verträglichkeitsprüfung entbehrlich ist. Das Gleiche gilt für alle übrigen Lebensräume und Arten, für die das Gebiet nicht ausgewiesen wurde, sofern sie für die Erhaltung der vom Schutzzweck umfassten Lebensraumtypen und Arten von Bedeutung sind. In die Beurteilung einzubeziehen sind auch alle Einwirkungen auf Arten oder Lebensraumtypen außerhalb der Grenzen des Natura-2000-Gebiets, wenn ihre Beeinträchtigung Auswirkungen auf die Erhaltungsziele des Gebiets nach sich ziehen könnte (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2018 – C-461/17).
2. Beste einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse
Zwar ist es die Aufgabe der eigentlichen FFH-Verträglichkeitsprüfung, unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse und unter Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen nachzuweisen, dass eine Beeinträchtigung der Erhaltungsziele der betroffenen Gebiete durch das Vorhaben ausgeschlossen ist (BVerwG, Urt. v. 17.1.2007 – 9 A 20.05), jedoch kann auch eine FFH-Vorprüfung nur dann eine erhebliche Beeinträchtigung verneinen, wenn an dieser Einschätzung keine vernünftigen Zweifel (zum Beispiel aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse) bestehen.
3. Keine pauschale Ausnahmemöglichkeit
Der EuGH hat bereits mehrfach entschieden, dass bestimmte Tätigkeiten nicht pauschal von der Prüfpflicht ausgenommen werden können. Daher sind zum Beispiel auch Emissionen in ein Schutzgebiet oder land- und forstwirtschaftliche Tätigkeiten zumindest einer Vorprüfung zu unterziehen (vgl. EuGH, Urt. v. 10.1.2006 – C-98/03; Urt. v. 7.11.2018 – C-293/17 und C-294/17). Auch für sich genommen geringfügig erscheinende Beeinträchtigungen dürfen bei der Vorprüfung nicht ausgeklammert werden, da selbst ein Projekt von geringer Größe erhebliche Beeinträchtigungen hervorrufen kann, wenn es „an einem Standort verwirklicht wird, an dem die Umweltfaktoren wie Fauna und Flora, Boden, Wasser, Klima oder kulturelles Erbe empfindlich auf die geringste Veränderung reagieren“ (EuGH, Urt. v. 26.5.2011 – C-538/09). Das tatsächliche Ausmaß der Beeinträchtigungen muss für jeden Einzelfall anhand der gebiets- und vorhabenspezifischen Faktoren (zum Beispiel besondere Empfindlichkeit von Arten oder Biotopen im Schutzgebiet, Vorhabengröße, bestehende Vorbelastungen, Zusammenwirken mit anderen Vorhaben) geprüft werden.
4. Keine Einbeziehung von Vermeidungs- oder Minderungsmaßnahmen
Maßnahmen, welche die nachteiligen Auswirkungen eines Plans oder Projekts auf das betroffene Gebiet vermeiden oder vermindern sollen, dürfen während der Vorprüfungsphase nicht berücksichtigt werden. Sie sind erst im Rahmen der eigentlichen Verträglichkeitsprüfung zu betrachten, da die Festlegung solcher Maßnahmen bereits in der Vorprüfungsphase ansonsten „die praktische Wirksamkeit der FFH-RL im Allgemeinen sowie die Prüfungsphase im Besonderen beeinträchtigen könnte“ (EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-323/17).
Autoren
Ass. jur. Jochen Schumacher und Dipl.-Biol. Anke Schumacher arbeiten am Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen. Das Institut ist interdisziplinär orientiert und befasst sich insbesondere mit Fragestellungen, die sowohl naturschutzfachlich-ökologische Aspekte als auch (umwelt- und naturschutz-)rechtliche Problemstellungen aufweisen.
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