Verstößt Deutschland systematisch gegen das Verschlechterungsverbot?
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Konkret geht es um die Verschlechterung der FFH-Lebensraumtypen „Magere Flachland-Mähwiesen“ (LRT 6510) und „Berg-Mähwiesen“ (LRT 6520). Tatsächlich stellt die Nichteinhaltung des in Art. 6 Abs. 2 FFH-RL festgelegten Verschlechterungsverbots ein strukturelles Problem dar, das deutschlandweit zahlreiche Lebensraumtypen und Arten betreffen dürfte.
Laut dem letzten FFH-Bericht von 2013, den Deutschland an die EU-Kommission im Rahmen von Art. 17 FFH-RL übermittelt hat, befinden sich die FFH-LRT 6510 und 6520 in einem unzureichenden/schlechten Erhaltungszustand mit negativer Tendenz. Die Kommission hat nun die Flächengrößen beider Lebensraumtypen (LRT) in den Standard-Datenbögen (SDB) von 2006/2010 mit den aktuellen SDB von 2017 und, soweit verfügbar, den Angaben in den Managementplänen für die einzelnen Gebiete verglichen. Die Bilanz war ernüchternd: In 512 Gebieten gingen 16.356 Hektar des LRT „Magere Flachland-Mähwiesen“ verloren, was einem Rückgang von über 50 Prozent in diesen Natura-2000-Gebieten entspricht. Der LRT „Berg-Mähwiesen“ schrumpfte in 98 Gebieten um 1.784 Hektar, sodass auch hier nur noch etwa die Hälfte der ursprünglich gemeldeten Flächengröße vorhanden ist.
Die EU-Kommission hatte bereits im Mai 2018 in ihrer EU-Pilotanfrage EUP(2018)9300 um Auskunft bezüglich der Verschlechterung dieser beiden FFH-LRT gebeten. In seiner Antwort hatte Deutschland im Oktober 2018 mitgeteilt, dass sich der Zustand des LRT 6510 in 72 Natura-2000-Gebieten, der Zustand des LRT 6520 in sieben Gebieten verschlechtert habe. Für die überwiegende Zahl der Natura-2000-Gebiete könne man nicht beurteilen, ob eine Verschlechterung stattgefunden habe, da es an zuverlässigen Daten über die Gebiete fehle. So lägen für zahlreiche Gebiete keine aktuellen Kartierungen vor. Selbst bei Vorliegen neuerer Erhebungen seien die SDB aus den Jahren 2006 und 2017 oft nicht vergleichbar, da die Daten aus 2006 zum Teil nur Schätzungen der Flächengröße beziehungsweise wissenschaftliche Fehler beinhalteten. Es sei mithin nicht möglich, durch bloßen Vergleich dieser offiziellen Daten auf eine Verschlechterung zu schließen.
Der Hinweis auf fehlende Vergleichsdaten macht vor allem eines deutlich: Eine systematische und regelmäßige Überwachung des Erhaltungszustands der durch die FFH-RL geschützten Arten und Lebensräume – wie es auch Art. 11 FFH-RL vorschreibt – findet in Deutschland bislang nicht statt. Dies führt zu gewichtigen Folgen: Wie soll zum Beispiel das in Art. 6 Abs. 2 FFH-RL verankerte Verschlechterungsverbot eingehalten werden, wenn keine regelmäßige Begutachtung der Arten und LRT in den einzelnen Natura-2000-Gebieten erfolgt? Wie sollen geeignete Maßnahmen festgelegt und umgesetzt werden, um einer drohenden Verschlechterung entgegenzuwirken, wenn man die (potenziellen) Beeinträchtigungen nicht kennt? Für die LRT 6510 und 6520, die Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens sind, kommt die EU-Kommission daher zu dem Schluss, dass das Unterlassen einer Überwachung einen generellen und anhaltenden Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 FFH-RL darstellt.
Es fehlt in Deutschland aber nicht nur an einer systematischen Überwachung aller Natura-2000-Gebiete, sondern häufig auch an der Festlegung geeigneter rechtsverbindlicher Schutzmaßnahmen. Nach Ansicht der Kommission reicht es zur Einhaltung des Verschlechterungsverbots nicht aus, wenn lediglich der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 FFH-RL in nationales Recht übernommen wird.
Art. 6 Abs. 2 FFH-RL verbietet jede Verschlechterung der Schutzgüter, für die ein Natura-2000-Gebiet ausgewiesen wurde; dies umfasst alle vom Menschen verursachten sowie alle vorhersehbaren natürlichen Beeinträchtigungen. Dabei darf ein Mitgliedstaat nicht warten, bis eine Verschlechterung eingetreten ist; vielmehr muss präventiv gehandelt werden, damit Verschlechterungen gar nicht erst entstehen können. Die EU-Kommission betont in diesem Zusammenhang auch, dass es nicht richtlinienkonform ist, wenn bestimmte Tätigkeiten vom Verschlechterungsverbot ausgenommen werden. Dies betrifft nicht nur die land- oder forstwirtschaftliche Bodennutzung, sondern zum Beispiel auch die von Naturschutzseite immer wieder heftig kritisierten Stickstoffemissionen, bei denen eben nicht pauschal angenommen werden darf, dass sie bis zu einer Zusatzbelastung von 0,3 kg N/ha/a beziehungsweise bei Unterschreitung der sogenannten Irrelevanzschwelle von 3 Prozent der „Critical Loads“ keine erhebliche Beeinträchtigung hervorrufen.
Bezogen auf das Verschlechterungsverbot hat der EuGH bereits geurteilt, dass es einer „zusammenhängenden, konkreten und abgeschlossenen rechtlichen Regelung“ bedarf, „die geeignet ist, die dauerhafte Bewirtschaftung und den wirksamen Schutz der ausgewiesenen besonderen Schutzgebiete ... sicherzustellen“ (EuGH, Urt. v. 11.12.2008, C-293/07). Die Regelungen dürfen dabei nicht zu allgemein gehalten sein, sondern müssen sich ausdrücklich auf das jeweilige besondere Schutzgebiet oder die in diesem Gebiet vorkommenden Arten beziehen (EuGH, Urt. v. 27.10.2005, C-166/04). Art. 6 Abs. 2 FFH-RL sieht ein eindeutiges Verbot von Tätigkeiten vor, die zu einer Verschlechterung des betreffenden Elements führen können, betont die EU-Kommission in ihrem Aufforderungsschreiben. Für magere Flachland-Mähwiesen und Berg-Mähwiesen stellen zum Beispiel eine übermäßige Düngung und häufige oder zu frühe Mahd die Hauptstressfaktoren dar; dennoch enthalten viele Schutzgebietsverordnungen keine entsprechenden Einschränkungen/Verbote. Da Deutschland „systematisch nicht ausreichend verbindliche Schutzmaßnahmen“ für die LRT 6510 und 6520 festlegt habe, liege ein „allgemeiner und struktureller Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 FFH-RL in den deutschen Natura-2000-Gebieten“ vor, so die EU-Kommission.
Das jetzt eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren bezieht sich zwar nur auf zwei LRT, die von der EU-Kommission bemängelten Versäumnisse sind aber strukturell und betreffen daher alle Natura-2000-Schutzgüter gleichermaßen. Eine Klage vor dem EuGH wird Deutschland nur abwenden können, wenn regelmäßige Überwachungspflichten geschaffen sowie gebiets- und schutzgutbezogene konkrete Verbote festgeschrieben werden.
Bezüglich der Umsetzung der FFH-RL läuft gegen Deutschland derzeit noch ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren, in dem die EU-Kommission bemängelt, dass die Festlegung von gebietsspezifischen Erhaltungszielen für die Natura-2000-Gebiete meist zu allgemein und unspezifisch formuliert sind.
Zur Sache
In ihrem Aufforderungsschreiben vertritt die EU-Kommission die Auffassung, dass Deutschland seinen Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 FFH-RL nicht nachgekommen ist, weil es „allgemein und strukturell versäumt hat“, geeignete Maßnahmen zur Vermeidung einer Verschlechterung der Lebensraumtypen 6510 und 6520 in den dafür ausgewiesenen Gebieten zu treffen, der Kommission aktualisierte Daten zu den Lebensraumtypen 6510 und 6520 in den dafür ausgewiesenen Gebieten zu übermitteln.
Art. 6 Abs. 2 FFH-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, geeignete Maßnahmen zu treffen, „um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten“.
Nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 FFH-RL übermitteln die Mitgliedstaaten bei der Meldung eines FFH-Gebiets auch einen sogenannter Standarddatenbogen (SDB) mit Informationen über das Gebiet und die darin enthaltenen FFH-Lebensraumtypen und FFH-Arten. Die EU-Kommission ist der Auffassung, dass die SDB aktuell gehalten werden müssen, zum Beispiel um den Erhaltungszustand der Schutzgüter und die Kohärenz des Natura-2000-Schutzgebietsnetzes beurteilen zu können.
Vertragsverletzungsverfahren
Die Europäische Kommission wacht als „Hüterin der Verträge“ über die Einhaltung des EU-Rechts. Setzt ein EU-Mitgliedstaat eine europäische Richtlinie nicht vollständig in nationales Recht um, kann sie ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses Verfahren läuft in mehreren Schritten ab, die in den EU-Verträgen festgelegt sind und jeweils mit einem förmlichen Beschluss enden:
1. Die Kommission übermittelt dem betreffenden Mitgliedstaat ein Aufforderungsschreiben, in dem sie um weitere Informationen ersucht. Der Mitgliedstaat muss innerhalb von in der Regel zwei Monaten ein ausführliches Antwortschreiben übermitteln.
2. Ist die Kommission weiterhin der Meinung, dass der Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nach EU-Recht nicht nachkommt, gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Der Mitgliedstaat muss innerhalb von in der Regel zwei Monaten Auskunft über die getroffenen Abhilfemaßnahmen geben.
3. Im letzten Schritt kann die Kommission beim Europäischen Gerichtshof Klage einreichen.
Autoren
Ass. jur.Jochen Schumacher und Dipl.-Biol.Anke Schumacher arbeiten am Institut für Naturschutz und Naturschutzrecht Tübingen. Das Institut ist interdisziplinär orientiert und befasst sich insbesondere mit Fragestellungen, die sowohl naturschutzfachlich-ökologische Aspekte als auch (umwelt- und naturschutz-)rechtliche Problemstellungen aufweisen.
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