Fehlende Artexpertise als Engpass – eine Replik
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Wir sind dem Artexperten Dr. Reiner Theunert für seinen kritischen Kommentar sehr dankbar, weil er das Augenmerk auf ein Defizit lenkt, welches wir ebenso sehen wie er. Aus unserer Sicht erschien dieses aber nicht im Rahmen des Leitfadens lösbar. Auch ist es aus unserer Sicht kein Thema, welches den Wert des Leitfadens für die Planungspraxis – zunächst in Nordrhein-Westfalen, aber auch darüber hinaus – schmälert.
Um dies zu verstehen, muss zunächst der Anwendungsbereich des Leitfadens bedacht werden. Der Leitfaden hat seinen Anwendungsbereich ausschließlich in der FFH-Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL. Sein Ziel ist die „Berücksichtigung charakteristischer Arten der FFH-Lebensraumtypenin der FFH-Verträglichkeitsprüfung in Nordrhein-Westfalen“. Die bisherige Planungspraxis der FFH-Verträglichkeitsprüfung leistet in der Mehrzahl der Verfahren z.Zt. gar keine explizite Beachtung charakteristischer Arten, weil es an jeglicher methodischer Normierung fehlt. Dem sollte entgegengewirkt werden. Damit der mit dem Leitfaden verbundene Prüfauftrag praktisch umsetzbar bleibt, muss allerdings eine flächendeckende Bearbeitbarkeit der charakteristischen Arten gewährleistet sein. Es ist eben auch eine Aufgabe „des Staates und der Bundesländer“, im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips für praxistaugliche Prüfverfahren zu sorgen.
Die fehlende Bearbeitung einzelner Artengruppen im Leitfaden stellt keinesfalls die Bedeutung der betreffenden Taxa in Frage. Wir stellen nicht in Abrede, dass aus der großen Gruppe der Hautflügler (Wildbienen, Wespen und Ameisen) und Zweiflügler (Diptera) so manche Art als charakteristische Art von Lebensräumen der FFH-RL in Betracht kommt. Viele Arten sind eng an ein bestimmtes Mikroklima, ein Nistsubstrat und/oder an bestimmte Nahrungsquellen gebunden. Geringfügige Änderungen der Lebensräume können zu einem Verschwinden der Arten aus ihren Habitaten führen. Das notwendige Nebeneinander von Nistgelegenheit und Nahrungsquelle macht die Arten empfindlich gegenüber Zerschneidungen.
Für den Rahmen des Leitfadens wurden die genannten Artengruppen aber nicht als charakteristische Arten verworfen aufgrund generell fehlender Eignung, sondern weil andere wichtige Gesichtspunkte gegen die Berücksichtigung zum gegenwärtigen Zeitpunkt sprachen:
- Eine qualifizierte Auswahl der charakteristischen Arten hätte weit mehr Erkenntnisse über die aktuelle Verbreitung der Arten in NRW erfordert, als bisher vorhanden sind. Entsprechende Daten zur Verbreitung der Arten und zum Vorkommen speziell in den FFH-Gebieten fehlen für das Bundesland NRW weitgehend (ebenso für die meisten anderen Bundesländer).
- Verlässliche artspezifische Informationen bezüglich der Autökologie und der Empfindlichkeit der Arten gegenüber der Mehrzahl der Wirkfaktoren, die in FFH-Verträglichkeitsprüfungen regelmäßig beurteilt werden müssen, sind nicht verfügbar.
- Für die Kartierung der Wildbienen und Zweiflügler in jeder einzelnen projektbezogenen FFH-Verträglichkeitsprüfung sind erfahrene Spezialisten notwendig, die die Arten und ihre Habitate sicher erkennen und bestimmen können. Für eine standardisierte Bearbeitung im Rahmen von FFH-Verträglichkeitsprüfungen fehlt es aber an erforderlichen und ausreichend qualifizierten Artenkennern der Gruppe.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat mit der Vorlage des Leitfadens als erstes Bundesland überhaupt einen auf die Praxisebene zielenden Beitrag zur Operationalisierung der charakteristischen Arten im Rahmen der FFH-VP geleistet. Die Autoren des Leitfadens und das herausgebende Ministerium erwarten als Effekt des Leitfadens eine Qualifizierung der FFH-Verträglichkeitsprüfung gegenüber der herrschenden Planungspraxis, trotz der Beschränkungen. Angesichts der Defizite bei den Grunddaten waren die Verfasser des Leitfadens in Übereinstimmung mit den die Leitfadenerstellung begleitenden Experten und Institutionen zu dem Schluss gekommen, dass der Leitfaden keine Vollständigkeit beanspruchen muss.
Wie zu den anderen in Betracht kommenden Artengruppen erfolgte auch zu Hymenopteren eine Expertenbeteiligung mit einem der Hauptautoren der aktuellen „Roten Liste der Wildbienen und Wespen in NRW“. Die Entscheidung, die Hymenopteren zunächst aus dem weiteren Auswahlprozess der charakteristischen Arten herauszunehmen, wurde im Einvernehmen mit dem betreffenden Experten und dem begleitenden Gremium getroffen. Eine Berücksichtigung bestimmter Artengruppen, dazu zählen die Hymenopteren und die Zweiflügler, in der FFH-VP ist derzeit am besten zu leisten, indem auf den Schutz der Lebensräume abgestellt wird, weil eine Differenzierung bezüglich der Lebensraumbewohner aufgrund der Lücken in der artbezogenen Datenbasis z.Zt. nicht leistbar ist.
Es bleibt die Aufgabe der Artexperten und von allen Naturschutzinteressierten, auf die von Theunert angesprochenen Defizite aufmerksam zu machen, damit für Artenerfassungen und wirkungsbezogene Forschung Mittel bereitgestellt werden und aufgrund des flächenhaften Bedarfs auch die Artexpertise eine Förderung erfährt.
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