Eine radikal neue Sicht biologischer Invasionen
Vielen Naturschützern dürfte angesichts biologischer Invasionen schon einmal der Gedanke ans Aufgeben gekommen sein. Doch was Fred Pearce, der seit den 1980er-Jahren vor allem für britische und US-amerikanische Magazine über Umweltthemen schreibt, mit diesem Buch unternimmt, ist alles andere als eine Kapitulation. Ohne jede Scheu vor einer Konfrontation mit den großen Namen aus Invasionsbiologie und Naturschutz übt er grundsätzliche Kritik am herrschenden Paradigma der Abwehr nicht heimischer Arten.
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Ausgehend von dessen sprachlicher und historischer Nähe zu sozialer Xenophobie, die er bis Charles Elton und Reinhold Tüxen zurückverfolgt, fühlt er in polarisierender Zuspitzung der Angst vor neuen Organismen auf den Zahn. Deren Überhandnehmen sei meist eher das Symptom einer gestörten Umwelt als deren Ursache, wie er es unter anderem für den Fall des Nilbarsches im Viktoriasee darstellen kann.
Er kritisiert grundsätzlich die Vorstellung von statisch geschlossenen Ökosystemen in einem durch ungestörte Koevolution zustande gekommenen harmonischen Klimaxzustand als Nachklang des verlorenen Paradieses, dessen Reinheit durch den Sündenfall biologischer Invasionen zerstört werden kann.
Dieses letztlich unwissenschaftliche Konzept sei durch die Vorstellung offener, dynamischer Systeme zu ersetzen, in denen auch zufällig zusammengewürfelte Spezies durch „ökologisches Fitting“ komplexe mutualistische Wechselbeziehungen entwickeln. Die unberührte, menschenleere Wildnis des Amazonas-Regenwaldes oder der Serengeti wird als längst widerlegte Fiktion entlarvt. Die Komplexität und Artenvielfalt sekundärer Ökosysteme dürfe dagegen nicht vernachlässigt werden, schreibt Pearce.
Anhand einer Flut von Beispielen aus Forschung und Praxis kann er belegen, wie die Ideologie vom Störenfried zu systematischer Einseitigkeit von Untersuchungen führte, die sich vor allem auf die Dämonisierung problematischer Arten und ihrer negativen Effekte konzentrierten, die große Zahl unproblematischer oder sogar in ökonomischer wie ökologischer Hinsicht begrüßenswerter Fälle von Neuankömmlingen dagegen ausblende. Einigen der am häufigsten vorgebrachten Statistiken und Argumente spürt er im Detail nach und kann so belegen, mit welch erstaunlicher Kritiklosigkeit bisweilen aus dem Zusammenhang gerissene, teilweise aber auch hanebüchene Zahlen von Zitation zu Zitation weitergereicht wurden.
„Die Neuen Wilden“ lässt sich lesen als ein Plädoyer gegen die Angst vor Veränderungen und als positiver Gegenentwurf zu einer Restaurationsökologie, die Wildnis wieder herstellen will und dabei mit oft beträchtlichem Aufwand naturgeschichtliche Freilichtmuseen für den wissenschaftlichen Nachwuchs erschafft. Eine solche Strategie ist Pearce zufolge zwar als subjektive Einzelfallentscheidung nicht per se abzulehnen, kann sich aber keinesfalls auf die Natürlichkeit vermeintlicher Urzustände berufen.
Neue, aus einheimischen und eingewanderten Arten zusammengesetzte Ökosysteme seien nicht nur eine nicht mehr zu leugnende Realität, sondern zur Aufrechterhaltung von Ökosystemleistungen angesichts der Dynamik des globalen Wandels unverzichtbar. Die Stabilität lokaler Lebensgemeinschaften müsse durch eine sich weiter entwickelnde Biodiversität gesichert werden, die sich auch aus Migration und Hybridisierungen als wichtigen Triebkräften der Evolution speise. Dazu ist kritisch anzumerken, dass in diesen Überlegungen der entscheidende Faktor Geschwindigkeit nicht genannt wird; denn die weit über jedes natürliche Maß hinausgehende Beschleunigung des Artenschwunds und die naturgeschichtliche Beispiellosigkeit der Intensivierung globaler Migration, deren Zeugen wir in heutiger Zeit werden, sind ihm als Problem nicht der Erwähnung wert.
Wer dieses Buch in die Hand nimmt, darf die Ergebnisse umfangreicher und gründlicher Recherche sowie jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema erwarten, aber keine ausgewogene Darstellung der Neobiota-Problematik. Wenn man aber bereit ist, diese einmal radikal von einer ganz anderen Seite zu betrachten, wird man durch ein neues Bild biologischer Invasionen belohnt, dessen Optimismus aus dem Vertrauen in die immense Anpassungsfähigkeit lebendiger Systeme gespeist wird.Simon Dietmann, Frankfurt
Die Neuen Wilden. Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten. Von Fred Pearce. Kartoniert. 329 Seiten. oekom Verlag, München 2016. 22,95€. ISBN 978-3-86581-768-6.
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