Mehr Leidenschaft für Europa!
In seiner Heimatzeitung (Aachener Zeitung, 30.11.2011) hat der für Januar 2012 designierte Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, zu mehr Leidenschaft für Europa aufgerufen. Martin Schulz legt in diesem Interview eine treffende Analyse vor, woran es „Europa“ derzeit mangelt und weshalb viele Menschen den „Mehrwert“ noch immer nicht, oder angesichts der endlosen Euro-Debatten, nicht mehr sehen. Er kritisiert auch das mangelnde Wissen über die europäischen Institutionen sowie deren Organisation, Aufgaben und Verantwortlichkeiten.
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Und er hat Recht! Selbst die wichtigsten vier, Europäische Kommission, Ministerrat, Europäischer Rat und Europäisches Parlament (EP), sind kaum bekannt: Im November 2011 scheiterte ein Kandidat im RTL-Quiz „Wer wird Millionär?“, weil er den Namen des seinerzeitigen Präsidenten des EP nicht wusste. Und ich würde wetten, er wäre auch an der Frage nach den Namen des halbjährlich wechselnden Ratspräsidenten und des permanenten Ratspräsidenten gescheitert. Vermutlich hätte er nur den Namen des Präsidenten der EU-Kommission gewusst.
In seiner Analyse beschränkt sich Schulz dann aber auf die Wirtschafts- und Währungsunion und die kaum erkennbare gemeinsame Außenpolitik der EU. Dabei erstreckt sich der „Mehrwert“ der EU längst nicht mehr nur auf die Friedenssicherung und den gemeinsamen Binnenmarkt. Die „Väter“ der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben auch frühzeitig darauf geachtet, dass die Umwelt bei allem Wirtschaftswachstum nicht ganz unter die Räder kam. Schon mit ihrem ersten Umweltaktionsprogramm im Jahr 1973 setzte die EWG wichtige Akzente; Deutschland hatte damals weder ein Bundesnaturschutzgesetz (1976) noch ein Bundesumweltministerium (1986 nach Tschernobyl gegründet).
Dass Willy Brandts Traum vom „blauen Himmel über dem Ruhrgebiet“ nicht nur dort, sondern EU-weit Wirklichkeit wurde, ist den von Rat und Parlament beschlossenen Verordnungen und Richtlinien zu verdanken. Touristen profitieren nicht nur von den in solchen Diskussionen oft bemühten niedrigen Roaming-Tarifen, sondern vor allem von gleich hohen Badegewässerqualitäten an den Stränden von Nord- und Ostsee, Adria, Mittelmeer und Atlantik. Dass heute wieder Lachse im Rhein schwimmen und in Südeuropa weniger Zugvögel geschossen werden, liegt am einheitlichen EU-Umweltrecht. Das europäische Schutzgebietsnetz „Natura 2000“ mit 26000 Schutzgebieten auf 18 % der Landfläche der Mitgliedstaaten gilt heute als größtes Schutzgebietsnetz der Welt und weltweites Vorbild. Doch dieser gewaltige „Mehrwert“ für die Bürgerinnen und Bürger Europas wird in den Medien kaum vermittelt, und auch Schulz spricht diese Fakten leider mit keinem Wort an.
Als Parlamentspräsident wird Schulz die einmalige Chance haben, die EU in eine nachhaltige Zukunft zu führen und die Reformen der für den Erhalt der biologischen Vielfalt so maßgeblichen Politikbereiche wie Haushalts-, Agrar- und Strukturpolitik voranzubringen, statt sie weiter den kurzfristigen nationalen Interessen der Mitgliedstaaten zu überlassen. Angesichts seiner durch den Lissabon-Vertrag 2009 gewaltig gewachsenen Kompetenzen hat es das Europäische Parlament in der Hand, etwa die Gemeinsame Agrarpolitik zu reformieren, die immer noch über 40 % des EU-Haushaltes verschlingt, obwohl über 80 % der Europäer die industrielle Agrarindustrie und tierquälerische Massentierhaltung inzwischen ablehnen. Oder die Strukturfonds, aus denen bislang fast 60 Mrd. Euro jährlich in überflüssige Autobahnen, überdimensionierte Müllverbrennungsanlagen oder Atom- und Kohlekraftwerke fließen. Selbst die deutsche Ethik-Kommission unter Klaus Töpfer hat im Mai 2011 gefordert, den anachronistischen Euratom-Vertrag aus dem Jahr 1957 zu überarbeiten. Obwohl die Hälfte aller EU-Länder gar keine Atomkraftwerke haben und weitere inzwischen Ausstiegsbeschlüsse gefasst haben (Deutschland, Italien, Belgien), zwingt der Euratom-Vertrag sie alle zur gemeinsamen Subventionierung der Atomindustrie. Und in einigen Mitgliedstaaten werden gar – mit Hilfe deutscher Konzerne (RWE in den Niederlanden und Bulgarien, e.on in Finnland) – neue Atommeiler gebaut. Auch hier vermisse ich bislang ernsthafte Anstrengungen des Europäischen Parlamentes. Es wäre wünschenswert, wenn angesichts des derzeitigen Rückfalls der Mitgliedstaaten in nationale Interessen das Europäische Parlament die momentane Krise als Chance ergreifen würde – damit Konrad Adenauers Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“ doch noch Realität wird!
Mein Tipp: Um mit „seinem“ oder „seiner“ Europaabgeordneten in Kontakt zu treten und für den Naturschutz oder das eigene Life-Projekt (die FFH-Richtlinie und die Life-Verordnung feiern im Mai 2012 ihren 20sten Geburtstag!) zu werben, ist natürlich ein persönliches Gespräch am besten, etwa in der Wahlkreiswoche der Abgeordneten. Man kann aber auch elektronisch mit ihnen Kontakt aufnehmen, etwa über die offizielle Website des EP oder unter dem Link http://www.abgeordnetenwatch.de/eu-336-0.html .
Claus Mayr, NABU, Direktor Europapolitik, Brüssel,
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