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Räuber-Beute-Beziehungen, Schutz und Management

Naturschutzökologische Grundlagen der Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem

Abstracts

Durch das Anwachsen der Reliktpopulationen und gezielte Wideransiedlungen haben sich die europäischen Luchspopulationen seit ihrem Populationstief in der Mitte des letzten Jahrhunderts wieder ausgebreitet. Trotz dieser Erfolge sind viele Populationen weiterhin hochgradig durch Lebensraumverlust, Zerschneidung der Landschaft durch Verkehrswege und illegale Nachstellungen gefährdet. Am Beispiel der Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem wurden die Räuber-Beute-Beziehungen zwischen Luchs, Reh und Rothirsch untersucht sowie die wissenschaftlichen Grundlagen für den Schutz und das Management von Luchspopulationen erarbeitet.

Die Ergebnisse zeigen, dass Luchse im Böhmerwald zwar einen signifikanten Einfluss auf die Rehpopulation, aber einen geringen Einfluss auf die Rothirschpopulation ausüben: Fast die Hälfte aller im Projektgebiet besenderten Rehe wurde vom Luchs erbeutet. Entgegen den Vorhersagen der Theorie der „Landscape of Fear“ zeigen Habitatwahl, Aktivität und Sicherungsverhalten von Rehen nur geringe Anpassungen an das Vorkommen von Luchsen. Die Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass illegale Tötungen außerhalb der Schutzgebiete, die abwandernde Jungtiere an der Etablierung neuer Reviere hindern, der Grund für die Stagnation der Luchspopulation sind. Da die Population klein und isoliert ist, konnte bereits ein Rückgang der genetischen Variabilität beobachtet werden – es besteht ein großes Risiko, dass es zu Inzuchteffekten kommt. Auf Basis der Forschungsergebnisse werden konkrete Vorschläge zur Anpassung des Managements unterbreitet.

Conservation Ecology of the Eurasian lynx population in the Bohemian Forest Ecosystem – Predator-prey relationship, protection and management

The Eurasian lynx has been able to expand its range since the population low in the middle of the 20th century, on the one hand due to an increase of relict populations and secondly by means of planned reintroduction. Despite this success several populations are still critically endangered because of habitat loss, habitat fragmentation and poaching.

Exemplary for other lynx populations the predator-prey interactions were analysed and a scientific foundation for the conservation and management of the lynx population in the Bohemian Forest Ecosystem was devised.

The results show that the lynx has a significant influence on the roe deer and a minor influence on the red deer populations. Almost half of all recovered roe deer carcasses were killed by lynx. Contrary to the expectations of the “landscape of fear” theory habitat choice, activity and vigilance behavior of roe deer so far have only slightly been affected by the predation risk caused by lynx. The research results suggest that illegal killings outside the protected areas prevent the establishment of new territories by sub adult lynxes and hence are responsible for the stagnation of the population. As a consequence this small and isolated population already shows a significant reduction in genetic variability leading to a high risk of inbreeding. On the basis of these results suggestions are made to improve the conservation management strategy.

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<strong>Abb. 1: </strong>Die Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem entstammt einer Wiederansiedlung auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks Sumava, wo in den 1980er-Jahren insgesamt 18 Luchse freigelassen wurden. Das Bild zeigt die Besenderung des Luchses Kika.The lynx population in the Bohemian Forest Ecosystem originates from a resettlement in the area of the present National Park Sumava. Here altogether 18 lynxes had been released in the 1980s. The photograph shows the fitting of the lynx “Kika” with a radio collar.
Abb. 1: Die Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem entstammt einer Wiederansiedlung auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks Sumava, wo in den 1980er-Jahren insgesamt 18 Luchse freigelassen wurden. Das Bild zeigt die Besenderung des Luchses Kika.The lynx population in the Bohemian Forest Ecosystem originates from a resettlement in the area of the present National Park Sumava. Here altogether 18 lynxes had been released in the 1980s. The photograph shows the fitting of the lynx “Kika” with a radio collar.Norbert Wimmer
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1 Einleitung

Ursprünglich war der Eurasische Luchs ( Lynx lynx ) in ganz Europa verbreitet, mit Ausnahme der Iberischen Halbinsel. Durch die Jahrhunderte lange Nachstellung wurden die Tiere bis zur Mitte des 19. Jhdts. in ganz Westeuropa ausgerottet. Nur in Skandinavien und in etwa östlich der Linie Litauen – Albanien gab es noch geschlossene Verbreitungsgebiete. Diese Entwicklung setzte sich fort, bis Mitte des 20. Jahrhunderts mit etwa 700 Tieren außerhalb Russlands der historisch niedrigste Stand erreicht wurde. Nur in den Karpaten, im Balkan, im Baltikum und in Skandinavien hatten die Luchse die menschliche Verfolgung überlebt.

Durch umfangreiche Maßnahmen konnten sich die Luchsbestände seitdem erholen und auf über 9 000 Tiere anwachsen (Charpronet al 2014). Grundlage für diese Entwicklung war eine veränderte Einstellung gegenüber Raubtieren in weiten Teilen der Bevölkerung Europas, die schließlich auch in strengem gesetzlichem Schutz durch die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (Richtlinie 92/43/EWG) mündete. Darüber hinaus hat sich auch die Qualität der Landschaft als Luchshabitat im letzten Jahrhundert deutlich verbessert. Seit 1900 kam es zu einem erheblichen Anstieg der Beutetierbestände in Folge jagdgesetzlicher Regelungen und auch der Waldanteil nimmt kontinuierlich zu. Damit sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr der „Pinselohren“ geschaffen (Breitenmoseret al.1998).

Da die natürliche Ausbreitung, ausgehend von den Reliktpopulationen, sehr lange dauern würde, wurden bislang in acht Ländern insgesamt 17 Wiederansiedlungsprojekte durchgeführt (Linnellet al. 2009). In Deutschland begann die Rückkehr der Luchse 1970 mit der Freilassung von fünf bis sieben Tieren im Bereich des Nationalparks Bayerischer Wald. Zur Stützung des bestehenden Vorkommens wurden zwischen 1982 und 1989 weitere 18 Tiere auf der Fläche des heutigen Nationalparks Šumava freigelassen (Abb. 1). Zunächst kam es zu einer Ausdehnung der Population bis zum Fichtelgebirge und dem österreichischen Waldviertel. Anschließend ging der Bestand zurück und stagniert seitdem zwischen 59 und 83 Tieren (Wölflet al. 2001, 2015).

Zwischen 2000 und 2006 wurden auch im Harz 24 Luchse in die Freiheit entlassen. Das Projekt verlief sehr erfolgreich, so dass sich die Tiere über den gesamten Harz und bis nach Nordhessen ausbreiten konnten. Aktuell wird die Population auf etwa 80 Tiere geschätzt (Middelhoff & Anders2017). Im Pfälzerwald wurde 2015 das jüngste Wiederansiedlungsprojekt für Luchse gestartet. Gefördert durch die Europäische Union und zahlreiche Partner wurden bislang neun Luchse erfolgreich freigelassen. In den nächsten Jahren sollen noch weitere elf Tiere ausgewildert werden, um im Pfälzerwald eine Population zu begründen, die sich anschließend auch in die Vogesen ausbreiten soll. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren immer wieder einzelne Luchse in den Alpen, dem Schwarzwald, der Rhön, im Spessart und im Erzgebirge nachgewiesen, die aus benachbarten Luchspopulationen zugewandert sind.

Trotz dieser Erfolge sind viele Populationen weiterhin hochgradig durch Lebensraumverlust, Zerschneidung der Landschaft durch Straßen und illegale Nachstellungen gefährdet. Dies gilt im Besonderen für die relativ kleinen durch Wiederansiedlung entstandenen Luchspopulationen in West- und Mitteleuropa. Am Beispiel der Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem, die als typisch für andere mitteleuropäische Luchspopulationen angesehen werden kann, wurden die Räuber-Beute-Beziehungen zwischen Luchs, Reh und Rothirsch untersucht sowie wissenschaftliche Grundlagen für den Schutz und das Management von Luchspopulationen erarbeitet.

2 Raum-zeitliche Muster der Prädation

2.1 Letale Effekte der Prädation

Das Schlüsselcharakteristikum von großen Beutegreifern ist ihr letaler Einfluss auf Beutepopulationen durch das Töten von Tieren. Dadurch können sie limitierend oder regulierend auf deren Populationen einwirken. Limitierung ist die Absenkung der Populationsdichte unter die Lebensraumkapazität, Regulation das Steuern der Population, hin auf eine bestimmte Dichte, beispielsweise nach einem Rückgang oder Anstieg der Population.

Im Rahmen des Projektes gelang es, zehn Luchse zu besendern und über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr zu verfolgen (Abb. 2). Dabei konnten insgesamt 359 Reh- und Rothirschrisse gefunden werden. Rehe waren mit 80 % die häufigsten Beutetiere, gefolgt von Rothirschen mit 17 %. Der Rest verteilte sich auf Füchse und Hasen (, , ). Der Anteil der Rothirsche lag damit in einem sehr ähnlichen Bereich, wie er auch in Ostpolen festgestellt wurde (15 %; , , ). Damit liegt der Nahrungsbedarf der Luchse in einem relativ engen Bereich, so dass ein Wert von 50 Rehen je Jahr und Luchs als Faustzahl für das europäische Verbreitungsgebiet verwendet werden kann.

Eine wichtige Größe, um den Einfluss der Luchse auf ihre Beutetier-Bestände abschätzen zu können, ist deshalb vor allem die Dichte der Tiere. Auf Basis der aus den vorliegenden Telemetriedaten hergeleiteten Streifgebietsgrößen wurde ein maximaler Prädationsimpakt von 1,2 Rehen/km² berechnet. Das ist in etwa die gleiche Höhe wie der Abschuss in den an den Nationalpark angrenzenden Staatswäldern, mit vergleichbaren ökologischen Bedingungen (1,19 Rehe/km²). In den klimatisch günstigeren Privatjagden im Vorfeld des Nationalparks werden etwa dreimal so viele Rehe von Menschen gejagt (3,84 Rehe/km²). Entsprechend der Bewertung von kann der Einfluss des Luchses auf die Rehbestände in den angrenzenden Staatswäldern als mittelstark und im Vorfeld des Nationalparks als gering eingestuft werden. Im Vergleich dazu war der Einfluss auf die Rothirschpopulation mit nur 0,1/m² sehr gering und entspricht etwa 14 % der jährlichen Reproduktion.

Über das Jahr gesehen waren die Erbeutungsraten im Winterhalbjahr höher. Zusätzlich ergab die räumliche Analyse der Risse, dass der Prädationsdruck in Abhängigkeit von der Jahreszeit unterschiedliche Muster zeigt. Während im Sommer die Risse gleichmäßig über das Untersuchungsgebiet verteilt sind, konzentrieren sie sich im Winter in den tieferen Lagen. Gründe dafür sind die saisonalen Wanderungen der Rehe, die im Herbst bei Schneefall von den Berglagen in die Täler wandern und erst im Frühling mit dem Ergrünen der Vegetation wieder zurückkehren ().

Um den Einfluss der Luchsprädation auf die Rehpopulation zu untersuchen, wurden die Lebensläufe von Rehen mit Sendern verfolgt. Diese senden ein Alarmsignal, wenn sich die Tiere über einen gewissen Zeitraum nicht bewegen (Heurichet al. 2012b). War dies der Fall, wurden die Tiere im Gelände überprüft und ggf. einer Autopsie unterzogen. Insgesamt konnten 115 Rehe tot gefunden und untersucht werden. Davon wurden 45 % vom Luchs erbeutet, 27 % geschossen, 13 % fielen dem Straßenverkehr und 3 % wildernden Hunden zum Opfer. Bei den anderen tot aufgefundenen Tieren konnte die Todesursache nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden. Es ist aber anzunehmen, dass es sich bei einem Teil auch um Luchsrisse handelt. Damit war die Prädation durch Luchse der mit Abstand wichtigste Mortalitätsfaktor für die Rehe.

Im Nationalpark Bayerischer Wald wurden zwischen 1984 und 1988, also zu einer Zeit, als es noch keine Luchse gab, insgesamt 88 Rehe besendert. Durch den Vergleich der Telemetriedaten aus den 1980er-Jahren mit denen des aktuellen Projekts war es möglich, zu untersuchen, wie sich die Prädation durch Luchse auf deren Überlebenswahrscheinlichkeit auswirkt. Tatsächlich ergaben die Analysen, dass die jährliche Überlebensrate der Rehe in der Periode ohne Luchsvorkommen mit 0,79 signifikant höher war als aktuell mit 0,61. Die geringere Überlebensrate ist ein Hinweis darauf, dass die Prädation zumindest teilweise additiv wirkt. Ein großer Einfluss wurde auf die Böcke festgestellt, bei denen im Vergleich zu den Geißen die Mortalität signifikant höher lag. Zusätzlich wurde auch ein starker Einfluss der Winterstrenge nachgewiesen.

Die Ergebnisse machen deutlich, dass insbesondere die Kombination von strengen Wintern und Luchsprädation einen starken Einfluss auf Rehpopulationen haben kann ( zeigen, dass der Einfluss von Prädatoren auf Rehe in Gebieten mit harschen Klimabedingungen stärker war, was mit den Ergebnissen aus dem Böhmerwald-Ökosystem übereinstimmt.

Obwohl Luchse nur einen geringen Einfluss auf das Wachstum der Rothirschpopulation haben (Abb. 3), stellte sich die Frage, ob der Betrieb von Fütterungen und im Speziellen von Wintergattern auch dann noch möglich ist, wenn Luchse im Gebiet vorkommen. Die große Konzentration von Rothirschen könnte eine Magnetwirkung auf Luchse ausüben, was wiederum Probleme beim Gattermanagement zur Folge haben könnte. Auf Basis von großflächigen Losungszählungen von Rehen und Rothirschen (

, ). Um die generellen Muster der Luchsaktivität abzuleiten, wurden Tiere, die einem unterschiedlichen Helligkeitsregime unterliegen, das von einem kompletten Tag-Nacht-Zyklus über den Polartag bis zur Polarnacht reichte, in die Analysen einbezogen. Daraus konnten zwei wesentliche Ergebnisse abgeleitet werden, die unabhängig von der Sonnenscheindauer Gültigkeit haben:

  • Es gibt eine starke Variation der Luchsaktivität im Tageslauf mit einer hohen Aktivität während der Dämmerung und einer geringen Aktivität um die Mittagszeit, während die mittlere tägliche Aktivität sich im Jahreslauf nicht verändert (Heurichet al. 2014).
  • Die Tiere verbringen ihren Tag in einem Lager und steigern ihre Aktivität in der Dämmerung und Nacht, um zu jagen, zu fressen und ihr Revier zu patrouillieren. Dieses typische dämmerungs- und nachtaktive Verhalten wird auch für andere Katzenarten wie den Kanadischen Luchs (Kolbe & Squires2007), den Rotluchs (Tigaset al. 2002), den Iberischen Luchs (Beltrán & Delibes1994) und den Tiger (Linkie & Ridout2011) beschrieben. Damit konnte die Gültigkeit der vonReinhardt & Halle(1999) undSchmidt(1999) gefundenen Aktivitätsmuster beim Eurasischen Luchs als generelles Muster bestätigt werden.

Um nähere Aufschlüsse über das Jagdverhalten der Luchse zu bekommen, wurde die Aktivität der Tiere in Abhängigkeit vom Vorhandensein von Rissen untersucht. An Tagen mit einem Riss waren die Luchse im Durchschnitt 3,3 Stunden weniger aktiv als an Tagen ohne Beutetier. Die Aktivitätsmuster an Tagen mit einem Riss unterschieden sich jedoch nur geringfügig von Tagen ohne einen Riss. Nur im Zeitraum zwischen 21:00 und 23:00 Uhr war die Aktivität an Tagen mit einem Riss geringer. Dies ist ein Hinweis darauf, dass in dieser Zeitspanne die Hauptjagdaktivität der Tiere liegt ().

Entsprechend der Risk-Allocation -Hypothese (Hypothese der Risikovermeidung) sollten Rehe ihre Aktivität in Zeiten verschieben, in denen das Risiko, erbeutet zu werden, am geringsten ist. Die Arbeit von postulieren, dass die am stärksten limitierenden Faktoren die Habitatselektion auf der gröberen Skala bestimmen und die weniger wichtigen auf der feineren Skala ( limiting factor avoidance hypothesis ). Da Luchse im untersuchten System den wichtigsten Mortalitätsfaktor für Rehe darstellen (Heurichet al. 2012a) und damit einen großen Einfluss auf die Fitness haben, sollte das Prädationsrisiko auch die Habitatselektion auf der gröberen Skala bestimmen (Lima & Dill1990).

Um diese Hypothese zu prüfen, wurde die Habitatnutzung von besenderten Rehen im Jahresverlauf (gröbere Skala) und Tagesverlauf (feinere Skala) miteinander verglichen. Es zeigte sich, dass die Habitatselektion vor allem durch die Nahrungsverfügbarkeit und in weit geringerem Maße durch die Feindvermeidung gesteuert wird. Am risikoreichsten sind die Habitate, die sowohl viel Nahrung als auch viel Deckung bieten, wie Kahlschläge und nicht bewirtschaftete Wiesen. Das geringste Risiko wurde auf Mähwiesen gefunden, denn hier haben Rehe ein optimales Nahrungsangebot bei gleichzeitig fehlender Deckung, so dass sich Luchse nicht unbemerkt anschleichen können. Rehe wählen auch beim Vorkommen von Luchsen Habitate, die ihnen optimale Nahrungsressourcen bieten, auch wenn diese sehr deckungsreich sind und den Luchsen gute Angriffsmöglichkeiten bieten. Damit sind die Effekte beim Pirsch- und Ansitzjäger Luchs deutlich geringer, als man das aus Systemen mit Wölfen als Hauptprädator kennt. Ein Grund dafür könnte sein, dass Wölfe in Rudeln jagen und deshalb viel leichter von den Beutetieren erkannt werden können als die sich alleine anschleichenden Luchse. Ein Beleg dafür ist auch, dass Luchsweibchen nicht zusammen mit ihren Jungtieren jagen, auch wenn diese fast ausgewachsen sind, denn beim Jagen in der Gruppe steigt bei Pirsch und Ansitzjägern die Wahrscheinlichkeit, von den Beutetieren erkannt zu werden, während das Jagen in der Gruppe bei Hetzjägern die Aussichten auf eine erfolgreiche Jagd erhöht. Auch sind Rehe (Abb. 6) als Konzentratselektierer und income-breeder (Energie für die Aufzucht der Jungtiere muss während der Jungenaufzucht aufgenommen werden) viel stärker auf hoch energiereiche Nahrung angewiesen, als dies beispielsweise bei Wapitis ( capital-breeder ; nutzen Energiereserven, die bereits vor der Aufzucht der Jungtiere aufgebaut wurden) der Fall ist ( haben die Habitatnutzung vor und nach der Besiedlung durch Luchse in Schweden verglichen und konnten keine Hinweise darauf finden, dass Rehe Habitate mit einem höheren Prädationsrisiko weniger häufig aufsuchten. In einer Studie aus Norwegen kommen bei der Betrachtung von Habitatstrukturen zu dem Ergebnis, dass in dichteren Waldbeständen das Risiko für Rehe, gerissen zu werden, höher ist. Folgerichtig konnten im Bayerischen Wald zeigen, dass Rehe in Gebieten mit Luchsvorkommen vor allem an Orten wiederkäuen, die ihnen eine gute Sicht bieten, so dass sie einen sich anpirschenden Luchs besser entdecken können. Ein starkes Feindvermeidungsverhalten konnte nur dann beobachtet werden, wenn die Rehe eine unmittelbare Gefahr wahrgenommen hatten.

Sicherungsverhalten kann damit als eine reaktive Verhaltensweise aufgefasst werden, die erst dann verstärkt gezeigt wird, wenn Beutetiere tatsächliche Hinweise auf Prädatoren haben (). Dieses Verhalten sollte bei Pirsch- und Lauerjägern stärker ausgeprägt sein als bei Hetzjägern, da sie von sehr kurzen Distanzen angreifen und damit Hinweise auf ihr Vorkommen auf ein akutes Risiko deuten. Bei Hetzjägern ist die Situation anders, da sie ihre Beute teilweise über lange Distanzen jagen und Hinweise auf ihr Vorkommen deshalb nicht Hinweise auf eine unmittelbare Gefahr sein müssen ().

Verhaltensanpassungen in Folge des Auftretens von großen Beutegreifern sind vermutlich stark von der Jagdtechnik des Beutegreifers, der sozialen Organisation und des Ernährungstyps der Beutetiere und den vorkommenden Landschaftsstrukturen abhängig (). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass weitreichende trophische Effekte durch Verhaltensänderungen der Beutetiere, wie sie im Yellowstone Nationalpark nach Wiederansiedlung der Wölfe beobachtet wurden, in Luchs-Reh-Systemen in geschlossenen Waldgebieten eher gering sind (, ).

Aus Sicht des Wildtiermanagements scheinen die Befürchtungen vieler Jäger, dass Rehe bei Rückkehr von Luchsen ihr Verhalten wesentlich ändern und sich deshalb schwieriger bejagen lassen, unbegründet. Im Gegenteil verschieben Rehe ihre Aktivität in die Tagesstunden, so dass sich ihre Bejagung nicht schwieriger gestalten sollte. Insbesondere dann, wenn zusätzlich zum Luchs weitere Prädatoren mit unterschiedlichen Jagdstrategien vorkommen, können sich die Effekte der unterschiedlichen Prädatoren addieren. So konnten zeigen, dass Luchse und Menschen Rehe in unterschiedlichen Habitatsituationen erbeuten. Während menschliche Jäger offene Bereiche benötigen, um Rehe zu jagen, sind Luchse eher in Bereichen mit stärkerer Deckung erfolgreich. Gleichzeitig bevorzugen Menschen und Luchse ein eher kupiertes Gelände, so dass sich dort die Effekte beider Prädatoren addieren.

Um ein tieferes Verständnis der Verhaltensanpassungen von Rehen in Situationen mit unterschiedlichem Prädatorendruck zu erreichen, wäre es notwendig, Aktivitätsverhalten und Habitatnutzung in Gebieten mit Luchsvorkommen und in solchen ohne Luchsvorkommen, unter Berücksichtigung weiterer relevanter Faktoren, wie z.B. der Bejagung, zu vergleichen.

3 Schutz der Luchspopulation im Böhmerwald-Ökosystem

Nach der Wiederansiedlung von Luchsen auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks Šumava zwischen 1982 und 1987 kam es zunächst zu einer Expansion der bayerisch-tschechisch-österreichischen Luchspopulation. Seit dem Ende der 1990er-Jahre stagniert jedoch der Luchsbestand. Die Ursachen werden im folgenden Text anhand der vorliegenden Forschungsergebnisse diskutiert.

Ein möglicher Grund könnte die mangelnde Verfügbarkeit an geeigneten Lebensräumen sein. Deshalb wurde zunächst auf Basis der Daten von zehn besenderten Luchsen untersucht, wie viel geeignetes Luchshabitat zur Verfügung steht und wie viele Tiere dort leben könnten. Als Ergebnis wurden 12 415 km² geeignetes Habitat ermittelt, das auf 13 Gebiete verteilt ist. Die Analyse der Konnektivität der einzelnen Gebiete ergab, dass sie alle von Luchsen erreicht werden können ().

Als wichtiges Ergebnis zeigte sich, dass die Distanz zu den Nationalparken Bayerischer Wald und Šumava ein dominanter Faktor für die Wahrscheinlichkeit war, in einem Gemeindegebiet einen Luchs anzutreffen. Dieser positive Effekt hatte eine Reichweite von 70 km zum Zentrum der Schutzgebiete (). Ein signifikant erhöhter Inzuchtkoeffizient konnte nicht festgestellt werden (Bullet al. 2016). Damit werden die Ergebnisse für die slowenische Luchspopulation (Wiederansiedlung von nur sechs Tieren), die ebenfalls eine geringe genetische Variabilität und darüber hinaus einen signifikanten Inzuchtkoeffizient aufweist, bestätigt (Sindic i´cet al. 2013).

Zwar gibt es noch keine Untersuchungen, die einen Fitnessverlust freilebender Luchspopulationen aufgrund geringer genetischer Variabilität oder hoher Inzucht belegen, negative Effekte bei Zootieren, die aus populationsgenetischer Perspektive ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind, wurden jedoch schon nachgewiesen (Laikre1999). Das gleiche gilt für andere Felidenarten unter Freilandbedingungen, bei denen der Verlust an genetischer Vielfalt negative Auswirkungen auf die Fitness hatte. So wurde beim Puma in Florida ein vermehrtes Auftreten von Körperanomalien und eine geringe Reproduktion beobachtet ().

Die Fläche der beiden Nationalparke ist mit 930 km² groß genug, um als Quellpopulation zu fungieren; und das, obwohl sich keines der Streifgebiete der besenderten Luchse vollständig innerhalb der Schutzgebiete befindet (). Aktuelle Modelluntersuchungen am Tiger zeigen jedoch, dass selbst fünf Zuwanderer nicht ausreichen ( davon aus, dass bei mittelgroßen Populationen, die bereits 50 Jahre isoliert waren, die Gefahr sehr groß ist, dass die Populationen innerhalb der nächsten drei bis vier Generationen aussterben könnten. Aus den Ergebnissen des bisherigen Fotofallenmonitorings der Nationalparke Sumava und Bayerischer Wald ergibt sich für die Luchse in den Nationalparken eine Generationsdauer von mindestens vier Jahren, die sich mit zunehmender Dauer des Monitorings noch etwas erhöhen könnte. Außerhalb der Schutzgebiete ist die Generationsdauer vermutlich viel kürzer, da viele Tiere bereits nach der ersten Reproduktion nicht mehr nachgewiesen werden können.Studien wie die vonKenneyet al. (2014) existieren zwar nicht für den Luchs, es ist aber anzunehmen, dass die genetischen Prozesse bei Feliden ähnlich verlaufen. Deshalb sollte man im Rahmen eines vorsorgenden Naturschutzmanagements die Ergebnisse, die am Beispiel von Tigerpopulationen erarbeitet wurden, als Grundlage nutzen, bis eigenständige Ergebnisse für den Luchs vorliegen.

Auf Basis dieser Ergebnisse werden die folgenden Maßnahmen vorgeschlagen:

(1) Erhöhung der Luchspopulation auf mindestens 100 Tiere. Dazu muss die Einhaltung der Gesetze zum Schutz der Luchse durchgesetzt und parallel dazu die Akzeptanz der Tiere über vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Landnutzern vor Ort, z.B. über partizipative Ansätze bei der Entwicklung des Wildtiermanagements, verbessert werden, so dass nach und nach alle geeigneten Habitatpatches besetzt werden können.

(2) Verbesserung der Habitatqualität für Luchse, insbesondere durch eine Erhöhung der Rehdichte in den Kernlebensräumen.

(3) Erhalt und Verbesserung der Konnektivität der einzelnen Habitatpatches und Vermeidung einer weiteren Fragmentierung durch den Bau von Straßen, Siedlungs- und Industriegebieten.

(4) Genetische Vernetzung durch gezielte Wiederansiedlung von Populationen.

(5) Umsiedlungen zwecks höherer genetischer Variabilität. Solange es nicht gelingt, benachbarte Populationen zu vernetzen und die Anzahl der Luchse in der Population zu steigern, ist es notwendig, durch Translokation von Luchsen aus anderen Populationen die Gefahr einer Inzuchtdepression und einen weiteren Verlust der genetischen Variabilität zu verhindern. Dazu müssen mindestens fünf Tiere je Luchsgeneration umgesiedelt werden.

Um diese Maßnahmen zielgerichtet und effizient umsetzen zu können, ist es notwendig, die folgenden Forschungsfragen zu untersuchen:

  • Untersuchung des Dispersals von Jungluchsen mittels Satellitentelemetrie, um die Landschaftsqualität und konnektivität aus der Luchsperspektive beurteilen zu können und Informationen über die Mortalitätsursachen der Tiere zu sammeln;
  • Entwicklung von Modellen, mit denen sowohl die demographische als auch genetische Entwicklung von Luchspopulationen simuliert werden kann.

Literatur

Aus Umfangsgründen steht das ausführliche Literaturverzeichnis unter www.nul-online.de (Webcode NuL2231) zur Verfügung.

Fazit für die Praxis

  • Hauptnahrung der Luchse sind Rehe (80 %), gefolgt von Rothirschen (17 %). Im Durchschnitt werden 54 Rehe pro Luchs und Jahr gerissen, das entspricht 1,17 Rehen pro 100 ha.
  • Luchse haben unter harschen Klimabedingungen wie im Untersuchungsgebiet einen signifikanten Einfluss auf die Überlebensrate der Rehe.
  • Habitatwahl, Sicherungs- und Aktivitätsverhalten der Rehe werden nur wenig durch das Vorkommen von Luchsen beeinflusst. Die Tiere reagieren vor allem auf unmittelbare wahrgenommene Gefahren. Diese Reaktion ist biologisch sinnvoll, da Rehe fast überall mit überraschenden Luchsangriffen rechnen müssen und diese in den meisten Fällen tödlich verlaufen.
  • Die kleine, isolierte Luchspopulation weist eine geringe genetische Variabilität und ist durch Inzucht gefährdet.
  • Die wahrscheinlichste Ursache für die Stagnation der Luchspopulation im Böhmerwald sind illegale Tötungen
  • Kontakt

    PD Dr. Marco Heurich

    PD Dr. Marco Heurich ist stellvertretender Sachgebietsleiter im Sachgebiet Naturschutz und Forschung der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald. Seine Aufgabengebiete sind die Wildtierökologie und die Walddynamik. Er ist Privatdozent an der Professur für Wildtierökologie und Wildtiermanagement der Universität Freiburg, wo er die ModuleResearch Methods in Wildlife Ecology undProtected Area Management unterrichtet. Er studierte Forstwirtschaft und Geoinformatik in Freising und Salzburg, promovierte an der Technischen Universität München und habilitierte an der Universität Freiburg.

    marco.heurich@npv-bw.bayern.de

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