Gebietseigenes Saatgut oder Artenvielfalt? Die Fauna fällt bei der Umsetzung des § 40 unter den Tisch
Stellt sich die Naturschutzverwaltung selbst ein Beinchen? Seit zwölf Jahren schreibt § 40 des Bundesnaturschutzgesetzes in der freien Landschaft gebietseigenes Saat- und Pflanzgut vor, ausgenommen in der land- und forstwirtschaftlichen Nutzung. Seit März 2020 ist diese Regelung scharfgeschaltet. Was heißt das für die Praxis in Eingriffsregelung und Renaturierungsprojekten?
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20 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis trafen sich zu einem Workshop, organisiert durch das Kompetenzzentrum Kulturlandschaft an der Hochschule Geisenheim. Sie erarbeiteten ein literaturbasiertes Thesenpapier zur Umsetzung des § 40, das wir in dieser Ausgabe veröffentlichen. Warum? Weil wir die ernste Gefahr sehen, dass künftig Renaturierungen nur mit einem artenarmen Basisset weit verbreiteter Pflanzenarten auskommen müssen. Wirken also selbst angelegte Fesseln als Hemmnis für eine effektive Förderung der Biodiversität?
Unabsehbare Folgen für die Fauna
Floristische Vielfalt ist die eine Seite der Medaille. Völlig unter den Tisch fällt in der Diskussion aber die faunistische Vielfalt – ein Vielfaches der Pflanzenartenzahl an Insekten, die sich von Pollen und Nektar ernähren, ektophytisch an Blättern, Stängeln und Wurzeln fressen, Pflanzensaft saugen oder endophytisch an Blättern, Blütenköpfen, Früchten, Samen oder Gallen leben. Der größte Teil der Insekten ist an das Vorkommen spezifischer Nahrungspflanzen angewiesen – allein ein Drittel der nestbauenden Wildbienen Deutschlands sind oligolektisch, das heißt, ihre Weibchen sammeln die Pollen lediglich einer Pflanzenart oder nahe verwandter Pflanzenarten. Der Umkehrschluss lautet: Fehlt die notwendige Nahrungspflanze, so fehlt auch die entsprechende Tierart – und nicht nur eine, sondern zahlreiche weitere gleich mit. Hinzu kommen noch viele parasitoide und parasitäre Arten.
Blick auf biozönosen lenken
Was ist wichtiger für das Erreichen der Ziele des Naturschutzes: die Erhaltung größtmöglich ausgeprägter Lebensgemeinschaften (Biozönosen) – oder die genetische Konservierung lokaler Pflanzenpopulationen zu dem Preis, dass viele Arten lieber gar nicht als mit möglicherweise nicht ganz passender Genetik angesät werden? Hier fehlt eine breit angelegte Debatte über historische Treiber der Biodiversität, Wirkungen des Klimawandels und Ziele des Naturschutzes.
Systemisches Denken ist nötig
Wieder einmal drohen wir in die Falle statischen, zu engen Denkens zu tappen. Ausgeblendet bleibt die über Jahrtausende bestehende, sehr effektive Artverbreitung durch wandernde Tiere. Wildpferd und Auerochse zogen ebenso über zig Kilometer wie der Mensch mit seiner Wanderweidewirtschaft – niemand hat damals nach den Grenzen von Ursprungsgebieten gefragt. Das soll kein Plädoyer für eine zügellose Freizügigkeit bei der Verwendung von Saatgut sein. Und wir präsentieren auch keine fertigen Lösungen – möchten aber vor einer kontraproduktiven, zu engen Festlegung durch Leitfäden warnen. Wie wäre es mit einer neuen Übergangsregelung bis 2030? Bis dahin benötigen wir mehr Forschung, mehr Zieldiskussion, mehr systemisches Denken. Der Start der UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen sollte Anlass genug sein, denn es braucht eine Vervielfachung der Anstrengungen zur Renaturierung, einschließlich der Fauna!
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